Eskalationsgefahren

Wie der Ukrainekrieg sich zuspitzt

von Angelika Claußen
Schwerpunkt
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„Die Welt läuft mit offenen Augen in einen größeren Krieg hinein“ António Guterres.

Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine liegt die europäische Friedensordnung in Trümmern. Nicht nur UNO-Generalsekretär Guterres (1), sondern weitere gewichtige Stimmen wie der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping (2) warnen vor einer atomaren Eskalation. Noch ist der Krieg militärisch auf die Ukraine begrenzt, doch er hat das Potenzial zu eskalieren: horizontal auf ganz Europa und darüber hinaus, vertikal auf die Ebene von Atomwaffen.

Aktuell intensivieren sich der Krieg und das Töten in der Ostukraine sowie in der Provinz Saporischschja (3). Die Ukraine beabsichtigt in ihrer ‚Frühjahrsoffensive‘, russische Stellungen in der besetzten Provinz Saporischschja anzugreifen – mit dem Ziel, die Nachschublinien auf die Krim zu durchtrennen. Begleitet von den wiederholten russischen Luftangriffen auf Kiew und Odessa wurden russische Plünderungen in Gesundheitseinrichtungen in der Stadt Enerhodar (4) bekannt. Durch die russischen Luftangriffe wurden seit Beginn des Krieges 2022 über 700 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen getroffen. (5) Beide Kriegsparteien sehen alle vier ukrainischen Provinzen (Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson) als zu ihrem Verfassungsgebiet zugehörig an. Das macht Verhandlungen, die auch um die jeweiligen Territorien gehen würden, extrem schwierig. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim fand schon 2014 statt. Sie gelang infolge der Besetzung durch Russland mittels einer Demonstration von militärischer Stärke, ohne großräumige Anwendung von Gewalt. (6)

Die jetzt begonnenen Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine in der Region Saporishshja finden unmittelbar in der Umgebung des größten Atomkraftwerks Europas statt. Die IAEO-Experten vor Ort hören weiterhin regelmäßig Granatenbeschuss, so der Chef der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), Rafael Mariano Grossi. Er sei äußerst besorgt über die sehr realen Risiken für die nukleare Sicherheit und die Sicherung des Kraftwerks und warnt vor einem schweren Atomunfall. (7) Ein Zwischenfall im AKW Saporishshja könnte je nach Schweregrad und Windrichtung Auswirkungen auf große Teile Europas haben und beschreibt damit eine der realen Eskalationsgefahren des Krieges in der Ukraine.

Mögliche Kriegseskalationen

Eine andere Möglichkeit der horizontalen Kriegseskalation drohte uns bereits am 15. November 2022. Damals schlug im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine eine Rakete ein und tötete zwei Menschen. Mehrere hochrangige Politiker*innen wie der ukrainische Präsident Selenskiy und der frühere ukrainische Botschaft Melnyk bewerteten den Raketeneinschlag sofort als „russischen Angriff“. (8) Polen und die baltischen Staaten verlangten, Artikel 4 des Nordatlantikvertrages, der Konsultationen im Falle einer möglichen Bedrohung des Territoriums eines NATO-Partners vorsieht, zu aktivieren. Etwas später erklärte US-Präsident Joe Biden, es könnte sich um eine fehlgeleitete ukrainische Flugabwehrrakete gehandelt haben. (9) Eine solche Situation, ausgelöst durch ein Versehen oder einen Fehlalarm, könnte, falsch interpretiert, schnell zum Dritten Weltkrieg führen.

Kommen wir zum vertikalen Eskalationspotential des Krieges: Seit Kriegsbeginn droht Russland mit dem Einsatz von Atomwaffen. Das ist ein Bruch mit der Norm des „nuklearen Tabus“. Einer Norm, mit der Sicherheitsexperten begründen, dass Atomwaffen nur der Abschreckung dienen und nicht eingesetzt werden sollten. Doch es ist nicht das erste Mal, dass Atommächte mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen. Beispiel Vietnamkrieg: Bereits Mitte der 1960er Jahre - während der Regierungszeit des demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson (1963 - 1969) - war ein Einsatz von Atomwaffen in Vietnam ein immer wieder diskutiertes Szenario. Dabei ging es unter anderem um die strategische Frage, wie zu reagieren sei, falls die Volksrepublik China direkt in den Konflikt eingreifen und den Krieg so ausweiten sollte. (10) Auch Präsident Nixon und sein Sicherheitsberater Kissinger erwogen diese Frage.

Nach Beginn des Ukrainekriegs im Februar 2022 gehört nun das Postulat, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf, zum Standardrepertoire aller fünf Atommächte. Trotzdem wiederholt Russland seine Drohungen Atomwaffen einzusetzen. Auch Präsident Xi konnte Russland bisher nicht dazu bewegen, davon abzulassen. Sowohl Russland als auch die NATO behalten sich in ihren Militärstrategien im Gegensatz zu China den Ersteinsatz von Atomwaffen vor.

Fakt ist: Sowohl Russland als auch die USA sind hinsichtlich ihrer Atomwaffenkapazitäten in etwa gleichrangig. Russland verfügt über knapp 6000 Atomsprengköpfe, davon 1588 einsatzbereite. (11) Die USA verfügen über 5244 Atomsprengköpfe, davon 1770 einsatzbereit. (12)

Ein möglicher Einsatz von russischen Atomwaffen ließe sich nicht begrenzen. Wer das glaubt, ist naiv. Militärische Szenarien zum Einsatz von Atomwaffen gehen von einer hohen Eskalationsgefahr aus. Nukleare Abschreckung setzt den Willen voraus, die Bomben auch einzusetzen. Sonst ist sie nicht glaubwürdig.

