Umdenken über Atomwaffen

Neue nukleare Aufrüstung in Deutschland?

von Ulrich Stadtmann
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat in Deutschland zu einem Umdenken über Atomwaffen als Instrumente der Abschreckung geführt. Bundeskanzler Scholz verkündete umgehend den Kauf von neuen F-35-Bombern aus den USA, mit denen die ca. 20 in der Eifel lagernden taktischen US-Atombomben von der Bundeswehr im Kriegsfall eingesetzt werden können. Und Außenministerin Baerbock erläuterte dazu: „Die nukleare Abschreckung der NATO muss glaubhaft bleiben." Eine Mehrheit der Bevölkerung spricht sich mittlerweile für den Verbleib der amerikanischen Bomben aus, nachdem es zuvor immer deutliche Mehrheiten für deren Abzug aus Deutschland gegeben hat. (1)

Militärexpert*innen wie Claudia Major von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ bestärken die Bundesregierung und die Bevölkerung in dem Glauben, mit den Atomwaffen der NATO-Staaten USA, Frankreich und Großbritannien gäbe es „die ultimative Lebensversicherung“ für Deutschland. (2) Ihre Mitarbeiter*innen Lydia Wachs und Liviu Horovitz sagen in einem Artikel über „Frankreichs Atomwaffen und Europa“ jedoch auch deutlich: „Kern des Problems ist, dass erweiterte nukleare Abschreckung – also die Androhung, zur Verteidigung eines Alliierten notfalls Nuklearwaffen einzusetzen und damit das Risiko eines nuklearen Gegenschlags einzugehen – per se wenig glaubwürdig ist.“ Auch Frankreich könne „in der heutigen strategischen Architektur Europas nur schwerlich glaubhaft machen, seine Interessen an der europäischen und internationalen Ordnung seien so gewichtig, dass es für die Verteidigung seiner Verbündeten die Zerstörung des eigenen Landes in Kauf nähme.“ (3)

Zu Beginn des alten Kalten Krieges, als die USA selber nicht atomar angegriffen werden konnten, drohten sie gegenüber der Sowjetunion mit massiver atomarer Vergeltung im Falle eines Angriffs auf NATO-Staaten. Nachdem nuklear bestückte sowjetische Interkontinentalraketen die USA erreichen konnten, war diese Drohung jedoch nicht mehr glaubwürdig. Darum führte die NATO in den 1960er Jahren die Strategie der Flexible Response ein, mit der eine Eskalation in den Nuklearkrieg angedroht wurde. Frankreich hielt das jedoch ebenfalls nicht für glaubwürdig, trat aus der NATO aus und entwickelte eine eigene Atomstreitmacht. Ende der 1970er Jahre sah der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Raketenlücke im Eskalationsszenario. Deshalb sollte durch den NATO-Doppelbeschluss mit Pershing-II-Mittelstrecken-Raketen nachgerüstet werden. Denn es sei nicht glaubwürdig, dass auf einen Beschuss West-Deutschlands mit sowjetischen Mittelstreckenraketen die USA mit Interkontinentalraketen reagieren würden. Hingegen wurde es für glaubwürdig gehalten, auf einen konventionellen Angriff mit einem nuklearen Erstschlag mit taktischen Atombomben zu reagieren. Aufgrund der Erfahrungen aus der Kubakrise von 1962, bei der es fast zum 3. Weltkrieg mit dem Einsatz von Atombomben gekommen wäre, wussten alle, dass die Eskalation nach einem Kriegsausbruch nicht mehr zu kontrollieren sei. Es wurde davon ausgegangen, dass es zu einem Schlagabtausch mit immer stärkeren Atomwaffen kommen würde, wenn keine „Lücke“ in den Eskalationsstufen besteht. Angesichts dieses Weltuntergangsszenarios würde keine Seite einen Krieg wagen. Allenfalls aufgrund einer technischen Panne – die auch heute noch jederzeit möglich ist – wurde ein Atomkrieg für möglich gehalten. In Deutschland galt der gesicherte Grundsatz: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Der Krieg sollte nur zur Abschreckung vorbereitet werden; seine Führbarkeit wurde jedoch nur um den Preis der Selbstvernichtung für möglich gehalten.

