Flüchtlinge ohne Recht auf Asyl

Fluchtursache Krieg und Kriegsursache Flucht

von Felix Gerdes

Flüchtlingsströme sind eines der ersten Bilder, die wir mit Kriegen verbinden. Dabei ist das von den Medien transportierte Bild hochgradig selektiv. Wo anschauliche Bilder von Flüchtlingsmassen fehlen, wie im Irak, wird über das Thema geschwiegen, und wo Erwartungen des Publikums enttäuscht zu werden drohen, wird unter Umständen grob verzerrend berichtet.

Dies war in wohl beispiellosem Ausmaße der Fall, als 1994 im Gefolge der ehemaligen Regierung etwa eine Million Ruander in das damalige Zaire flohen. Auch angesehene Medien verbreiteten unisono das Klischee eines "ethnischen Konflikts", infolgedessen ein Teil der Bevölkerung fliehen musste, welcher nun aus Angst vor ethnisch motivierter Rache und politischer Unterdrückung nicht zurückkehren konnte. Kaum ein Wort wurde darüber verloren, dass ein großer Teil der "Flüchtlinge" - nach Einschätzung des UN-Gesandten 60 bis 70 Prozent - nicht zurückkehren wollten, weil sie oder der Haushaltsvorstand aktiv am Völkermord in Ruanda teilgenommen hatten. Ebenso wenig wurde über die Kontrolle des völkermörderischen Regimes über die Flüchtlingslager oder deren Funktion als militärische Rückzugsbasen berichtet. Schließlich wurde dem Publikum vorenthalten, dass ein bedeutender Teil der Flüchtlinge jenes völkermörderische Regime auch im Exil unterstützte, und dass für den Rest jenes Regime, nicht die neue Regierung Ruandas, die weitaus größte Bedrohung darstellte. In Deutschland konnte derzeit eine sehr aktive politische Vertretung dieses Regimes ungestört ihre Propaganda verbreiten.

Fluchtursache: Krieg
So wichtig es auch ist, Aufmerksamkeit für die menschlichen Opfer von Kriegen zu schaffen, so sind Flüchtlinge nicht nur Opfer, sondern ein ebenso komplexes Phänomen wie Kriege. Dabei sind Kriege mit Abstand die bedeutendste allgemeine Fluchtursache. So befinden sich unter den 25 bedeutendsten Herkunftsländern von Flüchtlingen lediglich zwei, deren Emigration nicht primär auf Kriege zurückzuführen ist. Von etwa 15,5 Millionen Flüchtlingen im Jahr 1997 hatte sich in Folge der relativen Stabilisierung von Afghanistan, Angola, Liberia und Sierra Leone die Anzahl im Jahr 2005 drastisch auf 12,3 Millionen verringert. Vor allem aufgrund der Verschlechterung der Lage im Irak nahm sie bis Ende 2006 jedoch wieder auf fast 14 Millionen Menschen zu. Zurzeit sind Afghanistan, Israel/Palästina, der Irak, Myanmar und der Sudan die wichtigsten Herkunftsländer von Flüchtlingen. Alle diese Länder haben eine Geschichte der Gewalt gegen bestimmte, ethnisch oder religiös definierte Bevölkerungsteile, in deren Folge sich über Jahrzehnte Flüchtlinge akkumuliert haben. Der Irak hat mit 1,7 Millionen Flüchtlingen allerdings in jüngster Zeit eine spektakuläre Zunahme seiner Exilbevölkerung zu verzeichnen, und belegte, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt, 2007 zum dritten Mal in Folge den Spitzenrang als Herkunftsland neuer Flüchtlinge.

Dabei sind zeitgenössische Kriegsflüchtlinge im Kern kein Nebenprodukt von Kampfhandlungen. Jene sind in aller Regel lokal und zeitlich begrenzt, und bedingen andere Migrationsmuster, als wir sie aus zeitgenössischen - und das heißt vor allem internen - Kriegen kennen. Flüchtlinge sind in aller Regel Menschen, die aufgrund eines zwar subjektiven, nichtsdestoweniger meist real begründeten Verlustes essenzieller Sicherheit ihre Heimat verlassen. Die hiermit zusammenhängenden Fluchtgründe lassen sich analytisch in drei Typen unterscheiden, die allerdings in der Realität meist gemischt oder gleichzeitig vorkommen.

Bewusste Vertreibung
Erster Typ ist die bewusste Vertreibung bestimmter Personengruppen. Hierbei versuchen Gewaltakteure, mittels der Vertreibung dem Gegner zugerechneter Zivilisten den eigenen Machtanspruch zu festigen. Zum Teil wird versucht, den Gegner durch Angriffe auf Zivilisten in seinem Territorium zu schwächen, oft haben die Gewaltakteure jedoch ein Gebiet unter weit reichender Kontrolle und versuchen, diese auszubauen. Eine solche Situation fand sich im ehemaligen Jugoslawien, in Darfur, oder auch in den von religiösen Milizen kontrollierten Städten und Stadtvierteln des Irak. Oft geht es auch darum, sofort oder in Hinblick auf die Nachkriegssituation von wirtschaftlichen Ressourcen der Vertriebenen profitieren zu können. Einen Sonderfall stellt es dar, wenn Zivilisten als Nebenfolge von Kampfhandlungen fliehen und ihnen anschließend die Rückkehr verwehrt wird, wie es bspw. in Israel der Fall war. Wichtig ist, dass die international als Problem betrachtete Flucht von großen Bevölkerungsteilen für wichtige Kriegsakteure vor allem die Lösung eines Problems darstellt.

