Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik in ihren historischen Etappen:

Zielsetzungen, Strategien und Wirkungen

von Andreas Buro

Mehr als ein halbes Jahrhundert Friedensbewegung in der Bundesrepublik können nicht als eine Einheit beschrieben werden. Im Folgenden werden acht Etappen in aller Kürze und Vereinfachung skizziert, und zwar:

   
 
Widerstand gegen die Wiederbewaffnung
    "Kampf dem Atomtod" in der zweiten Hälfte der 50er Jahre
 
 
    Ostermarsch-Bewegung / Kampagne für Demokratie und Abrüstung
 
 
    Kampagne gegen den NATO-Doppelbeschluss
 
 
    Phase nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
 
 
    Phase während der Golf- und Balkan-Kriege
 
 
    Die interventionistische Orientierung der NATO-Staaten und Deutschlands
 
 
    Imperiale Kriege und Aufrüstung im Zeichen des Kampfes gegen Selbstmord-Terrorismus

Der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung
Nach dem NATO-Beitritt der BRD 1954 endete die "Ohne-mich-Bewegung" gegen die Wiederaufrüstung. Sie hatte von 1949 bis 1955 anti-militaristische Argumente vertreten und reichte vom konservativen über den liberalen und religiösen Teil der Gesellschaft bis zur Linken. Der Bundesinnenminister berichtete 1952 von 175 Organisationen, Arbeitskreisen, usw. Die Motivationsstrukturen waren äußerst heterogen und reichten vom gekränkten Nationalstolz, dem Wunsch nach einer neutralistischen Lösung bis zu anti-militaristischen Positionen. Pazifistische Überzeugungen wurden vermutlich nur von einer recht kleinen Minderheit vertreten.

Diese Phase verläuft in vier Teilschritten:
der "Ohne-mich-Bewegung", der Volksbefragungsaktionen, der Neutralitätsbestrebungen und der Paulskirchen-Bewegung. Die dominierenden Akteure waren politische Parteien und große Organisationen wie der DGB und die Kirchen, unter deren Dach sich Aktionsgruppen organisierten. Davon unabhängige Akteure fanden sich vor allem unter der Thematik "Neutralitätsbestrebungen". Eigenständige Friedensgruppierungen waren weit davon entfernt, die Auseinandersetzungen zu bestimmen.

Auswirkungen auf die Politik:
Weder Ziele noch Teilziele wurden erreicht. Der Kalte Krieg eskalierte und die Wiederbewaffnung wurde durchgesetzt.

Auswirkungen auf die Gesellschaft:
In Umfragen sprachen sich bis zu 80% der Bevölkerung allerdings, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Motiven gegen die Wiederbewaffnung aus. Damit wurde seit der Kriegszeit erstmals eine breite Diskussion in der Gesellschaft über Militär und Bewaffnung geführt. Angesichts der so unterschiedlichen, unter anderem von nationalen Ressentiments, zum Teil aber auch von politisch-taktischen Erwägungen geprägten Motive, war dies vorwiegend keine kritisch-pazifistische Auseinandersetzung über militärische Gewalt und ihre Überwindung.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Zunächst ist zweifelhaft, ob hier bereits von Friedensbewegung im Sinn "neuer sozialer Bewegungen" gesprochen werden kann. Für breitere soziale Lernprozesse war die Heterogenität zu groß und der schnelle Wechsel der Ansätze ungünstig. Kompetenzen wurden in den jeweiligen Thematiken durch die Arbeit in den vielen Ausschüssen und Gruppierungen angeeignet. Zivile und gewaltfreie Formen des Widerstandes (Streik, ziviler Ungehorsam, Tabu-Verletzungen, direkte Aktionen) wurden von einigen Gruppen neu aufgenommen, denen häufig massive staatliche Gewalt entgegengesetzt wurde.

Thematisierung und Entfaltung neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
Im Vordergrund stehen Neutralitätskonzepte, die sich als Alternative zur West-Integration der Bundesregierung verstanden. Sie zielten auf eine Deeskalation des entstehenden Kalten Krieges und der damit verbundenen Kriegsgefahr.

