Redebeitrag von Regina Hagen (Kampagne „atomwaffenfrei.jetzt“) für die Hiroshima-Gedenkveranstaltung am 6. August 2017 in Frankfurt

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Deutschland ist in der Pflicht: Atomwaffen abschaffen!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Prof. Gottstein erwähnte in seinem Beitrag die Notwendigkeit, Gedenktage zur Erinnerung zu nutzen, und verwies auf Hiroshima und Nagasaki 1945, aber auch auf den 20. Juli 1944. Ich will ebenfalls den Bogen spannen von Nazideutschland zu Hiroshima und Nagasaki, aber mit einem anderen Fokus.

Das US-Programm zum Bau der Atombombe, das so genannte »Manhattan Project«, war eine Antwort auf die Sorge vieler Wissenschaftler, dass Nazideutschland eine Atombombe baut. Und die Vermutung bestand zurecht, auf die Details kann ich hier nicht eingehen. Nur so viel: Der deutsche Physiker Albert Einstein hatte mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen die Entwicklung angebahnt, die letztlich zur Atombombe führen sollte. Der Nobelpreisträger schrieb am 2. August 1939, also vier Wochen vor dem Überfall Deutschlands auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann, einen Brief an Franklin D. Roosevelt. In dem Brief informierte er den US-Präsidenten von den neuen wissenschaftlichen Durchbrüchen mit dem Element Uran und betonte, „[…] es ist denkbar […] dass auf diesem Wege neuartige Bomben von höchster Detonationsgewalt hergestellt werden können“. (1) Roosevelt setzte daraufhin einen Ausschuss ein, um die Angelegenheit zu prüfen.

Den weiteren Verlauf der Geschichte kennen wir: Deutschland konzentrierte sich statt auf die Atombombe auf die Entwicklung und den Bau von Raketen und schuf unter anderem die V2, die »Mutter« aller heutigen Raketen. Die USA arbeiteten zuerst zögerlich, dann mit Hochdruck und in einem gigantischen Komplex an der Entwicklung und dem Bau von Atombomben und zündeten am 16. Juli 1945, in Europa war der Krieg da schon zwei Monate zu Ende, den allerersten Atomsprengkopf – das war der Trinity-Test.

Am 6. August 1945 war in Hiroshima ein sonniger und heißer Tag. Um 8:15 flog ein einzelner Bomber die Stadt an und warf eine einzige Bombe ab. Sie wurde von der Mannschaft »Little Boy« genannt – kleiner Junge.

Senji Kawai, 15, erlebte die Atombombe im Haus seiner Eltern in Hiroshima, gut einen Kilometer vom Hypozentrum entfernt:

[…] Genau in dem Moment sahen wir ein gleißendes Licht. Dann dröhnte es fürchterlich und unser Haus stürzte ein. Mir kam es vor, als würde mein Körper in eine Form gepresst. Ich nahm all meine Kraft zusammen und kroch auf das Dach. Da sah ich, dass um uns herum alle Häuser eingestürzt waren. Im Tenna, dem nahe gelegenen Fluss, trieben schreiende Menschen, die zusammen mit Fensterrahmen, Möbeln und sogar Pferden fortgerissen wurden. Es war immer noch Morgen, aber trotzdem dunkel wie die Nacht. Irgendwo hörte ich meinen Vater rufen: ‚Senji, komm her und hilf mir, deine Mutter ist eingeklemmt.’ Ich fand mich in den Trümmern unseres Hauses überhaupt nicht mehr zurecht. Also kroch ich zurück unter das Dach und versuchte das Erdgeschoss zu finden.

Meine Mutter lag auf dem Rücken. Ihr linker Arm war unter einem Türrahmen eingeklemmt und der weiße Knochen ragte schon hervor. Sie war ganz blass und still – meine Mutter sah aus, als sei sie tot. In dem Moment glaubte ich, dass sie nicht überleben würde. Mein Vater und ich zogen sie unter dem Rahmen hervor und brachten sie ans Ufer des Flusses hinter unserem Haus. ‚Ich suche jetzt unsere Angestellten! Sieh zu, dass Du mit deinen Freunden hier weg kommst.’ Mit diesen Worten lief mein Vater zurück ins Haus. Plötzlich merkte ich, dass mein jüngerer Bruder neben mir auf dem Boden lag. Er sah zu mir auf und versuchte mühsam aufzustehen. ‚Senji,’ hauchte er. Als er seine Hände nach mir ausstreckte, sah ich, wie die Haut einfach so herunter hing.

