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Die ewige Suche der Kurd*innen nach Frieden und Gleichberechtigung
Neue Perspektiven für das kurdische Volk?
vonDas kurdische Volk kämpft seit über einem Jahrhundert für Grundrechte, Frieden und Freiheit. Mit über 50 Millionen Menschen zählt es zu den größten Völkern der Welt ohne eigenen Staat. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das kurdische Siedlungsgebiet, das etwa 500.000 Quadratkilometer umfasst, auf vier Staaten aufgeteilt: Türkei, Iran, Irak und Syrien.
Bevor Atatürk – der „Vater der Türk*innen“ – den Befreiungskampf gegen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges begann, organisierte er drei Kongresse in Amasya, Sivas und Erzurum, um die Unterstützung der kurdischen Oberschicht zu gewinnen. Er versprach, dass der entstehende Staat sowohl der Staat der Türk*innen als auch der Kurd*innen sein werde – mit voller Gleichberechtigung beider Völker.
Nach dem Sieg begann Atatürk jedoch, aus dem Vielvölkerstaat einen homogenen Nationalstaat zu formen: Einen unitaristischen Staat für die türkische Ethnie mit dem Islam als Staatsreligion. Alle anderen Ethnien und religiösen Minderheiten mussten sich dieser neuen Ordnung unterwerfen.
So kam es zwischen 1920 und 1938 zu einer Reihe kurdischer Aufstände. In dieser Zeit wurden über 100.000 Menschen getötet und Hunderttausende zwangsweise in westtürkische Gebiete umgesiedelt, damit sie assimiliert werden.
Der 29. Aufstand unter der Führung der PKK begann nach dem Militärputsch von 1980 im Jahr 1984. Seitdem mussten weitere 100.000 Menschen sterben. Laut UN (1994) wurden über drei Millionen Kurd*innen deportiert und mehr als 4.000 Dörfer vom türkischen Militär zerstört.
Versuche einer friedlichen Lösung der Kurdenfrage in neuerer Zeit
Der erste türkische Staatsmann, der eine friedliche Lösung anstrebte, war Präsident Turgut Özal. Nach dem Zweiten Golfkrieg 1991 baute er enge Beziehungen zu den kurdischen Führern in Irakisch-Kurdistan auf, Jalal Talabani (PUK) und Masud Barzani (KDP). Özal war überzeugt, dass der bewaffnete Konflikt keine Lösung bringen könne und begann, einen politischen Lösungsplan zu entwickeln. Über Talabani übermittelte er eine Botschaft an Öcalan, der daraufhin Mitte März 1993 einen einseitigen Waffenstillstand verkündete. Doch nur einen Monat später, am 17. April 1993, starb Özal unter ungeklärten Umständen. Es hieß, er sei vergiftet worden. Der „tiefe Staat“ war mächtiger als Regierung und Präsident zusammen.
Weitere gescheiterte Friedensinitiativen
1996 gewann die islamisch-konservative Refah-Partei unter Necmettin Erbakan – Mentor des heutigen Präsidenten Erdogan – die Wahlen. Auch er sandte eine Botschaft an die PKK und sprach sich für eine politische Lösung aus. Doch unter dem Druck der Militärführung musste er wenige Monate später zurücktreten.
Es folgte die lange Regierungszeit Erdogans. Im Rahmen der EU-Annäherung startete er 2006 eine neue Initiative – erfolglos. 2009 wurden die geheimen „Oslo-Gespräche“ mit der PKK publik. Als Zeichen des guten Willens kehrten 34 PKK-Kämpfer*innen zurück in die Türkei. Sie wurden von Millionen Kurd*innen begeistert empfangen – doch nach drei Monaten wurden alle verhaftet und zu langen Haftstrafen verurteilt.
Erst im Januar 2013 begann ein neuer Friedensprozess zwischen Öcalan und der türkischen Regierung. Bis Mitte 2015 hielt der Dialog an. In dieser Zeit konnte das kurdische Volk aufatmen. Doch auch dieser Versuch scheiterte.