Die Kampagne "Kampf dem Atomtod"
Der Protest gegen die Atomwaffen wurde in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von SPD, Gewerkschaften, evangelischer Kirche und einzelnen Persönlichkeiten in der Kampagne "Kampf dem Atomtod" organisiert. Die großen Organisationen hatten dabei das Sagen. Diese Phase war fast von denselben Akteuren wie die vorhergehende bestimmt. Man konzentrierte sich auf die atomare Bedrohung und erreichte dort eine erhebliche Breite der Auseinandersetzung. Die Großorganisationen, allen voran die SPD, bestimmten weitgehend politisch, finanziell und organisatorisch die Kampagne. Allerdings gab es auch davon unabhängige Neutralitäts- und Friedensgruppen. 1959 machte die SPD mit ihrem auf dem Parteitag in Bad Godesberg beschlossenen Grundsatzprogramm einen großen Schwenk in Richtung auf eine sich zur Mitte öffnende Volkspartei, die zu einer großen Koalition bereit war. "Kampf dem Atomtod" passte nicht mehr in diese neue Strategie und wurde kurzerhand von SPD und DGB organisatorisch und finanziell abgewürgt.

Auswirkungen auf die Politik:
Die vorgetragenen politischen Ziele konnten nicht durchgesetzt werden, auch nicht Teilziele. Vielmehr schwenkten SPD- und Gewerkschaftsführung am Ende dieser Phase sogar auf die konservative Regierungspolitik ein.

Auswirkungen auf die Gesellschaft:
Die Diskussion über Nuklearwaffen hat große Teile der Gesellschaft erfasst und sie in eine Auseinandersetzung über die Ungeheuerlichkeiten militärischen Denkens und militärischer Praxis (Hiroshima/Nagasaki) geführt. Dies bewirkte eine erhebliche Mobilisierung für Nuklear-Abrüstung. Die Konzentration auf die Nuklearwaffen schob allerdings die generelle Frage nach der Überwindung militärischer Gewalt in den Hintergrund und überließ sie pazifistischen und anti-militaristischen Gruppen.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Die Konfliktaustragungsformen waren, bestimmt durch die Großorganisationen, weitgehend traditionell. Institutionalisierungen ergaben sich in Anti-Atom-Komitees, die weitgehend von unabhängigen Personen und Oppositionellen in den Großorganisationen gegründet und betrieben worden waren.

Thematisierung und Entfaltung neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
Der Protest gegen Atomwaffen war nicht auf die Entfaltung neuer Konzepte und Begriffe gerichtet. Die Erforschung der Verhandlungen über Atomwaffen und ihre Wirkungen wurde vor allem im Ausland betrieben, aber doch in der BRD zur Kenntnis genommen.

Die Ostermarsch-Bewegung / Kampagne für Demokratie und Abrüstung
Pazifistische Gruppen in Norddeutschland veranstalteten 1960 den ersten Oster-Sternmarsch von Hamburg, Bremen, Hannover und Braunschweig zum Raketenübungsplatz Bergen-Hohne, woraus sich die bundesweite, unabhängige, außerparlamentarische Opposition entwickelte (Buro,1977). Zunächst firmierte sie unter dem Namen "Ostermarsch der Atomwaffengegner gegen Atomwaffen in Ost und West" und nannte sich in den späten 60er Jahren, damit einen sozialen Lernprozess anzeigend, "Kampagne für Demokratie und Abrüstung". Diese Kampagne wurde zu einem breiten Bündnis aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus und politischen Lagern, arbeitete ganzjährig, finanzierte sich selbst und war von keiner Partei und keiner Großorganisation abhängig (Otto, 1977). Es entwickelt sich auch ein dichtes Netz lokaler Gruppen. Dies ist die erste über lange Zeit (1960-69) auf breiter sozialer Basis arbeitende "neue soziale Bewegung", die sich selbst als außerparlamentarische Opposition bezeichnete (Otto, 1977). Die Kampagne griff zunächst weitgehend die Forderungen von "Kampf dem Atomtod" auf, vertiefte sie aus pazifistischer Sicht und veränderte sich im Laufe der Jahre zu einer anti-militaristischen und pazifistischen Bewegung, die immer weitere Bereiche der Probleme der Demokratisierung in ihre Arbeit einbezog. Seit Mitte der 60er Jahre spielte das Thema Vietnam eine zunehmende Rolle bei den öffentlichen Protesten. Es wurde von der Studentenbewegung verstärkt aufgegriffen und bis zum Abzug der USA aus Vietnam 1973 intensiv verfolgt. 1968 marschierten Ostblock-Staaten in die CSSR ein, was die Zusammenarbeit der heterogenen Teile der Kampagne außerordentlich belastete.