Es ist anerkannte NATO-Strategie, taktische Atomwaffen einzusetzen, wenn eine konventionelle Niederlage droht
Severin Pleyer von der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg erläutert in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung sehr anschaulich, wie heute die Führbarkeit eines Krieges mit Atombomben gedacht wird: „Es ist anerkannte NATO-Strategie, taktische Atomwaffen einzusetzen, wenn eine konventionelle Niederlage droht“. Und er beschreibt Szenarien, „bei denen es sich militärisch lohnen würde“. Eines „wäre etwa ein Flussübertritt. Wenn es da nicht genug Brücken gibt, stauen sich da die eigenen Kräfte oder die des Gegners. Da lohnt sich der Einsatz, weil es da konzentrierte Kräfte gibt, die man zerschlagen kann. Zerschlagen heißt: Es sind nicht alle Kräfte sofort vernichtet, aber sie werden auf jeden Fall in Panik sein, sie werden ihre Verwundeten versorgen müssen und sie werden sich zurückziehen.“ (4)

Zusammenfassend wird also davon ausgegangen, dass es für Atommächte nicht glaubwürdig ist, einen nuklearen Angriff gegen das Territorium einer anderen Atommacht zu führen, weil dies zu einem Gegenschlag auf ihr eigenes Land führen könnte. Zur Unterstützung von konventionellen Kriegshandlungen in Staaten ohne eigene Atomwaffen wird hingegen der Einsatz von taktischen Atomwaffen als plausibel angesehen. Beim Air-Defender-Manöver im Frühsommer 2023 wurde von dem Szenario ausgegangen, dass Teile Deutschlands durch feindliche Truppen militärisch besetzt seien und ein Angriff auf den Rostocker Hafen abgewehrt werden solle. (5) In der geschilderten Militärlogik könnte es in einer solchen Situation zum Einsatz von „kleinen“ taktischen Atombomben in Deutschland als vermeintliches Mittel der Verteidigung kommen. Wenn man sich ein solches Kriegsszenario versucht vor Augen zu führen, dann ist diese Abschreckung zuallererst eine Selbstabschreckung für die Zivilbevölkerung. Die hohen Zustimmungswerte zur nuklearen Teilhabe beruhen eher auf dem Mythos, dass ein Krieg mit Atomwaffen zwingend zum Weltuntergang führen müsse und ihn deshalb niemand wagen würde. Tatsächlich wird hingegen sowohl in der NATO, als auch in Russland, die Führbarkeit und Begrenzbarkeit eines Atomkrieges für möglich gehalten. Das Schlachtfeld läge in Europa dann im gesamten Gebiet zwischen den Atommächten.

USA werden nächstes Jahr Hyperschallraketen in Europa stationieren, die Ziele in Russland bedrohen können
Nikolas Busse wies fast bedauernd in der FAZ darauf hin, dass Deutschland im Gegensatz zu Frankreich die Entwicklung zu einer eigenständigen Atommacht „bisher versperrt war“. (6) Und Klaus Geiger schrieb in der „Welt am Sonntag“ unter der Überschrift „Zweifel am US-Schutzschirm – jetzt wächst der Wunsch nach einer eigenen Atombombe“: „Spätestens der Ukraine-Krieg sollte Deutschland und Europa gezeigt haben, dass es besser ist, eine Strategie für den Worst Case zu haben.“ (7) Der schon oben genannte Bundeswehr-Hochschul-Professor Severin Pleyer plädiert dafür, in Deutschland erneut „Langstreckenraketen zu stationieren“, wie seinerzeit beim NATO-Doppelbeschluss (8), um damit „Ziele in Russland bedrohen“ zu können, als Abschreckung gegen einen „taktischen Atomwaffenangriff auf unsere Truppen“, denn eine Reaktion nur mit taktischen Atombomben sei „nicht wirklich“ abschreckend. Militärisch hoffnungsvoll sei jedoch, dass die USA „ohnehin nächstes Jahr Hyperschallraketen konventioneller Bauart in Europa stationieren“ werden, und er empfiehlt: „Genau daran könnte man sich eben beteiligen.“

Wir dürfen also gespannt sein, was die Bundesregierung in Zukunft noch unternehmen wird, um die Maßgabe ihrer grünen Außenministerin, dass die nukleare Abschreckung glaubhaft bleiben muss, zu erreichen.

Anmerkungen
1 https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2022/Sicherheit-Brauchen-wir-Ato...
2 https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2022/Sicherheitsexpertin-Major-N...
3 https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2023A07_frankre...
4 https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/nukleare-teilhabe-br...
5 https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/gopolitisc...
6 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nato-wuerde-die-usa-europa-g...
7 https://www.welt.de/politik/ausland/plus245433690/G-7-in-Hiroshima-Zweif...
8 Pleyer spricht tatsächlich von „Langstreckenraketen“, mit denen gemeinhin Interkontinentalraketen gemeint sind, während es beim NATO-Doppelbeschluss um die Stationierung von Mittelstreckenraketen ging.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Ulrich Stadtmann ist im Vorstand des Bundes für soziale Verteidigung. (BSV)