Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki- Gedenkveranstaltung am 6. August 2020 in Frankfurt

 

- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Guten Abend meine Lieben,

es freut mich sehr, an diesem wichtigen Tag und trotz der widrigen Umstände so viele Menschen hier versammelt zu sehen. Ganz besonders möchte ich denjenigen fiir ihre Anwesenheit danken, für die Bewegungsfreiheit und Teilnahme am öffentlichen Leben in dieser Stadt, insbesondere in den letzten Wochen, nicht immer Selbstverständlich gewesen sind. Danke.

Mein Name ist Robin Jaspert und ich darf am heutigen Tag, dem 75. Tag des Gedenkens an die Opfer des Massenmordes vom 06.08.1945, als Repräsentant von ICAN, der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen mit euch sprechen. Ich möchte mit Euch jedoch nicht nur in die Vergangenheit blicken, sondern vor allem auf die aktuelle Lage und unsere Verantwortung zu sprechen kommen.

Erbe

Doch was bedeutet Verantwortung nach Hiroshima und Nagasaki? Wer ist verantwortlich? Was bedeutet diese Verantwortung auch für mich, ganz persönlich?

Um das besser zu verstehen, möchte ich einen Theoretiker zu Rate ziehen. Als Student der Sozialwissenschaften tue ich das gerne. Aufgrund der Gefahr, damit allen anderen Menschen auf die Nerven zu gehen, werde ich aber versuchen, mich hier kurz zu halten.

Jaques Derrida bezeichnet die Menschen als Erben. Trotz unserer individuellen und oft sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten unterliegen wir einem kollektiven Erbe, welches durch unsere Geschichte bestimmt ist und bestimmt wird. Sei es durch den Kolonialismus, oder das Nationalsozialistische Regime und den Genozid, oder sogenannter Hexenverbrennungen oder durch die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki.

Dieses Erbe tragen wir, ob wir wollen, oder nicht. Wir können allerdings entscheiden, wie wir mit diesem Erbe umgehen wollen. Wir könnten zum einen so tun, als seien dies abgeschlossene historische Akten. Das wäre allerdings ziemlich unsinnig. Zum anderen können wir uns dafür entscheiden, und dafür möchte ich mich aussprechen, unser Erbe anzunehmen, was bedeutet: uns mit diesem auseinanderzusetzen. Die Strukturen und Logiken, welche als Grundlagen für diese Verbrechen dienten zu analysieren und heute verantwortungsbewusst mit diesem Wissen umzugehen. Das bedeutet mit kritischem Blick die heutigen Umstände zu begutachten, sich nicht vor den Kontinuitäten und wiederkehrenden Muster von Rassismus, Faschismus, Sexismus, Militarismus und nuklearer Aufrüstung zu verstecken, sondern diese zu erkennen, zu dekonstruieren und anzugreifen, um Leid, Ausbeutung und Massenmord zu verhindern. Das gebietet uns ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Erbe von Hiroshima und Nagasaki sowie all der genannten Verbrechen.

Historischer Rückgriff

Doch was bedeutet das konkret? Was können und müssen wir für Lehren aus Hiroshima und Nagasaki ziehen?

Zum einen bedeutet dies ganz sicher, dass es einer Gedenkkultur und der Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses bedarf. Immer weniger Zeitzeugen können von ihren Perspektiven berichten. Die Aufgabe diese Massenmorde nicht zu vergessen, geht damit, noch mehr als vorher, an uns als Gesellschaft als Ganzes über. Beispielsweise durch Veranstaltungen wie dieser hier.

Wir, als Gesellschaft, müssen uns mit dem Fakt konfrontieren, dass im Sommer 1945 Harry Truman den Befehl gab, ,,Little Boy" und „Fat Man" über Hiroshima und Nagasaki abwerfen zu lassen.

  • Diese Entscheidung wurde trotz des Bewusstseins getroffen, dass dies den Tod hunderttausender Menschen bedeuten würde.
  • Diese Entscheidung wurde trotz des Bewusstseins getroffen, dass ganze Landstriche auf Jahrzehnte verwüstet und unbewohnbar sein würden.
  • Diese Entscheidung wurde trotz des Bewusstseins getroffen, dass die Abwürfe eine humanitäre Katastrophe auslösen würde.
  • Diese Entscheidung wurde trotz des Bewusstseins getroffen, dass dies nicht bezifferbare und gravierende gesundheitliche Konsequenzen für Generationen von Menschen bedeuten würde.

Trotzdem wurde die Entscheidung getroffen. Trotzdem wurden die Folgen billigend in Kauf genommen.