Auswirkungen auf die Politik:
Die politischen Ziele (atomwaffenfreie Zonen, Abrüstung usw.) konnten nicht erreicht werden. Die Friedensbewegung konnte ebenfalls nicht friedensgefährdende Situationen (Abschreckungspolitik, Kuba-Krise usw.) deeskalieren. Die jahrlange Kampagne gegen den Vietnam-Krieg war allerdings ein wichtiger Teil der weltweiten Proteste, die mit zum Beschluss der USA beitrugen, sich aus diesem Krieg zurückzuziehen. In dieser Hochzeit des Kalten Krieges konnte die Friedensbewegung nur sehr punktuell Ost-West-Dialoge führen. Ein wichtiger Beitrag lag darin, dass sie durch ihre langjährige Friedensarbeit der späteren "neuen Ostpolitik" der Regierung Brandt/Scheel eine breitere Basis in der Bevölkerung verschaffen konnte.

Auswirkungen auf die Gesellschaft:
In der schwierigen politischen Landschaft des Kalten Krieges der 60er Jahre hat die Kampagne alle Teile der Bundesrepublik erfasst und in ganzjähriger Arbeit eine breite öffentliche Diskussion entfalten können. Viele Menschen wurden ermutigt, öffentlich für ihre friedenspolitische Haltung einzustehen, so dass man durchaus von einer erheblichen Mobilisierung sprechen kann.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Durch die langjährige Arbeit war es möglich, "soziale Lernprozesse" und eine Politisierung vieler BürgerInnen zu ermöglichen. Dabei wurden nicht nur friedenspolitische Zusammenhänge gelernt, sondern auch, dass man sich zusammenschließen und seine eigenen Positionen in der Öffentlichkeit durchaus gut vertreten sowie Einschüchterungen widerstehen kann. Die Kampagne hat vielfältige, lebensbejahende, fröhliche Formen der Demonstration und der Kommunikation entwickelt und damit in diese oft schwierige Arbeit Gruppengeselligkeit eingebracht.

Thematisierung und Entfaltung neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
Die angebotenen Alternativen kreisten um die Bildung atomwaffenfreier Zonen und Neutralitätskonzepte. Von pazifistischer Seite stand das Konzept der gewaltfreien "Sozialen Verteidigung" im Vordergrund, das bis zur Gegenwart immer wieder Anlass zu Diskussionen über weiterführende gewaltfreie Strategien gegeben hat. Die "Kampagne für Demokratie und Abrüstung" hat vermutlich dazu beigetragen, dass 1971 auf Anregung von Bundespräsident Gustav Heinemann, der 1950 unter Protest gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik als Bundesinnenminister zurückgetreten war, die "Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung" und in der Folge Friedensforschungsinstitute in der BRD gegründet wurden.

Die Kampagne gegen den NATO-Doppelbeschluss
Erste deutliche Lebenszeichen gab die Friedensbewegung wieder von sich, als 1977/78 die Neutronenbomben eingeführt werden sollten. Als 1979 die NATO ihren Doppelbeschluss zur Stationierung von Mittelstreckenraketen mit minimaler Vorwarnzeit fasste, bildeten Menschen aus den vielfältigen sozialen Bewegungen im ganzen Land Friedensgruppen, und es entstand die größte Friedensmobilisierung, die es bis dahin jemals in Deutschland gegeben hatte. Ziviler Ungehorsam und gewaltfreie Aktionsformen gewannen große Verbreitung. Es entwickelte sich in dieser Phase ferner eine intensive Diskussion über Alternativen und auch über militärische Defensivkonzepte, die zu einem Ende der Abschreckungspolitik und zu Abrüstung führen sollten. Gorbatschows Entspannungs- und Abrüstungspolitik läutete bis zum Ende der 80er Jahre eine neue Ebbe der Friedensbewegung ein.

Auswirkungen auf die Politik:
Der Bundestag hat gegen das "Votum der Straße" die Stationierung der Mittelstreckenraketen beschlossen. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der massive Protest und die folgenden gewaltfreien Blockaden in Mutlangen und anderenorts die "Politik" hellhörig für die Befürchtungen der Bevölkerung gemacht haben.

