Seebrücke Bonn

Wie Europa versucht, die Flucht durch die Sahara zu verhindern

von Ilse Jacobs
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Der folgende Text ist eine Rede zur Mahnwache in Bonn am 03.05.2023.

Wir alle sprechen zu Recht über die Toten im Mittelmeer, aber selten davon, was in der Sahara passiert. Das Meer tötet, die Wüste aber ebenso. Die Sahara ist zu einem Friedhof unter freiem Himmel geworden.

Ich möchte über Migration in der Sahelzone, vor allem im Niger, berichten. Zur Erinnerung: Im Westen grenzt der Niger an Mali, im Osten an den Tschad, im Süden an Nigeria und im Norden an Algerien und Libyen. Meinen Ausführungen liegt ein Bericht eines Journalisten zugrunde, der für Medico International arbeitet. Nun könnte man meinen, was geht uns der Niger an? Er ist 4000 km von uns entfernt. Aber: Das Transitland Niger ist inzwischen zu einem Zentrum europäischer und deutscher Migrationspolitik geworden.

Ich berichte von einem jungen Senegalesen, der aus Furcht vor dem dortigen Militär sich bis Niamey, der Hauptstatt von Niger, und von dort nach Agadez, einem Wüstenort an der Grenze zu Algerien und Libyen, durchgeschlagen hat. Agadez ist die letzte Station vor der Route durch die Wüste nach Algerien oder Libyen und damit zum Mittelmeer und weiter nach Europa. Agadez ist heute der europäische Grenzposten in Westafrika.

In Agadez begibt er sich zusammen mit 75 Migrantinnen und Migranten in die Hände von Schleppern. Eine andere Möglichkeit, die Wüste zu durchqueren und nach Europa zu gelangen, gibt es nicht. In drei Pick-ups geht es Richtung Norden. Bis nach Tripolis, der Hauptstadt Libyens, sind es etwa 2000 Kilometer. Nach einigen Tagen verschwinden die Fahrer der Pick-ups plötzlich. Die Migrant*innen befinden sich jetzt irgendwo im Nirgendwo bei tagsüber 50 Grad mit 180 Litern Wasser. Sie befinden sich mitten in der Sahara ohne irgendeine Orientierungsmöglichkeit. Nach drei Tagen entsteht Streit, dabei geht es vor allem um Wasser. Die Mehrheit macht sich zu Fuß auf den Weg, diese Entscheidung ist für die meisten tödlich. Sie verdursten oder sterben durch die Hitze.

Agadez ist das Tor zur Wüste und seit langem schon ein Zentrum der Migration. Früher war es eine kleine Oasenstadt, von wo aus Salzkarawanen aufbrachen. Der Journalist von Medico International berichtet, dass heute die Straßen voller zermürbter, mittelloser und erschöpfter Menschen sind. Dass er auf den staubigen Straßen Geflüchtete trifft, die seit Tagen nichts gegessen haben, Mütter mit schwerkranken Säuglingen auf den Armen, ohne Aussicht auf medizinische Behandlung, Menschen mit Narben am Kopf, an den Armen, auf dem Rücken. Sie stammen von Messerstichen, Schlägen, nicht behandelten und falsch verheilten Knochenbrüchen. „Jede Narbe steht für einen gescheiterten Versuch, in den Norden nach Europa zu kommen.“ Jeder Tag ein Tag enttäuschter Hoffnungen und erlebter Gewalt.

Wie konnte es soweit kommen? Nachdem 2011 das libysche Regime unter Gaddafi zusammengebrochen war, versuchten Tausende Menschen aus dem subsaharischen Afrika, über den Staat Niger nach Libyen und von dort nach Europa zu gelangen. Europäische Politiker*innen setzten daraufhin alles in Bewegung, diese Fluchtbewegungen zu unterbinden.

Im November 2015 luden sie afrikanische Präsidenten nach Valetta, Malta, ein und entschieden, den EU-Grenzschutz nach Afrika zu verlagern, und zwar nicht nur nach Libyen, sondern bis nach Agadez. Daraufhin hat das nigrische Parlament ein Gesetz beschlossen, das den Transport von Migrant*innen kriminalisiert, was die Weiterreise auf bislang legalem Weg unmöglich macht. Sie sind auf Schlepper angewiesen. Um nigrische Sicherheitsbehörden zu meiden, werden die Routen immer unsicherer. Sie nehmen Umwege in Kauf, die viele das Leben kosten, so z.B. über den Tschad, auf den sich nigrische Polizei nicht wagt, weil die Route auch für sie zu gefährlich ist.

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält am gleichen Tag, an dem der Journalist von Medico International über die Zustände in Agadez berichtet, 4.000 km nördlich, auf einem Sondergipfel der EU am 10.2. 2023 in Brüssel eine Rede zur. Dabei geht es um Auf- und Ausrüstung. Ich zitiere: „Wir werden ein integriertes Paket von mobiler und stationärer Infrastruktur bereitstellen, von Fahrzeugen bis zu Kameras, von Wachtürmen bis zur elektronischen Überwachung. Denn“, so Frau von der Leyen, „wir werden handeln, um unsere Außengrenzen zu stärken und irreguläre Migration zu verhindern“. Menschen sollen dort aufgehalten werden, wo sie sich eventuell auf den Weg nach Europa machen. So hat die EU den Niger konsequent zum zentralen Außenposten ihres Grenzregimes gemacht.

