Offener Brief an Kanzler Schröder

Nach dem Geiseldrama in Ossetien: Eine neue Politik ist notwendig.

von Ulrich Gottstein

Die IPPNW hat am 10.9.04 in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Schröder eine auf Dialog, Gerechtigkeit und Völkerrecht basierende Friedenspolitik gefordert. IPPNW-Ehrenvorstandsmitglied Prof. Ulrich Gottstein äußerte sich zutiefst entsetzt über die Äußerung des russischen Generalstabchefs Juri Balujewski Präventivschläge gegen Terroristen in jeder beliebigen Region der Erde durchzuführen. Der Präventivkrieg von Präsident Bush habe nun wie erwartet einflussreiche Nachahmer gefunden.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
terroristische Attentate treten eines nach dem anderen in zunehmender Zahl auf. Eine neue Politik ist erforderlich! Wir appellieren an Sie, eine auf Dialog, Gerechtigkeit und Völkerrecht basierende Friedenspolitik zu fordern und sich weder von Ihrem Freund Präsident Putin, noch von Präsident Bush oder Ministerpräsident Sharon Kritik oder Ratschläge untersagen zu lassen.

Die Kriege in Afghanistan (zuerst der Sowjetunion, dann der USA), im Irak, in Palästina und seit Jahren in Tschetschenien haben alle Welt gelehrt, dass brutale Gewalt, Einzel-und Massentötungen sowie Zerstörungen von Häusern und zivilen Einrichtungen durch die Besatzungsmächte (oder "Ordnungsmächte") nie zu Frieden führen, sondern zu gesteigertem Hass und der Bereitschaft junger Menschen, sich selbst als Explosivwaffe zu verwenden oder sich weiteren Gewaltaktionen anzuschließen.

Wir sind entsetzt über die fanatische Brutalität der Geiselnehmer von Beslan, die in ihrem Wunsch nach Rache nicht mehr erkennen, dass ihre Taten nur Abscheu hervorrufen und eine Zunahme der Brutalität der russischen (Besatzungs-) Armee.

Wir sind aber auch zutiefst entsetzt über die Äußerung des russischen Generalstabchefs Juri Balujewski im Gespräch mit dem NATO-Oberbefehlshaber General James Jones: "Was Präventivschläge gegen Terroristenlager angeht, so werden wir alles unternehmen, um diese in jeder beliebigen Region der Erde zu zerstören."

Der "preemptive war", also Präsident Bush`s "Vorbeugekrieg" gegen den Irak hat nun einflussreiche Nachahmer gefunden. Mit dem Slogan "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" wird jetzt ungetadelt Krieg ausgedehnt. Schon jetzt toben jährlich über 25 Kriege auf unserer Erde. Ist da nicht eine andere Politik nötig?

Die altrömische Regel "wer den Frieden will, muss den Krieg vorbereiten" (si vis pacem para bellum) hat total versagt. Eine neue Außenpolitik ist notwendig, deren Ziel die Erhaltung des Friedens und die politische Lösung von Gewaltkonflikten und Kriegen ist, nach der Devise "wer Frieden will, muss Frieden vorbereiten" (si vis pacem para pacem).

Statt die militärische Schlagkraft ständig zu erhöhen (und dafür Milliarden Euro/Dollar auszugeben) und in den "Verteidigungsministerien" (die in Wirklichkeit Kriegsministerien sind) Einsatzpläne der Armeen zu entwerfen und auf den Computern durchzuführen, brauchen die Regierungen - so auch die deutsche - eigenständige Ministerien (wie z.B. das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Ministerin Wieczorek-Zeul) für Kriegsverhütung bzw. Frieden.

Aufgabe eines solchen Friedensministeriums wäre es, mit Spezialisten (Friedensforscher, Historiker, erfahrene Diplomaten mit Sprachkenntnissen, Etnologen, Wirtschaftler, Mediziner, Psychologen und anderen, sowie in der Konfliktlösung erfahrene Offiziere, z.B. aus der OSZE) frühzeitig die Risiken aus inner- oder zwischenstaatlichen Konflikten und Streitigkeiten zu erkennen und den Regierungen kompetenten Rat zu geben, bevor es zu spät ist, also Tötungen, Vertreibungen und Krieg ausgebrochen sind.

So sehr der Bundesaußenminister Herr Joschka Fischer bemüht ist, bei der Lösung internationaler Probleme behilflich zu sein, so sehr ist er als Einzelperson mit einem nur kleinen diesbezüglichen Stab überfordert. Ein effektiv arbeitendes Friedensministerium ist dringend erforderlich.

Wir sind uns völlig im klaren, dass jetzt in Tschetschenien und den Nachbarländern die politische und militärische Situation total verfahren ist. Umso mehr brauchen Präsident Putin und die Vereinten Nationen kundige und kluge Berater und Vermittler. Präventivschläge, insbesondere "in jeder beliebigen Region der Erde", wären die absolut falsche, das Völkerrecht brechende und zur Katastrophe führende Maßnahme !

Bitte nehmen Sie unsere Forderung nach Einrichtung eines kompetenten Friedensministeriums und einer aktiveren Friedenspolitik ernst.
 

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Rubrik

Krisen und Kriege
Für den Vorstand der deutschen Sektion der "IPPNW - Internationale Ärzte zur Verhütung von Atomkrieg", Prof. Dr.med. Ulrich Gottstein, Frankfurt/M, Gründungs-und Ehrenvorstandsmitglied.