Auswirkungen auf die Gesellschaft:
In dieser Phase ging es um militärisch-politisches Handeln, durch das die Bevölkerung dem Risiko einer weitgehenden Vernichtung ausgesetzt wurde. In der "Zivilgesellschaft" entstand eine breite Diskussion, die zu einer Ablehnung der Nachrüstung bei bis zu 2/3 der befragten Bevölkerung führte. Die Mobilisierungsbereitschaft war sehr hoch, wobei auch Risiken durch die Protestformen in Kauf genommen wurden. Die Absurdität der enormen Selbstgefährdung des damaligen Abschreckungskonzepts dürfte das Verständnis für die Kriegsdienstverweigerung erheblich gefördert haben.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Es war trotz Dissens in vielen Fragen möglich, sich in zentralen Punkten zu einigen und dann gemeinsam koordiniert zu handeln. Viele Formen zivilen Protestes und gewaltfreien Widerstandes wurden erprobt und weiter entwickelt. Die Aktionsformen führten zu einer stärkeren Gewichtung des gewaltfreien Kampfes gegenüber dem anti-militaristischen und förderten das Verständnis für pazifistische Verhaltensweisen. Die zahlreichen Gerichtsverfahren wurden zu Foren der politischen Auseinandersetzung. Wechselwirkungen zwischen den sozialen Bewegungen traten insofern auf, als zu Beginn dieser Phase aus fast allen anderen sozialen Bewegungen Menschen herbeiströmten, um sich gemeinsam gegen die neue Bedrohung zu wehren. In dieser Zeit formierte sich zunehmend die Grüne Partei, die sich überwiegend aus dem Bereich der sozialen Bewegungen rekrutierte.

Thematisierung und Entfaltung neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
Diskussionen gab es über die Möglichkeiten von Defensiv-Konzepten, die eine Überwindung der Abschreckungskonfrontation, Deeskalation und einen Einstieg in Abrüstung bewirken sollten.

Das Ende des Ost-West-Konflikts
Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums veränderte die sicherheits- und friedenspolitische Landschaft auch für die Friedensbewegung grundlegend. Man war nicht mehr bedroht. Damit wurde neben dem Kampf für Abrüstung das zweite große Thema der Friedenbewegung auf die Tagesordnung gesetzt: der Grundgedanke, dass Frieden in Europa nicht auf Waffen, sondern auf Verständigung über die Formen des Zusammenlebens im "Gemeinsamen Haus" gegründet sein müsse. Dementsprechend gelte es, Aussöhnungsarbeit zwischen der Bundesrepublik oder besser deren Gesellschaft und den osteuropäischen und den ehemals sowjetischen Gesellschaften zu leisten. Die Bedingungen für eine gesamteuropäische gemeinsame, friedliche Zukunft waren zu entwickeln. In der schon 1987 begonnenen Diskussion ging es um die Begriffe und eine entsprechende Politik des "positiven Friedens" für Europa und einer "gesamteuropäischen Friedensordnung".

Auswirkungen auf die Politik:
Die Grundstimmung in der Bevölkerung aufgrund der friedenspolitischen Mobilisierung mag dazu beigetragen haben, dass partielle Abrüstungsschritte zwischen Ost und West vereinbart wurden. Dieses betraf allerdings vor allem die Rüstung aus der Zeit des Ost-West-Konflikts, die nun nicht mehr gebraucht wurde. Von einer generellen Tendenz zur Abrüstung konnte nicht die Rede sein, vielmehr nur von Umrüstung. Auch die zeitweiligen Tendenzen, sich auf eine gesamteuropäische Friedensordnung einzulassen und die OSZE in diesem Sinne umzugestalten (Pariser Gipfel von 1990), wurden von dieser Grundstimmung getragen. Die Demokratie-Bewegung in der DDR, die viele Elemente einer Friedensbewegung beinhaltete, hat wesentlich zu einem friedlichen Systemwechsel beigetragen, wenngleich sie diesen auch nicht verursacht hat.

Auswirkungen auf die Gesellschaft:
Angesichts der Hoffnungen auf "Friedensdividende" und dem Eindruck, die Abschreckungsbedrohung sei nun aufgehoben, wandten sich viele Menschen anderen für sie wichtigen Themen zu. Dies bedeutete nicht, sie seien grundsätzlich an der Friedensproblematik nicht mehr interessiert oder hätten gar ihre Meinung verändert.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Die breite Mobilisierbarkeit ging erheblich zurück, so dass die eigentlich günstigen Bedingungen für die Forderungen der Friedensbewegung nicht genutzt werden konnten. Menschen, die in den 70er Jahren in anderen sozialen Bewegungen ihren Schwerpunkt gehabt hatten, wandten sich zum Teil ihrer früheren Arbeit wieder zu. Lokale Gruppen verminderten ihre Arbeit oder lösten sich auf. Es entstand die paradoxe Situation, dass die Friedensbewegung analytisch und prognostisch auf einem hohen Niveau arbeitete, während sie gleichzeitig als Massenbewegung kaum noch präsent war und dementsprechend in der Öffentlichkeit nur wenig Gehör fand.