Es folgten 2015/16 die brutale Zerstörung von über zehn kurdischen Städten und die Vertreibung von rund einer Million Menschen. Fast alle Vermittler*innen auf kurdischer Seite – darunter HDP-Vorsitzender Selahattin Demirtaş – wurden inhaftiert.
Oktober 2024: Ein neuer Versuch beginnt
2024 lag die türkische Wirtschaft am Boden, die Inflation stieg über die 100-Prozent-Marke. Zudem sank Erdogans Popularität bei den kurdischen Wähler*innen von rund 35 auf etwa 10 Prozent. Nur mit Mühe, Tricks und Wahlmanipulation konnte Erdogan die Präsidentschaftswahl im Mai 2023 knapp gewinnen – ein Jahr später verlor er jedoch die Kommunalwahl deutlich: Fast alle kurdischen Provinzen gingen an die DEM, die CHP (Republikanische Volkspartei) gewann sämtliche Küstenregionen entlang des Mittelmeers und der Ägäis.
Nach dem Terroranschlag der Hamas auf israelische Zivilist*innen am 7. Oktober 2023 und der brutalen, als staatsterroristisch bezeichneten Reaktion der Regierung Netanjahu gegen die palästinensische Bevölkerung geriet der gesamte Nahe Osten aus den Fugen.
Die palästinensische Hamas und die libanesische Hisbollah wurden nahezu zerschlagen. Nach einem Machtwechsel in Syrien im Dezember 2024 brach die „Achse des Widerstands“ um den Iran unwiderruflich auseinander, während Israel in Syrien vorrückte. Die Golanhöhen und die drusischen Gebiete im Süden Syriens wurden von Israel besetzt. Der israelische Außenminister bekundete wöchentlich seine Unterstützung für die syrischen Kurd*innen.
Viele Kommentator*innen und politische Analyst*innen sind sich einig: Der im vergangenen Jahr begonnene neue Friedensprozess entstand nicht spontan, sondern ist das Ergebnis langwieriger Vorbereitungen.
Im Vorfeld wurden intensive Gespräche mit Öcalan geführt. Die PKK-Führung wurde über die Entwicklungen informiert. Da das Kurdenproblem weit über die türkischen Staatsgrenzen hinausreicht, wurden an erster Stelle die Selbstverwaltung in Rojava und die Regionalregierung in Irakisch-Kurdistan einbezogen – Letzteres ist Sitz des Hauptquartiers der PKK.
Mit einer schriftlichen Erklärung verkündete Öcalan am 27. Februar 2025 in einer national und international beachteten Pressekonferenz die Beendigung des bewaffneten Kampfes und die Auflösung der PKK.
Damit Erdogan – der seit über 23 Jahren an der Macht ist – sein Gesicht wahren kann, wurde ein Prinzip der unilateralen Schritte vereinbart: Erst wenn die PKK den bewaffneten Kampf beendet und sich auflöst, werde die türkische Regierung im Gegenzug handeln. Das ist die Logik und das Credo der derzeitigen Abmachungen.
Nach Öcalans Appell trafen sich am 10. März 2025 der Repräsentant der Selbstverwaltung in Syrien, Mazlum Abdi, und der neue Machthaber Syriens, Abu Mohammed al-Golani, und unterzeichneten ein Abkommen. In der Folge kehrte in Syrisch-Kurdistan Ruhe ein, und die türkischen Angriffe auf kurdische Gebiete wurden eingestellt. Im April-Mai kam es zu ersten Rückkehrbewegungen in die von der Türkei besetzten Städte Afrin, Girê Spî und Serê Kaniyê entlang der Grenze.
Welche Chancen hat der Friedensprozess?
Wie wir bereits während der Friedensverhandlungen im Jahr 1993 und in den Folgejahren beobachten konnten, gibt es Gegner*innen einer Lösung der Kurdenfrage – auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene.
Sırrı Süreyya Önder, ein Delegierter Öcalans in den Friedensverhandlungen, erlitt Mitte April einen schweren Herzinfarkt und starb am 3. Mai. Bereits zwei Monate zuvor war Devlet Bahçeli (Vorsitzender der MHP) plötzlich von der politischen Bildfläche verschwunden – es hieß, er sei schwer erkrankt. Ob diese Krankheitsfälle von Gegner*innen des Friedensprozesses verursacht wurden, lässt sich derzeit nicht sagen.
