Schröder, Fischer & Struck am Ende der Salami

Plädoyer für eine neue Grundgesetzdebatte!

von Martin Singe
Was die NATO direkt nach dem zweiten Golfkrieg noch im Jahr 1991 in Rom mit einem neuen Strategiepapier begann, was Kohl, Kinkel & Rühe 1992 in bundesdeutsche Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) umsetzten, das scheinen Schröder, Fischer & Struck vollenden zu wollen. Anfang der 90er - nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der im ersten Moment scheinbar hilflosen Suche von NATO und Bundeswehr nach neuen Orientierungen und Aufgaben - sprachen wir von einer Salamitaktik, mit der die erkennbaren out-of-area-Ambitionen schrittweise umgesetzt werden sollten. Immer ein bisschen Mix aus Strategie und Praxis: VPR, Somalia usw.

1992/1993 glaubte die Bundesregierung noch, die Umorientierung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer weltweit interventionsfähigen Armee nur durch eine Änderung des Grundgesetzes umsetzen zu können. Jedoch wurde das Vorhaben durch das Bundesverfassungsgericht schließlich bereits 1994 auf andere Weise abgesegnet. Mit der Verabschiedung der neuen VPR im Mai 2003 (mutmaßlicher Termin ist eine Kabinettsentscheidung am 21.5.03 - just zwei Tage vor dem Grundgesetztag!) ist dieser Weg der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer weltweit einsetzbaren Offensivarmee abgeschlossen: Das Ende der Salami ist erreicht!

Bei Redaktionsschluss dieses Friedensforums war der Wortlaut der neuen VPR noch nicht veröffentlicht. Jedenfalls scheinen laut Presseveröffentlichungen bereits jetzt die folgenden wichtigsten zentralen Eckdaten der VPR festzustehen:
 

 
      Die out-of-area-Orientierung wird zentrale Aufgabe der Bundeswehr. "Die Landesverteidigung im Bündnisrahmen gegen konventionelle Angriffe als die bisher maßgebende strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den sicherheitspolitischen Erfordernissen" (SZ 25.4.03)
 
 
      Die Landesverteidigung ist vernachlässigbar und darf nicht länger für die Hauptoption benötigte Ressourcen verbrauchen. Künftige Einsätze betreffen vor allem internationale Krisenbewältigung und den Kampf gegen den Internationalen Terrorismus. Sie lassen sich "weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen"; der politische Zweck soll "Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes" bestimmen (SZ 25.4.03). Multinationale "Operationen" können sich "weltweit und mit geringem zeitlichen Vorlauf ergeben und das gesamte Einsatzspektrum bis hin zu Operationen mit hoher Intensität umfassen" (ebd.).
 
 
      Das Prinzip frühzeitigen militärischen Eingreifens - praktisch US-Strategie-ähnliche Präventivkriegsoptionen - werden für die Zukunft als notwendig angesehen.
 
 
      Die Bundeswehr soll erweiterte Optionen für Einsätze im Inneren erhalten ("wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt oder wenn zum Schutz der Bürger und kritischer Infrastruktur ein erheblicher Personaleinsatz erforderlich wird"-FAZ 26.4.03). (- Die Wehrpflicht bleibt als sachfremdes Relikt - vor allem zur Aufrechterhaltung einer Sandsackarmee zur Bekämpfung künftiger Hochwasserflutwellen - bestehen.)
 
 
    Alle diese Kernpunkte der neuen VPR sprechen für sich selbst und bedürfen an dieser Stelle keiner ausführlichen Kommentierung, da wir im Friedensforum die Debatte um diese Entwicklungen hinreichend verfolgt haben. Allerdings sollen die neuen Richtlinien über alles bisher Festgeschriebene hinausgehen. Dagegen müssen wir erneut unseren massiven Protest erheben. Vielleicht ist es auch nötig und sinnvoll, noch einmal seitens der Friedensbewegung eine neue Grundgesetz-Debatte zu initiieren. Das Bundesverfassungsgericht 1994 hatte immerhin nur mit knappstem Ergebnis der damaligen Umstrukturierung der Bundeswehr zugestimmt: Die Hälfte der Richter stimmte gegen den Beschluss! Mit den neuen VPR entfernt sich die Bundesrepublik vom grundgesetzlich festgeschriebenen Verteidigungsauftrag der Bundeswehr um etliche Meilensteine weiter. Im Klartext: Die neue Bundeswehr hat mit dem Grundgesetzauftrag nichts, aber auch gar nichts mehr gemeinsam. Die neuen VPR stehen diametral gegen Sinn und Wortlaut des gültigen Grundgesetzes. Aber wo bleiben die Wächter der Verfassung? Wenn die zuständigen Wächter schlafen, sollten wir selbst wachen! Eine neuerliche, von der Friedensbewegung anzustoßende Grundgesetzdebatte würde die verfassungswidrige Neukonstituierung der Bundeswehr als einer Offensivarmee - durch einfachen Kabinettsbeschluss! - vermutlich nicht verhindern. Sie könnte jedoch dazu beitragen, dass in der Öffentlichkeit ein Diskussionsschub in Sachen Umgestaltung der Bundeswehr zur Angriffsarmee erreicht werden könnte. Die nun eigentlich nötige Abschaffung des Art 87 a GG - "(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. ... (2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es audrücklich zuläßt." -, für die eine 2/3-Mehrheit im Bundestag benötigt würde, könnte eindeutiger und öffentlicher zeigen, wohin die Reise gehen soll. Vielleicht würde eine solche Debatte mehr Menschen wachrütteln und zum Widerspruch und Widerstand gegen eine allzeit und weltweit kriegsbereite Bundesrepublik ermuntern. Versuchen wir`s. Der Grundgesetztag, in dessen Nähe das Kabinett die neuen Richtlinien beschließen wird, eignet sich ideal, um diese Debatte mit Veranstaltungen und Aktionen - regional vor Ort, vielleicht parallel zentral in Berlin - in die Wege zu leiten.
 

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".