Thematisierung und Entfaltung, neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
Besonders nach 1989 entwickelte sich eine lebhafte Diskussion um die neuen Ziele der Friedensbewegung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Die Kampagne "Bundesrepublik ohne Armee" (BoA) wurde gestartet, die in anderen Ländern Entsprechungen hatte. Eine zivile Völkergesellschaft sei zu entfalten, die ihre Friedensordnung auf Kooperation, Nicht-Bedrohung und zivile Konfliktbearbeitung gründen solle. Dazu müsse die militärische Integration Westeuropas zur Militärgroßmacht und eine militärisch gestützte Hegemonialposition Deutschlands in der EU verhindert werden. Konzepte für eine gesamteuropäische Friedensordnung, oft sprach man auch von dem "Gemeinsamen Haus Europa", ausgehend von einer ausgebauten OSZE, wurden ausgiebig thematisiert.

Die Kriege am Golf (1991) und auf dem Balkan
Der Krieg am Golf 1991 richtete den Blick verstärkt auf Konflikte und Kriege in anderen Ländern. Während die Deutschen nicht mehr unmittelbar bedroht waren, ging es nun vorrangig um den Frieden im ehemaligen Jugoslawien. Die neue Ära nach dem Ost-West-Konflikt stellte auch in Bezug auf die Handlungsformen der Friedensbewegung ganz neue Anforderungen. Konnte angesichts des Golf-Krieges schwergewichtig noch mit Demonstrationen und Großveranstaltungen in Deutschland unter dem provokativen Motto "Kein Blut für Öl" reagiert werden, so war dies bei den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien nicht mehr möglich. Dort war grenzüberschreitende Friedensarbeit gefordert, für die kaum Erfahrungen vorlagen.

Der Krieg in Kroatien und Bosnien bewegte die Menschen in der Friedensbewegung mehr als alle anderen kriegerischen Konflikte zuvor. Mitleiden und der Wunsch zu helfen, bildeten eine der großen Gemeinsamkeiten. Die Grausamkeiten dieses Krieges waren zwar kein neues Argument gegen Pazifismus; trotzdem hat der Wunsch nach einem schnellen Ende des fast hautnah erlebten Infernos auch die friedensbewegten Menschen innerlich gespalten. Die so genannte Bellizisten / Pazifisten-Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern und den Gegnern eines westlichen Militäreinsatzes in Bosnien spiegelte diesen Konflikt wieder. Diese Diskussion ist nur vor dem Hintergrund des neuen unipolaren globalen Machtsystems unter Führung der USA zu verstehen, dessen Interventions-Bereitschaft sich die Bundesrepublik zunehmend in ihrer "out-of-area-Politik" zuordnet.

Auswirkungen auf die Politik:
Die "große" Politik der USA, der EU-Staaten und der NATO konnten durch die vielfältigen Stellungnahmen und grenzüberschreitenden Aktionen der deutschen und internationalen Friedensgruppen nicht nachweislich beeinflusst werden. In Teilbereichen war die Arbeit jedoch sehr wirksam. Zum Beispiel die Fluchthilfe, die von der Organisation "Den Krieg überleben" geleistet wurde, die besonders gefährdete Personen aus serbisch besetzten Gebieten heraus schleuste und bei Familien in Deutschland unterbrachte. Als Auswirkung auf die Politik ist auch die systematische Unterstützung von Friedens-, Menschenrechts- und Demokratiegruppen im ehemaligen Jugoslawien zu werten, die unter enormem politischem Druck und erheblicher Gefährdung ihre Arbeit aufrechtzuerhalten suchten.