Diese Entscheidung können wir nur in ihrem Kontext verstehen. Als das Ergebnis einer grauenhaften Periode der Menschheit, in welcher Faschismus und Militarismus das Denken so vieler Menschen auf diesem Planeten bestimmten. Ohne diesen Kontext und die Grauen des zweiten Weltkrieges wäre es niemals zu diesen Morden gekommen.

Kontinuität

Doch können wir es uns leisten, dies Zeit als rein vergangene zu betrachten? Können wir uns sicher sein, dass etwas Derartiges nie wieder passiert? Wo stehen wir heute?

Seit 2017 hat der Faschismus wieder eine Repräsentation im deutschen Bundestag. Autoritäre Systeme und rechte Gruppen und Parteien erstarken seit Jahren und wissen auch die aktuelle Lage für sich zu instrumentalisieren. Weltweit gibt es immer mehr völlig unberechenbare Despoten, meist alte Männer, in Führungspositionen, welche ihnen auch die Kontrolle über den Einsatz von Nuklearwaffen geben. Doch nicht nur scheint das „Nie Wieder!" gegen den Faschismus notwendiger denn je, wir befinden uns auch in einer Epoche massiver Aufrüstung.

Nicht nur durch den Druck Trumps sind die Rüstungsausgaben, insbesondere der NATO-Staaten, in den letzten Jahren massiv gestiegen. Auch die Europäische Union hat nun, entgegen geltender EU­Verträge, ein großzügiges Militärbudget für den mehrjährigen Finanzrahmen eingeplant. Einer der meistgehörten Militaristen Deutschlands, Wolfgang Ischinger, schlägt sogar vor, über das EU-Budget den Aufbau des Nuklearen Waffenarsenal Frankreichs zu finanzieren. Auch dies würde gegen geltendes EU-Recht verstoßen. Militaristen waren jedoch noch nie dafür bekannt, sich mit geltendem Recht aufzuhalten. Hinzu kommt noch, dass in den letzten Jahren die Rechtsgrundlagen für so viele Abrüstungsverträge, zumeist einseitig, aufgekündigt worden sind.

Von einer wiedererstarkenden Spirale von Faschismus und Militarismus zu sprechen, scheint unter den aktuellen Umständen als dringend geboten.

Letztes Jahr

Doch wie stehen wir aktuell da? Wie wird zurzeit mit dem Erbe Hiroshimas und Nagasaki umgegangen?

Ich weiß noch sehr gut, wie ich vor genau einem Jahr, morgens an meinem Schreibtisch im Büro saß, einen sehr leckeren Kaffee getrunken, und Nachrichten gelesen habe. Meine Gefühle dabei waren sehr gemischt. Wie auch heute. Zum einen spürte ich im Gedenken eine große Demut und Beklommenheit. Zum anderen war ich sehr froh, dass dem Tag mit entsprechenden Veranstaltungen und Diskurs gedacht wird. Ich war auch froh, dass die meisten der üblichen Aufrüstungsbefürworter*innen an diesem Tag Ruhe gaben. Selbst Wolfgang Ischinger meldete sich nicht zu Wort.

Über einige Statements war ich extrem froh. Ich erinnere mich besonders an die klare Positionierung des Papst Franziskus: ,,Schon der Besitz von Atomwaffen ist unmoralisch.". Dem kann ich nur zustimmen.

Doch auch Heiko Maas nahm in seiner Tätigkeit als Deutscher Bundesaußenminister an den Gedenkveranstaltungen in Hiroshima teil. Seine Äußerungen führten bei mir allerdings eher zu Übelkeit. Heiko Maas wagte es tatsächlich, sich bei einer Gedenkveranstaltung am Ort des Massenmordes im Namen der Bundesrepublik Deutschland gegen sogenannte „einseitige" Abrüstung zu positionieren. Es bedürfe zur Abrüstung Vereinbarungen auf breiter Basis und nationale Alleingänge seien zu vermeiden. Vielleicht sollte jemand Heiko Maas darüber in Kenntnis setzen, dass ICAN es auf den Weg gebracht hat, dass 07.07.2017 122 der 193 UN-Staaten für einen Atomwaffenverbotsvertrag gestimmt haben. Bis Dato wurde der Vertrag von 82 Staaten unterzeichnet und von 43 ratifiziert. Der Verbotsvertrag verbietet das Testen, Entwickeln, Produzieren, Besitzen, Lagern, Weitergeben sowie vor allem den Einsatz von Atomwaffen.

Noch vor wenigen Minuten gaben Irland, Niue und Nigeria bekannt, den Vertrag ratifiziert zu haben. Wenn dies keine „Vereinbarung auf breiter Basis" darstellt, ist mir leider unklar, wie so eine auszusehen hätte. Gegebenenfalls lasse ich mir das gerne erklären. Auch heute bemängelte Heiko Maas das Stagnieren der nuklearen Abrüstung. Mir ist es wirklich schleierhaft, ob Herr Maas nicht begreifen kann oder will, dass die verantwortungslose deutsche Politik seiner Bundesregierung Mit-Verantwortlich für diese Stagnation ist! Spannend ist natürlich auch, dass die SPD beim letzten Bundestagswahlkampf das Wahlversprechen gab, die nukleare Teilhabe, also die Stationierung von US-Atombomben in Deutschland, zu beenden. Davon merke ich bei Heiko Maas herzlich wenig.

Das, wo wir aktuell stehen meine Lieben, ist das genaue Gegenteil eines verantwortungsbewussten Umgangs mit dem Erbe von Hiroshima und Nagasaki. Das ist eine Respektlosigkeit den Opfern, Hinterbliebenen und Trauernden gegenüber. Ich schäme mich zutiefst, dass diese Position, auch in meinem Namen, in Hiroshima vertreten wurde.

Und nun?

Doch wie gelangen wir zu einem verantwortungsbewussten Umgang? Was sind unsere Handlungsmöglichkeiten? Wie können wir dem Erbe gerecht werden?

Die Kurzfassung lautet: wir müssen die Bundesregierung zwingen, den Atomwaffenverbotsvertrag unverzüglich zu unterzeichnen und zu ratifizieren und die nukleare Teilhabe Deutschlands zu beenden. Nur so und nicht anders sieht eine verantwortungsvolle Atomwaffenpolitik aus Herr Maas.

Ächtung und Abrüstung! Jetzt!

Die Mehrheiten in Deutschland sind dafür vorhanden; sie müssen nur in Regierungspraxis übertragen werden. Einer hochaktuellen repräsentativen Umfrage zufolge sprechen sich 86% der Befragten Menschen in Deutschland klar gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland aus. Nichtsdestotrotz sind nach wie vor im Rahmen der sogenannten Nuklearen Teilhabe US-Atomwaffen in Büchel stationiert. Nichtsdestotrotz plant das Verteidigungsministerium um Frau Annegret Kramp­Karrenbauer die extrem kostspielige Anschaffung von Kampfjets zur Aufrechterhaltung der Teilhabe. Wir sprechen hier über Kosten in Höhe von geschätzten 8 Milliarden Euro. Als Vergleich: Der jährliche Gesamtetat der Goethe-Universität liegt bei ca. 600 Millionen Euro. Wir könnten also für mehr als zehn Jahre eine der größten Universitäten dieses Landes vollständig finanzieren, oder das Geld für Massenvernichtungswaffen unter der Kontrolle eines größenwahnsinnigen Rassisten im Weißen Haus ausgeben. Wer bei dieser Wahl auch nur eine Sekunde die Anschaffung der Jets für die richtige Wahl hält trägt, in meinen Augen, keine politische Verantwortung und sollte entsprechende Posten nicht bekleiden.

All dies geschieht zu einer Zeit, in der die Gesellschaft und die Wirtschaft nicht nur dieses Landes am Boden liegen, fast 10.000 Menschen hierzulande und weltweit geschätzte 700.000 Menschen am Coronavirus verstorben sind, abertausende ihre Arbeitsplätze und damit die Grundlage ihrer Existenz in unserer Gesellschaftsform verloren haben.

Eindeutiger ließe sich die Verantwortungslosigkeit der Aufrüstung nicht unter Beweis stellen.

Um diesen Wahnsinn zu beenden, fordern wir die Stadt Frankfurt, also insbesondere den Magistrat und die Stadtverordneten, auf: unterzeichnen Sie den von ICAN und den Mayors for Peace auf den Weg gebrachten Städteapell an die Bundesregierung; übertragen wir den Willen der Bevölkerung in konkrete Abrüstungspolitik!

Weiterhin fordern wir von der Bundesregierung:

  • Stoppen sie die Anschaffung der neuen Atombomber!
  • Beenden Sie die Nukleare Teilhabe!
  • Unterzeichnen und ratifizieren Sie den Atomwaffenverbotsvertrag!

Wir fordern nicht mehr als Verantwortung: Zeigen Sie Verantwortung gegenüber den Opfern Hiroshimas und Nagasakis, derer wir an diesem Tag gedenken.

Doch Verantwortung beginnt nicht bei der Bundesregierung. Sondern hier. Bei uns. Zeigen wir Verantwortung, nehmen wir das Erbe an, schaffen wir gemeinsam eine Welt frei von Faschismus und Militarismus. Beenden wir gemeinsam die nukleare Bedrohung.

Danke.

 

Robin Jaspert ist ICAN-Botschafter.