Mein Bruder war Schwimmer in der Schulmannschaft. An diesem Tag wollte er eigentlich dabei helfen, Gebäude für die Feuerschneisen zu räumen. Dann hatte er sich aber entschlossen, doch lieber im Fluss schwimmen zu gehen. Er stand gerade auf den Stufen zum Flussufer, als ihn die Hitzewelle traf. Er war damals 13 Jahre alt. Meine Freunde und ich flüchteten mit meinem Bruder nach Mitaki. Sein ganzer Körper war heiß. Er schrie nach Wasser und wollte zum Fluss hinunter. ‚Lass ihn bloß nicht von dem Wasser trinken, sonst stirbt er!’ rief uns ein Feuerwehrmann zu. Ich hatte aber doch sonst nichts für ihn. Am Fuß eines nahe gelegenen Berges behandelte jemand vom Hilfskorps die Verletzten. Ich ließ meinen Bruder deshalb dort zurück und kletterte mit meinen Freunden auf den Berg. Wir waren voller Blut von all den Glasscherben und Bambussplittern, die in den Erdwällen gesteckt hatten. Mittlerweile fiel dicker schwarzer Regen vom Himmel, der immer stärker wurde. Dabei merkte ich, dass mein ganzer Rücken blutete. Zahllose kleine Glasstückchen hatten sich in ihn gebohrt. Das Blut vermischte sich mit dem Regen und mir wurde kalt. […]“ (2)

(Senjis Bruder und Mutter starben. Senji litt sein Leben lang unter den Vernarbungen auf seinem Rücken, bekam Protatakrebs, Herzerkrankungen und andere Spätfolgen der Bombe.)

Drei Tage nach Hiroshima, am 9. August 1945, am späten Vormittag um 11:02 Uhr, lud erneut ein US-Bomber seine tödliche Fracht ab: »Fat Man«, so der Code-Name dieser Bombe, zerstörte Nagasaki. Die dortigen Überlebenden erzählen ähnliche Geschichten wie Senji Kawai.

Solches Grauen darf sich nie wiederholen! Gedenktage sind zum Gedenken da. Wir dürfen es aber nicht dabei lassen, sondern müssen Konsequenzen aus der Erinnerung ziehen. Die kann nur heißen: Nie wieder Hiroshima, nie wieder Nagasaki, wir brauchen eine atomwaffenfreie Welt!

Und hier kommt wieder Deutschland ins Spiel. In Büchel in der Eifel lagern nach wie vor Atomwaffen, vermutlich 20, jede mit der mehrfachen Sprengkraft der Bombe von Hiroshima.

Deutschland beteiligt sich damit aktiv an der so genannten »nuklearen Teilhabe« der NATO.

Die hielt 2010 in ihrem Strategischen Konzept fest: „Der oberste Garant für die Sicherheit der Bündnispartner sind die strategischen nuklearen Kräfte des Bündnisses.“ (Absatz 18, offizielle deutsche Übersetzung) Und auch Deutschland selbst bestätigt im jüngsten Weißbuch (Sommer 2016): „Solange nukleare Waffen ein Mittel militärischer Auseinandersetzungen sein können, besteht die Notwendigkeit zu nuklearer Abschreckung fort.“ (S. 65) Was für ein Blödsinn! Atomwaffen bieten keinerlei Sicherheit, sondern sind „Waffen des Terrors“. (3)

122 Staaten sehen dies genau so und verabschiedeten daher am 7. Juli dieses Jahres den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen«. Dieser verbietet den Mitgliedstaaten Atomwaffen, schreibt aber auch fest, dass es den Mitgliedstaaten untersagt ist, „eine Stationierung, Aufstellung oder Dislozierung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern in seinem Hoheitsgebiet oder an irgendeinem Ort unter seiner Hoheitsgewalt oder Kontrolle zu gestatten“ (Artikel I, Absatz g) – damit ist auch Deutschland gemeint!

Mit Beginn der neuen Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. September liegt der Vertrag zur Unterzeichnung aus. Sobald 50 Staaten ratifiziert haben, wird er für die Vertragsstaaten verbindliches nationales Recht. Aber schon jetzt wurde mit dem Verbotsvertrag neues Völkerrecht geschaffen – und die deutsche Bundesregierung verweigert sich dem einfach. Deutschland war bei den Verhandlungen nicht vertreten und erklärt den Vertrag für schädlich. Das ist kurzsichtig und dumm!

Demnächst sind Bundestagswahlen. Es liegt an uns, dafür zu werben, dass nur Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden, die sich klar und deutlich hinter den Vertrag stellen und sich für den Abzug der Atomwaffen aus Büchel stark machen. Und in Büchel selst gibt es die Möglichkeit zum Protest. Machen Sie mit. Machen Sie sich stark und helfen sie mit:

Deutschland und die Welt müssen atomwaffenfrei werden!

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Russel-Einstein-Manifest von 1955: „Remember your humanity and forget the rest.“ – Erinnert Euch Eures Menschseins und vergesst alles andere!

Danke für’s Zuhören.

 

Anmerkungen:

(1) Otto Nathan und Heinz Norden (Hrsg.) (2004): Albert Einstein. Über den Frieden – Weltordnung oder Weltuntergang? Neu Isenburg: Melzer.

(2) Soka Gakkai International-Deutschland e.V. (Hrsg.) (2015): Das Schweigen brechen – Zeitzeugenberichte aus Hiroshima und Nagasaki. Mörfelden-Walldorf: SGID, S. 49-50.

(3) Weapons of Mass Destruction Commission (2006): Weapons of Terror – Freeing the World of Nuclear, Biological and Chemical Arms. Stockholm.