Auswirkungen auf die Gesellschaft:
In Deutschland wurden die Menschen in Hunderten von Veranstaltungen, in Flugschriften mit Millionen-Auflage, vielen Analysen, Erfahrungsberichten und Kritiken an der Politik der westlichen Staaten gegenüber dem Konflikt ausführlich informiert. Viele Menschen haben sich an den großen humanitären Hilfsaktionen der sozialen Bewegungen beteiligt und Tausende von Flüchtlingen über lange Zeit bei sich privat aufgenommen. Dadurch ist auch ein größeres Verständnis für die Nöte der Flüchtlinge entstanden, was sich später im Protest gegen die schnelle Abschiebung der Flüchtlinge niederschlug. Relativ breit wurde in der Gesellschaft auch die sogenannte Bellizisten / Pazifisten-Diskussion aufgenommen und damit zumindest Sensibilität für die Probleme des militärischen Konfliktaustrages hergestellt.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Die wichtigste Auswirkung liegt in der Orientierung der Friedensbewegung auf grenzüberschreitende, zivile Konfliktbearbeitung, also auf die Frage, wie eine soziale Bewegung mit ihren Möglichkeiten friedensförderlich in Konflikte in anderen Ländern eingreifen kann. Neue Arbeitsformen der Ausbildung für gewaltfreies Handeln, für Mediation, für Vor-Ort-Arbeit, humanitäre Hilfe, zum Aufbau von Kontakten, zur Vermittlung auch über ethnische Grenzen hinweg wurden erforderlich.

Thematisierung und Entfaltung neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
In dieser Phase wurde der Begriff der "Zivilen Konfliktbearbeitung" (ZKB) auf breiter Basis nicht zuletzt in Verbindung mit dem Begriff der Prävention diskutiert. In diesem Zusammenhang steht auch die Arbeit an der Herausbildung eines Zivilen Friedensdienstes (ZFD) in Deutschland und international. Die "Plattform Zivile Konfliktbearbeitung" und das "Forum Ziviler Friedensdienst" wurden gegründet.

Die interventionistische Orientierung der NATO-Staaten und auch Deutschlands
Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen weit bis zum 91er-Golf-Krieg und bis zur NATO-Osterweiterung zurück. Die USA stützten ihre Außenpolitik weitgehend auf ihre militärischen Potentiale. Rüstungskontrollpolitik wurde von ihnen zunehmend als lästige Beschränkung gewertet, die nicht nur durch die Aufkündigung des Anti-Ballistic-Missile-Vertrags beschädigt wurde. Die Militärorganisation NATO übernahm die Funktion einer interventionistischen "Ordnungsmacht" und die europäischen NATO-Staaten ordneten sich diesem Modell kooperativ / kompetitiv zu. Diese Etappe kann für Deutschland durch die Beteiligung am NATO-Jugoslawien-Krieg 1999 gekennzeichnet werden, der ohne UN-Mandat geführt wurde.

Die EU versuchte zunehmend, ein eigenständiges militärisches Interventionspotential aufzubauen und dazu auch die europäische Rüstungsindustrie zu konzentrieren. Um dies zu rechtfertigen und die Bevölkerung für diese Politik zu gewinnen, wurden Legitimationsideologien von der "humanitären, militärischen Intervention" und vom "gerechten Krieg" bemüht, die die Friedensbewegung als gefährlichen Kampf um Hirne und Herzen der Bevölkerung begriff. Sie arbeitete und kämpfte mindestens in drei Bereichen: der Kritik der militärgestützten Politik, der Entfaltung von Alternativen der zivilen Konfliktbearbeitung und Prävention und der Kritik der Legitimationsideologien.

Auswirkungen auf die Politik:
Die rot-grüne Regierung in Berlin, die den Kosovo-Krieg mitgeführt hatte, betrieb den "interventionistischen Kurs" in ihrer Militär- und Rüstungspolitik ohne Rücksicht auf grüne und linke Wählerstimmen und unbeeindruckt von Protesten der Friedensbewegung. Eine systematische Präventionspolitik war nicht erkennbar. Mehr zur Beruhigung der Parteianhänger wurden marginale Projekte des Zivilen Friedensdienstes, stark orientiert auf die Entwicklungspolitik, gefördert. Teilerfolge konnten durch eine weltweite Kampagne gegen Minen erreicht werden. Es gelang zwar immer wieder, die Rüstungsexporte in Kriegsgebiete (z. B. in die Türkei) öffentlich zu thematisieren. Die tatsächlichen Erfolge einer Einschränkung der Rüstungsexporte waren allerdings sehr begrenzt.

