Türkei

Replay: Wildes Kurdistan?

Im Januar 2015 haben mehrere türkische Menschenrechtsorganisationen einen dringlichen Aufruf an die internationale Gemeinschaft initiiert. Die „Koalition gegen Straffreiheit“ (1) klagt die Situation in der Osttürkei seit der Aufkündigung des Waffenstillstandes mit der kurdischen PKK an. Die Friedensgespräche waren im April 2015 ausgesetzt worden. Nach den Wahlen im Juni 2015, bei denen die HDP, eine neue, türkisch-kurdische und Erdogan-kritische Partei, über 13% der Stimmen erzielte und damals erstmalig als echte Oppositionspartei die 10%-Hürde überwand und ins Parlament einzog, eskalierte die Situation. (Das Friedensforum berichtete darüber.) Seit Mitte August haben türkische Truppen Kämpfe gegen die PKK aufgenommen und Teile der Osttürkei unter Ausnahmezustand gestellt. Diese Lage wird im Westen, so auch in Deutschland, kaum thematisiert, wohl auch, weil die Regierungen den NATO-Partner Türkei für den Krieg gegen den Islamischen Staat und als Aufnahmeland für Flüchtende aus der Region dringend brauchen. Wir dokumentieren hier einen Auszug aus dem Aufruf.

Mit der Aussetzung der Friedensgespräche begann die Regierung der Türkei Mitte August eine Sicherheitspolitik in Kraft zu setzen, die unrechtmäßig grundlegende Rechte und Freiheiten in den Städten beschneidet, die vorwiegend von KurdInnen bewohnt sind.

Seit August 2015 wurden langfristig und wiederholt Ausgangssperren über die Provinzen und die dazugehörigen Städte von Şırnak, Mardin, Diyarbakır, Hakkari und Muş verhängt. In bestimmten Städten und Ortschaften bestehen sie weiter fort. Während der Ausgangssperren wurde den nationalen wie internationalen Medien, Menschenrechts- wie Berufsorganisationen und auch ParlamentarierInnen, die Rechtsverletzungen feststellen wollten, der Zugang zu diesen Städten und Ortschaften verwehrt. Nach Berichten einer kleinen Zahl von Organisationen der Zivilgesellschaft, die trotz großer Hindernisse in das Gebiet reisen konnten, wurde festgestellt, dass die Zivilbevölkerung zum Ziel sowohl von Scharfschützen wie auch von schweren Waffen geworden ist, die in willkürlicher Art und Weise eingesetzt wurden.

Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind 1,3 Millionen Menschen von den Ausgangssperren betroffen; mehr als 120 Zivilpersonen – unter ihnen Kinder und ältere Menschen, haben ihr Leben verloren. Viele Menschen wurden verletzt, Hunderttausende vertrieben. Es gibt willkürliche Festnahmen und Haft, und Zivilpersonen sind in den Haftzentren und unter freiem Himmel Folter und Misshandlungen unterworfen. Störungen des Telefonnetzes schränken das Recht auf Information und freie Kommunikation ein. Aufgrund einer Amtsverfügung, mit der LehrerInnen aus der Region weg versetzt wurden, wurde der Schulunterricht auf unbestimmte Zeit unterbrochen.. Ebenso wurden die Gesundheitsdienste eingestellt. Auf keine Art und Weise wird Sorge um den Schutz von ZivilistInnen gezeigt, und die Menschen haben noch nicht einmal die Möglichkeit, sich die minimalen täglichen Grundbedürfnisse wie das Recht auf Essen und Wasser zu erfüllen. Nach Ende der Ausgangssperren wurden keine unverzüglichen und sichtbar effektiven Ermittlungen durchgeführt. Strafverfahren und Bestrafung derjenigen Sicherheitskräfte, die Recht verletzt haben, sind damit nahezu unmöglich. Die Politik der Straflosigkeit wird fortgeführt und ausgeweitet und damit immer massiver. (...)

Im Gegensatz zu Kriegszeiten ist es Sicherheitskräften in bewohnten Gebieten, für die kein Notstand oder Kriegsrecht erklärt wurde, aufgrund der Verletzung des Prinzips, nur absolut notwendige Maßnahmen umzusetzen, nicht gestattet, schwere Waffen und Munition zu benutzen, ohne zuvor die Evakuierung der zivilen Bevölkerung sicherzustellen. Bei Planung, Durchführung und Kontrolle von Einsätzen, die angeblich dem Schutz der Zivilbevölkerung vor unrechtmäßiger Gewalt dienen sollen, ist nicht zu akzeptieren, wenn willkürliche und unangemessene Gewalt angewandt wird, die sich nicht in Übereinstimmung mit der Sorgfaltspflicht eines Staates in einer  demokratischen Gesellschaft befindet. Die todbringende Gewalt, die gegenwärtig in den oben genannten Provinzen und Bezirken von der Regierung der Türkei angewandt wird, stellt eine grobe Verletzung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit dar zwischen dem beabsichtigten Ziel und der Gewalt, die für diese Ziele in einer demokratischen Gesellschaft benutzt wird.

Das in dieser Auseinandersetzung entstehende Umfeld macht MenschenrechtsverteidigerInnen zu Zielen staatlicher Gewalt und politisch motivierter Ermordung. So wurde der Präsident der Rechtsanwaltskammer Diyarbakır und Menschenrechtsverteidiger Tahir Elçi während der Verlesung einer Presseerklärung ermordet. Er hatte darin dazu aufgerufen, die Sicherheitseinsätze zu beenden und zu Friedensverhandlungen zurückzukehren.

Die Situation ist entsetzlich und unser Aufruf ist dringlich!
Als Organisationen der Zivilgesellschaft fordern wir die internationale Gemeinschaft dazu auf, die Regierung der Türkei daran zu erinnern, dass:

  • die Verhängung von Ausgangssperren ohne rechtliche Grundlage inakzeptabel ist;
  • todbringende Gewalt unter keinen Umständen in unverhältnismäßiger und willkürlicher Art und Weise angewandt werden darf;
  • bei Sicherheitseinsätzen Verpflichtungen der internationalen Menschenrechtsgesetzgebung, des internationalen Strafrechts wie auch des internationalen humanitären Rechts nicht aufgehoben werden können;
  • Menschenrechts- und Berufsorganisationen, VertreterInnen der lokalen Regierung und des Parlaments, die sich für die Feststellung, Beendigung und Strafverfolgung von Rechtsverletzungen einsetzen und dies gegenüber der internationalen Gemeinschaft vollständig transparent machen, unterstützt werden müssen;
  • Wir rufen zu einem beiderseitigem Waffenstillstand auf, der Einstellung der Auseinandersetzungen und der Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen, die unter Teilnahme von unabhängigen BeobachterInnen in offizieller und transparenter Art und Weise geführt werden sollten.

 

Anmerkung
1 Batman Bar Association, Diyarbakır Bar Association,  Helsinki Citizens’ Assembly – Turkey, Human Rights Agenda Association, Human Rights Association, Human Rights Foundation of Turkey, Şırnak Bar Association, Truth, Justice and Memory Center

Der vollständige Aufruf kann von den Websites von Connection e.V. (http://www.connection-ev.org)/ und vom Bund für Soziale Verteidigung (www.soziale-verteidigung.de) heruntergeladen werden.

Übersetzung: Rudi Friedrich und Christine Schweitzer

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege