Zwischen "Ankoppelung" und "begrenztem Atomkrieg"

von Wolfgang Biermann

Der Streit über An- und Abkoppelung bzw. über einen begrenzt führbaren oder rasch zu eskalierenden Atomkrieg ist älter als die heutige Auseinandersetzung über Rolle und Funktion atomarer Kurzstreckensysteme, älter auch als die über die Mittelstreckenwaffen. Mit der NATO-Strategie der "flexiblen Erwiderung" ist ein verwaschener Kompromiss gefunden worden, wirklich geschlichtet ist der Streit aber bis heute nicht.

Für die NATO-Europäer ging es von Anfang an im Wesentlichen darum, den strategischen Schutzschirm, also die amerikanische strategische Abschreckungsstreitmacht, als Abschreckung gegen einen möglichen sowjetischen Angriff zu behalten. Obwohl die beiderseitige Verwundbarkeit (MAD) den Einsatz strategischer US-Waffen in der Abschreckungswirkung un-glaubwürdig gemacht hatte, suchten die Europäer dennoch eine möglichst automatische und lückenlose Ankoppelung an diesen strategischen Schutzschirm zu erlangen.

Die Flexible Response mit ihrer Fähigkeit, unter Einschluss amerikanischer Truppen und ihrer Nuklearwaffen auf jeder Stufe eines Konfliktes in Europa zurückzuschlagen, sollte bei der UdSSR den abschreckenden Eindruck erwecken, daß quasi auf jeder Konfliktebene das strategische Potential der USA eingebunden ist. Dies wurde politisch symbolisiert durch die nuklearen Subsysteme (Gefechtsfeldwaffen, Kurz- und Mittelstreckenraketen). Möglichst lückenlos· sollte diese nukleare Eskalationsoption durch die sogenannten Mischsysteme, also z.B. deutsche Trägermittel (nuklearfähige Flugzeuge und Raketen vom Typ Lance und Pershing Ia) symbolisiert werden. Den Gipfel der Ankoppelungsideologie bildete schließlich die Stationierung der bereits er-wähnten selektiv und begrenzt einsetzbaren "Schauplatzwaffen" mit strategischem Charakter: Pershings II und Cruise Missiles.

Anders ausgedrückt: Aus europäischer Sicht sollten amerikanische Nuklearwaffen wie in den 50er Jahren und auch heute noch als "Stolperdraht" zur Auslösung des Einsatzes strategischer US-Waffen dienen.

Im Prinzip geht es bei dieser Art europäischer Abkoppelungsneurose nur darum, die USA wider Willen in den strategischen At0mkrieg mit der UdSSR zu zwingen.

In Wahrheit jedoch sind die "liebevollen'' proamerikanischen Erklärungen mit der Bitte um Stationierung der amerikanischen Nuklearwaffen nichts anderes als eine versteckte Misstrauens Erklärung gegenüber den USA und Ausdruck des Zweifels an der Zuverlässigkeit des amerikanischen Bündnispartners.

Bei kritischer Überlegung müßte man eigentlich zu dem Schluß kommen, daß nicht diejenigen antiamerikanische Vorurteile haben, die zuweilen bestimmte Aspekte der amerikanischen Politik kritisieren, sondern diejenigen, die in einem eilfertigen Proamerikanismus um amerikanische Nuklearwaffen betteln, weil sie den amerikanischen Freunden nicht trauen. Auf der anderen Seite haben Nuklearwaffen aus der Sicht der USA in Europa objektiv eine andere militärische Funktion als für die Europäer:
Die USA haben kein (auch kein theoretisches) Interesse, in einen Atomkrieg hineingezogen zu werden. Die jetzige und frühere Administration hatte jedoch stets Konzeptionen entwickelt, um die amerikanische Nuklearstrategie zugunsten flexibler und selektiver Schadensbegrenzungs- und "Kriegsführungsoptionen'' zu erweitern. Insofern verfolgen die USA in ihrer Streitkräfteplanung das Ziel, jeder Aggression oder massiven Beeinträchtigung amerikanischer Interessen auf allen denkbaren Ebenen der militärischen Gewaltanwendung effektiv begegnen zu können, ohne in eine unkontrollierte und daher politisch wie militärisch unglaubwürdige Eskalation einzuleiten. Dies ist das amerikanische Interesse an der Flexible Response. Dies ist aber für Europa angesichts der sowjetischen Gegenoptionen überhaupt nicht denkbar, bestenfalls für die "Nebenkriegsschauplätze" in der Dritten Welt anwendbar. Die Studie "Discriminate Deterrence" macht dies eigentlich auch deutlich.

Mit anderen Worten: Der Interessengegensatz besteht darin, daß die USA einen möglichen Krieg, auch einen Nuklearkrieg, in und auf Europa begrenzen müssen, während die Europäer ihn möglichst an das amerikanische Territorium ankoppeln wollen, um mit Hilfe der riesigen Nuklearpotentiale der USA abschreckend zu wirken und ihre Ankoppelungsängste zu verdrängen.
Dieser zentrale Widerspruch der Flexible Response und der erweiterten Abschreckung schlechthin konnte jahrelang durch gemeinsame Erklärungen der NATO überdeckt werden.
Seit dem NATO-Doppelbeschluß von 1979, seit den öffentlichen Erklärungen der amerikanischen Administration über den "begrenzten Atomkrieg" Anfang der 80er Jahre und seit den Veröffentlichungen über Pläne der "Defense Guideline" in der amerikanischen Presse ist das Dilemma der Flexible Response in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen.

Im Interesse der politischen Stabilität und der Friedenssicherung in Europa erscheint· mir ein alle westeuropäischen NATO-Mitglieder und die USA bzw. Kanada einbeziehendes Reformkonzept für die NATO für das Prinzip gemeinsamer Sicherheit und die Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik erfolgversprechender . als eine stark militärisch ausgerichtete deutsch-französische Kernmacht, wie sie konservative Sicherheitspolitiker anstreben.

Die europäischen NATO-Verbündeten und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland können sich nicht mit dem Stichwort ''deutsch-französische Zusammenarbeit" an der Notwendigkeit vorbeimogeln, · ein langfristiges Reformkonzept für die NATO zu entwickeln. Dabei wären folgende Aspekte zu berücksichtigen:
- Die NATO sollte ein Konzept der gemeinsamen Sicherheit mit dem Warschauer Pakt entwickeln. Ausgangspunkt dafür ist das im Harmel-Report famulierte Ziel einer "gerechten und dauernden Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien.''
- Ein für die inner-westeuropäische Diskussion sensibler Punkt ist die Vermischung von US-nationalen mit den der NATO unterstellten US-Truppen, zumal amerikanische und europäische Sicherheitsinteressen nicht in jedem Fall identisch sein müssen. Dies spielt bei der "Out-of-Area"(Einsätze außerhalb des Geltungsgebietes des NATO-Vertrages) -Debatte eine besondere Rolle. Eine Entflechtung dieser Strukturen könnte antiamerikanische Vorbehalte in Europa reduzieren.

-Ich kenne keine fertige Antwort auf dieses Problem, zumal ein Aufgreifen dieser Diskussion auch in den USA Schwierigkeiten und die Frage auslösen würde, welchen "nationalen Sinn haben die US-Truppen in Europa". Im Zusammenhang mit der Diskussion über "burden sharing" (Lastenteilung), die auch unabhängig von dieser Problematik ausgetragen wird, könnte ich mir eine Lösung vorstellen, allerdings auf der Basis erheblicher Reduzierung der Rüstungslasten insgesamt.

-Sicherheitspolitisches Ziel sollte die Festlegung der NATO und des Warschauer Paktes auf strukurelle Nichtangriffsfähigkeit sein. Dabei könnten folgende Schritte zur Verwirklichung dieses Ziels beitragen:
Sicherheitskorridore bzw. -Zonen durch Auseinanderrücken, Demobilisierung und ·der Abbau von Ungleichgewichten auf ein möglichst niedriges Niveau usw. Damit würde die Abschaffung nuklearer Gefechtsfeldwaffen zu einem realistischen Verhandlungsziel.
 

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