Zivilcourage einüben

„Nach dem Forumtheater folgt nur noch die Aktion!“ (Augusto Boal)

von Renate Wanie

Warum habe ich neulich nicht eingegriffen, als Gülcan ausländerfeindlich beschimpft wurde? Eigentlich ist es doch ganz einfach und keine große Aktion: Zivilcourage zeigen! Aber häufig fehlt uns der Mut oder wir wissen nicht, WIE wir eingreifen sollen und tun einfach nichts. Doch mit den experimentellen Techniken des (2009 verstorbenen) brasilianischen Theatermachers Augusto Boal ist es möglich, Menschen in Workshops eine Orientierung zu geben, sie „aus der Passivität zu befreien“ (Boal). Und auch in Europa die Kultur des Schweigens und der Gleichgültigkeit zu durchbrechen.

Den Menschen aus seiner passiven Zuschauerrolle im Theater wie im Leben zu befreien, ihn zum Akteur, zum Protagonisten, zum Handelnden zu machen - das ist das Ziel von Augusto Boals Theater der Unterdrückten. (1) Im Theater der Unterdrückten ist die Trennung zwischen dem/der ZuschauerIn und dem/der SchauspielerIn aufgehoben. „Alle sollen gemeinsam lernen, entdecken, erfinden, entscheiden.“ (Boal)

Theater der Unterdrückten – eine Antwort auf Gewaltverhältnisse
Anfang der 60er Jahre als neues Volkstheaterkonzept von Augusto Boal in Brasilien entwickelt, entstand das Theater der Unterdrückten als politische Antwort auf Repressionen in lateinamerikanischen Städten und Slums. Die von Boal entwickelten experimentellen Darstellungstechniken stützen sich auf die eindeutige Parteinahme für die Betroffenen und sollen zur Befreiung von „erstarrten“ Gewaltverhältnissen führen. Sein Ziel war es, mit seinen Methoden der Gewalt erleidenden brasilianischen Bevölkerung Auswege aus Hilflosigkeit und Ohnmacht an die Hand zu geben.

Das Forumtheater, die Probe auf die Wirklichkeit
Beim Forumtheater, eine der Methoden Boals, erhalten die Zuschauenden eine aktive Rolle und werden selbst zu Akteuren. Es ist eine ideale Methode, um in Europa Verhaltensweisen und Strategien zum Eingreifen in Diskriminierungs- und Gewaltsituationen zu entwickeln. Seit Mitte der 1990er Jahre biete ich in der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden, Trainings an, in denen die eingeforderte Zivilcourage ganz konkret eingeübt werden kann. Die ersten Anfragen waren eine Folge der in Deutschland nach dem „Fall der Mauer“ offen zutage tretenden fremdenfeindlichen Übergriffe.

„Wie kann ich in verbale Diskriminierungssituationen oder tätliche Angriffe im Bus eingreifen?“ ist eine typische Frage von Teilnehmenden in solchen Workshops. Welche Alternativen gibt es zum Wegsehen, Draufhauen oder Fliehen? Von Bedeutung für das experimentelle Rollenspiel „Forumtheater“ ist, dass die am Seminar Teilnehmenden eine selbsterlebte Situation möglichst konkret schildern, in der sie mit ihrem Nichtverhalten oder ihrem Eingreifen unzufrieden waren. „Wenn man ein Theater der Befreiung praktizieren will, ist es unabdingbar, dass die Betroffenen ihre Themen selbst nennen.“ (Boal) Häufig erlebte Diskriminierungssituationen finden in der Straßenbahn statt: Ein älterer Fahrgast oder eine Gruppe von Jugendlichen pöbeln einen Afrikaner an und setzen sich rechts und links neben ihn: „Hey, Du, was willst Du hier? Geh doch zurück in den Urwald!“ oder in der Schlange beim Bäcker: „Diese Ausländer sind ein Pack! Die können doch nur klauen und nehmen uns die Arbeitsplätze weg!

Erfahrung statt Belehrung
Im Forumtheater wird in einem ersten Durchgang die Situation genau so durchgespielt, wie sie geschehen ist. In einem zweiten Anspiel der gleichen Szene haben die Zuschauenden (das Forum) die Möglichkeit, mit ihrer Idee aktiv verändernd in die Szene einzugreifen und die z.B. sprach- oder hilflos zuschauende Person auszutauschen. Das kann eine verbale Intervention sein oder eine Aktion, mit der sich z.B. eine Person zwischen Betroffenen und „Täter“ stellt, um die Gewaltdynamik zu durchbrechen. Mit etwas Zeit lassen sich mehrere Durchgänge im Wechsel mit verschiedenen Personen aus dem „Forum“ durchführen. So erhält die Methode ihren experimentellen Charakter, und die Betroffenen kommen zu Wort. Nach Boals Motto: „Das Forumtheater ist Probe, Analyse, Suche“ werden die Interventionen analysiert und reflektiert, Strategien gesammelt und von allen Beteiligten bewertet. Wichtig dabei: Es gibt keine fertigen Rezepte. Die selbstentwickelten Strategien werden am Ende zusammen mit den bewährten Orientierungsregeln der „Aktion Courage - SOS Rassismus“ (2) diskutiert. Im Mittelpunkt steht immer das WIE - auf was kommt es an, um zu deeskalieren oder das Opfer zu schützen. Ziel ist, eine gerechte, gewaltlose und befriedigendere Antwort für den Ausgangskonflikt zu finden sowie Gewalt und Diskriminierung im öffentlichen Raum grundsätzlich nicht zuzulassen.

Es genügt nicht zu wissen, dass die Welt verändert werden soll; wichtig ist, sie tatsächlich zu verändern! Dazu können die Techniken des Theaters der Unterdrückten beitragen. Nach dem Forumtheater folgt nur noch die Aktion!“ (Boal)

 

Anmerkungen
1 Boal, Augusto (1984) Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Berlin: Suhrkamp

2 www.sos-rassismus-nrw.de

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