Auswirkungen auf die Gesellschaft:
Der Friedensbewegung ist es in dieser Etappe nicht gelungen, die interventionistische Militärpolitik in der Bevölkerung zu einem zentralen Thema der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu machen, obwohl der NATO-Jugoslawien-Krieg von einem großen Teil der Bevölkerung (bis zu 60% in den neuen und bis zu 40% in den alten Bundesländern) abgelehnt wurde. Auch eine Diskussion über die erwähnten Legitimationsideologien kam nur schwer in Gang.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Die Friedensbewegung hatte in dieser Phase keine Projekte, die zu einer Massenbeteiligung geeignet waren. Dementsprechend waren die Medien noch schwerer als sonst zu erreichen. Die Arbeit wurde in einem kooperativen Netz der aktiven Kerne von Organisationen und Gruppen meist auf hohem Niveau betrieben.

Thematisierung und Entfaltung neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
Verstärkt wurde der globale Zusammenhang, in dem sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bewegte, in die Analysen einbezogen. Das globale, unipolare Militärsystem mit den USA als Führungsmacht wurde mit dem Prozess der "Globalisierung" in Verbindung gesetzt und seine "organisierte Friedlosigkeit" (D. Senghaas) und militärische Gewaltsamkeit kritisiert, ohne dabei die anderen Gewaltkonstellationen auszuklammern.

Imperiale Kriege und Aufrüstung im Zeichen des Kampfes gegen Selbstmord-Terrorismus
Die letzte zu nennende Etappe ist 2005 noch nicht abgeschlossen. Obwohl es viele Vorläufer gibt, beginnt sie im öffentlichen Bewusstsein mit dem Angriff von Selbstmordattentätern in gekaperten Zivilflugzeugen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. 9. 2001. Die USA erfuhren damals Bekundungen großer Solidarität aus vielen Ländern. Sie begannen einen Krieg gegen Afghanistan, um die dortigen Ausbildungslager und Strukturen für diesen Terrorismus zu vernichten. An diesem Krieg und an den folgenden Versuchen der staatlichen und gesellschaftlichen Konsolidierung beteiligten sich auch viele europäische Staaten, wenngleich die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats keine explizite Ermächtigung zum Angriff auf Afghanistan erteilten. Die Bundesrepublik ist mit Einsatz von Militär und politischer wie wirtschaftlicher Unterstützung beteiligt. Erstmals wird der Nato-Bündnisfall (enduring freedom) unbefristet ausgerufen.

Die Bush-Administration der USA erklärte den weltweiten Kampf gegen das Böse. Sie nahm für sich als einzige Militärsupermacht das Recht in Anspruch, überall auf der Welt auch vorbeugend Krieg zu führen und sogar Atomwaffen gegen Staaten einzusetzen, die keine solchen Waffen besitzen. Internationales Recht und die Charta der Vereinten Nationen wurden damit schwer beschädigt. Für die riesige US-Aufrüstung wurden hemmende Rüstungskontrollverträge aufgegeben und strategische Militärstützpunkte in den wichtigsten Teilen der Welt gebaut.

Der Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak 2003 erfolgte ohne UN-Mandat und gegen den Willen vieler Staaten der EU und der anderer Kontinente. Er kann nicht mehr als Kampf gegen Selbstmord-Terrorismus legitimiert werden. Die rot-grüne Regierung verweigerte eine direkte militärische Beteiligung.

Der erfolgreichen Kriegsführung in Afghanistan und Irak folgen enorme Schwierigkeiten in der Friedenssicherung. Die Kriegswarnungen der Friedensbewegung zeigen ihre volle Berechtigung. Viele Argumente der USA für den Irak-Krieg erweisen sich als Fälschungen oder Lügen oder Desinformation. Der immer wieder eskalierende israelisch-palästinensische Konflikt belastet die Situation in der Region schwer.

Die unilaterale Vorgehensweise und die hohe militärische Überlegenheit der USA verstärken in der EU die Tendenz zur gemeinschaftlichen Aufrüstung. Die 2004 vom Rat der EU gebilligte Verfassung sieht sogar eine Verpflichtung zur militärischen Aufrüstung vor, die sich eindeutig auf militärische Interventionen richten soll.