Auch wenn Sicherheitsexperten und Militärs einen Atomkrieg als „begrenzt“ einstufen, kann er aufgrund des damit einhergehenden plötzlichen Sturzes der globalen Durchschnittstemperatur die Ernten weltweit gefährden und zu einer „nuklearen Hungersnot“ führen, dem sogenannten „nuklearen Winter“. Das könnte 2 Mrd. Hungertote zur Folge haben. Hinsichtlich der bloßen Klimaauswirkungen  wären  besonders die die Länder des Globalen Nordens betroffen,  in Russland, China, Japan, USA und Europa, wo sich der Anbau für die weltweite Nahrungsmittelproduktion konzentriert. (13).

Kriegsziele

Angesichts der großen Eskalationsgefahr, dass ein Atomwaffeneinsatz der Regierung Putin einen Atomkrieg auslösen kann, muss die Verhütung einer solchen atomaren Eskalation des Krieges höchste Priorität haben. Dazu lohnt ein Blick auf die Kriegsziele der am Ukrainekrieg beteiligten Staaten.

Russland verfolgt drei Kriegsziele: 

In Bezug auf die NATO: Die Nato-Osterweiterung auf die Ukraine zu stoppen.

Die seit 2014 eroberten Volksrepubliken Luhansk und Donetzk zu behalten, ebenso wie die beiden neu eroberten Provinzen Saporischschja und Cherson. Diese Ziele weisen deutlich auf imperiale Züge (14) im russischen Angriffskrieg hin. Schon 2021 untermauerte Präsident Putin seine These, dass die Russen und die Ukrainer ein Volk seien. (15)

Das Ziel „Entnazifizierung“ (16) weist zumindest indirekt auf die Absicht zu einem Regimewechsel in der Ukraine hin.

Die Ukraine verfolgt zwei Kriegsziele: Ihre staatliche Existenz und kulturelle Unabhängigkeit zu sichern und Mitglied von EU und NATO zu werden.

Die NATO mit ihrer Führungsmacht USA verfolgen das Ziel, sowohl die Ukraine in ihrem Souveränitätsbestreben zu unterstützen als auch das Ziel, einen dritten Weltkrieg mit NATO Beteiligung zu vermeiden.

Um zu Verhandlungslösungen zu kommen, müssen demnach die Kriegsziele aller Parteien einbezogen werden. Nur durch Kompromisse kann ein Atomkrieg verhindert werden - und das muss die Priorität aller Parteien sein. Ernsthafte Verhandlungsbemühungen, zunächst für einen Waffenstillstand, sind dabei ein sinnvoller erster Schritt. Dieser kann dann den weiteren Weg für Friedensverhandlungen und eine neue globale Sicherheitsarchitektur ebnen.

Das ist ein Ansatz, der auch im Friedensgutachten 2022 beschrieben wird: „Friedensfähig ist nur, wer über die Kriegslogiken hinaus denkt und diplomatische Optionen entwickelt, Gewaltkonflikte zumindest einzufrieren, um sie mittel- bis langfristig zu lösen“. (17)

Die Friedensorganisation IPPNW dringt ebenfalls weiter auf Diplomatie, Gespräche und einen Verhandlungsfrieden, um weitere Eskalationen des Kriegsgeschehens zu verhüten.

Daher plädiert die Ärzt*innenorganisation für einen Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik. Es ist notwendig, über die Kriegslogik hinauszudenken. Übergeordnete Leit-Prinzipien dafür müssen sein: Kooperation, gemeinsame Sicherheit statt Konkurrenz und Konfrontation durch die Rivalität der Großmächte.

Anmerkungen

1 http://www.merkur.de/politik/guterres-welt-laeuft-mit-offenen-augen-in-e...

2 https://www.upday.com/de/xi-telefoniert-mit-selenskyj-und-warnt-vor-atom...

3 https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-282/519762/analyse-...

4 https://www.dw.com/de/ukraine-aktuell-europ%C3%A4ische-sicherheitsordnun...

5 https://www.bmj.com/content/380/bmj.p451

6 https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-282/519762/analyse-...

7 https://www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-156-iaea-director-g...

8 https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-11/twitter-kommunikation-polen-rak...

9 https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-11/rakete-polen-hinweise-ukrain...

10 https://www.atomwaffena-z.info/geschichte/atomwaffen-als-drohmittel/viet...

11 https://www.atomwaffena-z.info/heute/atomwaffenstaaten/russland

12 https://www.atomwaffena-z.info/heute/atomwaffenstaaten/usa

13 Lili Xia et al: Global food insecurity and famine from reduced crop, marine fishery and livestock production due to climate disruption from nuclear war soot injection; https://www.nature.com/articles/s43016-022-00573-0; https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomwaffen/2022_Nukleare_Hungersno...

14 Friedensgutachten 2022, S. 31; file:///C:/Users/Benutzer%201/Downloads/10.1515_9783839464038-005-1.pdf

15 Andreas Kappeler: Revisionismus und Drohungen (2021), https://zeitschrift-osteuropa.de/site/assets/files/37313/oe210706.pdf

16 https://www.tagesschau.de/faktenfinder/russland-propaganda-ukraine-101.html

17 Friedensgutachten 2022: friedensfähig in Kriegszeiten https://www.transcript-verlag.de/shopMedia/openaccess/pdf/oa978383946403...

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