Der Niger und auch Algerien machen dies natürlich nicht umsonst. Das Gesetz, das die Kriminalisierung vorsieht, ist zwar formell ein nigrisches Gesetz, die EU aber bestimmt, was in diesem Gesetz zu stehen hat. Der Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten finanzieren einen erheblichen Teil des nigrischen Staatsbudgets. Zur Verhinderung der Migration gen Norden sind seit 2015 mehr als eine Milliarde Euro im Zuge der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit ins Land geflossen und dort meist sofort in dunklen Kanälen versickert, so der Journalist von Medico International, ihren Partnerorganisatoren vor Ort und unter anderem von Alarmphone Sahara.

In 2019 hat die EU mit Algerien ein Abkommen abgeschlossen, in dem sich Algerien verpflichtet, im Gegenzug zu sicherheitspolitischer und militärischer Zusammenarbeit stärker gegen Migrantinnen und Migranten vorzugehen, was u.a. zu vermehrten Abschiebungen in den Niger geführt hat. Derzeit führt Algerien fast wöchentlich illegale Pushbacks in den Niger durch. Die Menschen werden häufig in der Wüste einfach abgeladen, kilometerweit weit von der nächsten Siedlung entfernt. Das Alarmphone Sahara hat allein im ersten Quartal 2023 über 11.000 Migrant*innen gezählt, die aus Algerien in die Wüste abgeschoben wurden, darunter auch Ältere, Schwangere und Kinder.

Diese Art der Entwicklungszusammenarbeit ist zu einem Instrument der Erpressung geworden. Sie wird dann gewährt, wenn die jeweiligen Länder den Interessen der EU gehorchen. In westafrikanischen Ländern geht es dabei überwiegend um Migrationsabwehr. Kürzlich hatte ein hochrangiger Politiker der FDP vorgeschlagen, dass Staaten des Globalen Südens nur dann Geld für Klimaschutz, d.h. Geld zur Erzeugung CO2-neutraler Kraftstoffe, bekommen sollen, wenn sie im Gegenzug Abgeschobene aus Deutschland aufnehmen. In der EU wird diskutiert, Handelsvorteile wie geringere Zugangszölle für den europäische Markt nur dann aufrechtzuerhalten, wenn Staaten Migranten wieder aufnehmen.

Dennoch haben die vielen Maßnahmen Migration nach Europa nicht verhindert. Deswegen will die EU die Abschottung noch dichter machen. Deswegen die Aufrüstungsrede von Frau von der Leyen, die ich eben erwähnt habe. Aber sie ist nicht allein. Ende Januar war die italienische Regierungschefin und Neofaschisten Meloni in Libyen und hat den dortigen Milizen, bei uns als „Küstenwache“ verharmlost, fünf neue von der EU finanzierte Schnellboote versprochen, die helfen sollen, Geflüchtete auf dem Meer abzufangen, um diese dann in libysche Internierungslager zurückzubringen.

Weil Migration ins Verborgene gedrängt wird, lässt sich kaum abschätzen, wie viele tausend Menschen es jedes Jahr versuchen. Einen Hinweis geben die Zahlen der Rückkehrer*innen. Allein 2022 registrierte Alarmphone Sahara mehr als 25.000 Personen, die aus Algerien abgeschoben wurden. Das Wort Rückkehrer klingt nach freier Wahl. Tatsächlich wurden die meisten von algerischen Sicherheitskräften in LKW gezwungen, zur nigrischen Grenze gefahren und dort mitten in der Wüste ausgesetzt.

Noch ein Wort zu Alarmphone Sahara: Alarmphone Sahara ist ein zivilgesellschaftliches Netzwerk von Freiwilligen, das sich für Migrant*innen in der Sahelzone einsetzt. Alarmphone Sahara hat sich 2017 in Anlehnung an „Watch the med – Alarmphone“ gegründet, einer Hotline für in Seenot geratene Flüchtlinge. Alarmphone Sahara will diesem vermeidbaren Leiden und Sterben nicht länger zusehen. Es versucht, Migranten in der Wüste zu retten und Hilfe zu organisieren u.a. mit Hilfe einer Notfall-Telefonnummer; dies vor allem in der Region Agadez und in Assamaka an der Grenze zu Algerien, wo die meisten Migranten auf dem Weg Richtung Norden oder auch nach einer Abschiebung durchkommen.

Alarmphone Sahara dokumentiert menschenrechtsverletzende Praktiken und leistet Hilfe, falls möglich. Dadurch setzt es auch einen praktischen Gegenpunkt zu der repressiven Politik, die Migration auf Druck Europas kriminalisiert und zu einer zunehmend flüchtlingsfeindlichen Stimmung in der nigrischen Öffentlichkeit beigetragen hat.

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Ilse Jacobs ist aktiv bei der Seebrücke Bonn.