Repression und Entzug von Sicherheit
Zweiter Typ ist die Flucht aufgrund eines andauernden Entzugs von Sicherheit. Hierbei ist die Flucht der Bevölkerung nicht eigentliches Ziel der Gewalt, und oft wird sogar aktiv versucht, sie zu verhindern. Zum Teil ist Flucht durch Repression verursacht, die eigentlich die Macht einer Kriegspartei sichern soll. Bedeutender ist jedoch meist, dass die Bevölkerung benutzt wird, um Machtgelüste sowie sexuelle und materielle Begierden der Kombattanten zu befriedigen. In Folge der ungezügelten Ausbeutung werden jedoch natürliche Grenzen überschritten. Die physische Bedrohung wird durch direkte Gewalt sowie die Plünderung von Lebensmitteln und Saatgut so groß, dass die Bevölkerung ihre Heimat verlässt. Auch hier ist zu beachten, dass die Gewalt die Zivilisten nicht wahllos trifft. In nahezu sämtlichen inneren Konflikten gibt es Bevölkerungsteile, für die Regeln gelten, und solche, an denen sich schadlos gehalten werden kann. So sorgte selbst der berüchtigte liberianische Warlord Charles Taylor im Zentrum seines Territoriums für ein Minimum an Disziplin seiner Kämpfer. Für Teile der Bevölkerung herrschte auch während eines der blutigsten Kriege Afrikas relative Normalität, während anderenorts die Erlaubnis, sich an Zivilisten schadlos zu halten, den Sold ersetzte. Am bedeutendsten sind Fluchtursachen dieses Typs, wenn ein Gebiet nicht halbwegs verlässlich von einer Kriegspartei kontrolliert wird. Dann wird die Zivilbevölkerung gleich durch mehrere Gruppen geplündert und ist meist repressiver Gewalt widerstreitender Akteure unterworfen, die sie der Kollaboration mit dem Gegner verdächtigen. Ein wichtiger Gesichtspunkt zu diesem Typ von Fluchtursachen ist, dass es sich hier um eine Art von politisch gesteuerter Verfolgung handelt, die asylrechtlich meist nicht als Verfolgung gilt.

Organisierte Emigration
Ein dritter Typ ist die organisierte Emigration. In diesen Fällen ist im Allgemeinen ein militärischer Akteur übermächtig und im Vormarsch. Es ist abzusehen, dass er das Territorium des unterlegenen Gegners einnehmen wird. Die unterlegenen Kriegseliten fürchten, die Kontrolle über "ihre" Zivilbevölkerung zu verlieren. Die Bevölkerung könnte sich an die neuen Herrscher gewöhnen, und die Legitimität des eigenen Führungsanspruches könnte schrumpfen. Auch mag sich die politische Führung für die Zivilbevölkerung verantwortlich fühlen, Übergriffe der Gegenseite befürchten, und seine Basis schützen wollen. Bei organisierten Emigrationen besteht meist eine enge Bindung zwischen der Kriegselite und der Zivilbevölkerung. Die Zivilbevölkerung muss der Elite genug Vertrauen entgegen bringen, um ihr zu folgen, und umgekehrt muss die politische Führung die Zivilbevölkerung kommunikativ erreichen können. Dabei schürt die Führung generell die Angst vor Menschenrechtsverletzungen der Gegenseite. Einen der historisch bedeutendsten Fälle organisierter Emigration stellte die Flüchtlingskrise im Anschluss an den Völkermord in Ruanda dar. Auch die Flucht der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der israelisch-palästinensisch-arabischen Auseinandersetzungen 1947/48 war zumindest teilweise durch Widerstandsorganisationen organisiert, wenngleich der Historiker Benny Morris bedeutende Vertreibungen durch israelische Kräfte dokumentiert hat.

Kriegsursache: Flucht
Wie aus dieser Typologie der Fluchtursachen ersichtlich wird, sind Fluchtgründe tendenziell eng mit politischen Interessen verbunden. Diese Interessen werden vielfach durch ethnisch oder religiös definierte Gruppen vertreten. Die Interessengegensätze haben ihren Ursprung meist in der Vorkriegssituation, werden im Krieg und durch die Flucht jedoch zugespitzt. An die Stelle von relativer Bevorzugung und Benachteiligung tritt die Monopolisierung von Sicherheit auf der einen und die Vernichtung von Existenzen auf der anderen Seite. Flüchtlinge haben viele Motive, um in Kriegen selbst aktiv zu werden, seien es Bedürfnisse nach Rache, der Wunsch nach Wiederherstellung der alten Ordnung oder der nach grundsätzlicher Veränderung der Verhältnisse. Des Weiteren kann die Kriegerexistenz eine Alternative zu der als Flüchtling sein, insbesondere, da nach dem Verlust von Status und Besitz ein Neuanfang ansteht. Flüchtlinge sind damit nicht nur eine Folge von Kriegen. Auch stellen sie eine neue soziale Gruppe dar, die oft zu einer wichtigen sozialen Basis für Kriegsparteien wird. Flüchtlinge zeigen sich in dieser Hinsicht als Aspekt einer allgemeinen Tendenz von Kriegen, sich von ihren ursprünglichen Ursachen abzukoppeln und selbst neue Ursachen zu schaffen.
 

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