Die Friedensbewegung wendete sich in dieser Etappe gegen den Afghanistan-Feldzug, konnte dafür jedoch keine Massenmobilisierung erreichen. Eine Massenmobilisierung größten Ausmaßes gelang jedoch 2003 bei dem Angriffskrieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak. Die langen Verhandlungen im Sicherheitsrat der UN, die lügenhaften Begründungen für einen Angriffskrieg und vor allem die Weigerung der Bundesregierung, Frankreichs und anderer EU-Staaten, sich militärisch an der Intervention zu beteiligen, erzeugten eine große Protestmotivation in der Bevölkerung. Dazu kam die enorme internationale Mobilisierung des Protestes in vielen Teilen der Welt. Die New York Times sprach von der mobilisierten öffentlichen Meinung als zweiter großer Weltmacht.

Auswirkungen auf die Politik:
In dieser Phase ist die Friedensbewegung bezogen auf den Irak in relativer Nähe zur Bundesregierung. Sie stellt zwar die weitergehende Forderungen, den USA Überflugrechte und die Nutzung ihrer Basen in Deutschland zu entziehen, unterstützt jedoch die Haltung Berlins, sich nicht militärisch zu beteiligen. Die Wiederwahl der rot-grünen Koalition beruht höchst wahrscheinlich auf dieser Übereinstimmung. Einen Einfluss gegen die Militarisierung der EU und für die Entmilitarisierung der EU-Verfassung kann sie jedoch nicht erreichen. Auch die Rüstungsexporte werden weiter fortgeführt.

Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die hohe Mobilisierung gegen den Irak-Krieg und die ungewöhnlich kritische Berichterstattung in den Medien erreichte Teile der Bevölkerung weit über den Kreis derjenigen, die sich an Demonstrationen beteiligten. Sie führte zu einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber der Außen- und Militärpolitik der USA. Diese wird durch die Enthüllungen über die Lügenhaftigkeit der Führung in den USA und in Großbritannien und durch die katastrophalen Verhältnisse im Irak im Laufe der Zeit noch verstärkt.

Auswirkungen innerhalb der Friedensbewegung:
Gestärkt worden ist das Selbstbewusstsein, ein wichtiger Teil einer internationalen Bewegung für Frieden und mehr soziale Gerechtigkeit zu sein. Die Zusammenarbeit mit globalisierungskritischen Gruppen wird zur Selbstverständlichkeit. Die Beschäftigung mit dem Irak-Krieg richtet notwendigerweise den Blick verstärkt auf die gesamte Situation in Nah- und Mittelost. Der Israel-Palästina-Konflikt wird im Zeichen des israelischen Mauerbaus zu einem wichtigen neuen Thema grenzüberschreitender Friedensarbeit (Komitee für Grundrechte und Demokratie 2003).

Thematisierung und Entfaltung neuer, alternativer Konzepte und Begriffe:
Das Konzept der zivilen Prävention und Konfliktbearbeitung breitet sich in der Friedensbewegung verstärkt aus. Damit stellt sich verstärkt die Frage nach der militärisch-zivilen Zusammenarbeit. Die Friedensbewegung muss sich fragen, ob ihre Ziele der Überwindung des Krieges und der Abrüstung dadurch schrittweise erreicht werden können, oder ob sich nur eine Anreicherung militärgestützter Politik mit zivilen Instrumenten vollzieht, wie sie zum Beispiel zur Nachsorge nach militärischen Interventionen benötigt wird. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Frage nach der Möglichkeit eines "Gerechten Krieges" und einer militärischen "humanitären Intervention" eine strategische Bedeutung. Die Friedensbewegung gerät hier also mit ihrem Konzept der Zivilen Konfliktbearbeitung an eine grundsätzliche Weichenstellung.

Der 11. September und die späteren Militärinterventionen, die sich angeblich gegen den Terrorismus wenden, veranlassen die Friedensbewegung, sich verstärkt mit diesem Begriff auseinanderzusetzen. Handelt es sich um eine Form von asymmetrischer Kriegsführung? In der Öffentlichkeit wird der Begriff Terrorismus vorwiegend auf Anschläge und Selbstmordattentäter bezogen und als verbrecherisch gekennzeichnet, während die Kriegführung der technisch potenten militärischen Mächte als "normale" Handlungen des Militärs präsentiert werden. Die Friedensbewegung setzt dieser einseitigen Zuweisung von Terrorismus die Parole "Krieg ist Terror" entgegen. Sie meint damit sowohl Attentats- wie auch Staatsterrorismus.

Der Text wurde redaktionell stark gekürzt. Ausführliche Fassung mit Literaturhinweisen in: Andreas Buro, Geschichten aus der Friedensbewegung, 240 Seiten, 10 Euro Vorkasse bei: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7-11, 50670 Köln

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