Gerade, um solchen Gefahren und Widerständen entgegenzuwirken, muss die Türkei zunächst ernsthafte Schritte unternehmen und gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehören insbesondere die Freilassung der über 10.000 politischen Gefangenen sowie die Schaffung eines lebendigen legalen Betätigungsfeldes für Kurd*innen und andere oppositionelle Kräfte.
Der regionale „Playmaker“ Iran befindet sich im Rückzug und ist geschwächt. Die USA, Frankreich und Großbritannien arbeiten in Syrien eng mit kurdischen Kräften und Strukturen zusammen. Die Kurd*innen im Irak unterstützen den neuen Prozess, und Israel positioniert sich klar auf Seiten der kurdischen Sache.
Im Inneren wurde die Gülen-Bewegung, die vorherigen Versuche torpediert hatte, seit 2016 ausgeschaltet, und bemerkenswerterweise spielt ausgerechnet die sonst kurdenfeindlich auftretende nationalistische MHP diesmal eine federführende Rolle im aktuellen Prozess.
All das stimmt mich vorsichtig optimistisch. Zumindest könnte eine mildere politische Atmosphäre entstehen – eine Atmosphäre, in der das kurdische Volk aufatmen kann, in der die Verbote gegenüber Sprache und Kultur gelockert werden und sich ein freieres politisches Leben entfalten kann.
Der ehemalige Vorsitzende der Grauen Wölfe, Prof. Dr. Mümtazer Türköne, betont seit Oktober 2024 immer wieder, dass die neue Initiative nicht von Erdoğan, sondern von Bahçeli ausgehe. Da Erdoğan dank der Unterstützung der MHP an der Macht bleibt, reagiert er – obwohl er dem Prozess ablehnend gegenübersteht – nur zögerlich. Um diesen Prozess zu torpedieren, ließ Erdoğan die Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu (CHP) verhaften. Die Oppositionsparteien CHP und DEM reagierten jedoch besonnen, sodass Erdoğans Plan letztlich ins Leere lief.
Türköne behauptet, dieser Prozess werde von einem Bündnis internationaler Akteure – Großbritannien, den USA und Frankreich – unterstützt. Sollte Erdoğan sich weiterhin querstellen, werde Bahçeli noch in diesem Jahr vorgezogene Neuwahlen durchsetzen, um den Erfolg des Prozesses zu sichern.
Auflösung der PKK und Beendigung der Kampfhandlungen
Am 12. Mai erklärte die Führung der PKK, dass auf dem zwölften Kongress der Organisation der Beschluss gefasst worden sei, die organisatorischen Strukturen der PKK aufzulösen und den bewaffneten Kampf endgültig zu beenden. Die PKK erklärte, sie habe ihre historische Mission, die „Politik der Verleugnung und Vernichtung zu durchbrechen“, erfolgreich erfüllt. Die kurdische Frage könne nun auf dem Weg der demokratischen Politik gelöst werden.
Daraufhin forderte Devlet Bahçeli, Vorsitzender der MHP, am 18. Mai, dass unter der Leitung des Parlamentspräsidenten eine 100-köpfige Kommission aus allen im Parlament vertretenen Parteien gebildet werden solle, um das weitere Vorgehen zu diskutieren und entsprechende Maßnahmen zu beschließen.
„Barış tek kanatlı kuş değildir – Der Frieden ist kein Vogel mit nur einem Flügel... Es ist von entscheidender Bedeutung, dass alle eine verantwortungsvolle Sprache wählen, sich nicht von polemischen Strömungen mitreißen lassen, die ins Verderben führen, keine politischen oder ideologischen Eigeninteressen über das Gemeinwohl stellen und nicht vom Weg des gesunden Menschenverstands und der Vernunft abweichen“, fügte er hinzu.
Am selben Tag besuchte zudem eine Delegation der DEM-Partei Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı.
All diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass ein heißer Sommer bevorsteht – es bleibt abzuwarten, was er mit sich bringen wird.