Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2022 in Frankfurt

 

- Sperrfrist: 6.8., Redebeginn: 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Vielen Dank an die Organisator*innen für die Einladung, beim diesjährigen Hiroshima-Gedenken hier an der Paulskirche zu sprechen. Und vielen Dank an Euch, an Sie, die heute hierher gekommen sind, um an der Abwürfe von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki vor 77 Jahren zu gedenken.

Vor 77 Jahren!

António Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, sagte zu Beginn dieser Woche in New York: „Die Menschheit ist in Gefahr, die Lektionen zu vergessen, die in den grauenerregenden Feuern von Hiroshima und Nagasaki geschmiedet wurden.“1 Anlass war der Auftakt der vierwöchigen Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages, die noch bis 26. August dauert.

Vor wenigen Wochen, anlässlich der ersten Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag, sagt Guterres dies:

„Atomwaffen sind eine globale Geisel. Eine tödliche Ermahnung an die Unfähigkeit der Länder, ihre Probleme durch Dialog und Zusammenarbeit zu lösen. Diese Waffen machen falsche Versprechen für Sicherheit und Abschreckung – dabei garantieren sie nur Zerstörung, Tod und ein endloses Spiel mit dem Feuer.

Heute verblassen die Lehren von Hiroshima und Nagasaki aus dem Gedächtnis. Die einst undenkbare Aussicht auf einen mit Atomwaffen ausgetragenen Konflikt ist inzwischen wieder in den Bereich des Möglichen gerückt.“2

Neues Wettrüsten mit Atomwaffen

Im Bereich des Möglichen lag ein Atomkrieg allerdings, seit das Nuklearzeitalter begann. Wäre ein Atomkrieg undenkbar, so würden nicht neun Staaten jedes Jahr Unsummen für Atomrüstung bereitstellen.

Die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) berechnete, dass die Atomwaffenstaaten im vergangenen Jahr -also noch vor dem Ukrainekrieg – 82,4 Mrd. US$ für Atomwaffen ausgaben, das sind mehr als 156.000 US$ pro Minute.3 156.000 US$ pro Minute! Die neun Atomwaffenstaaten gaben vergangenes Jahr pro Minute so viel Geld für Atomwaffen aus, wie drei Krankenschwestern in diesem anstrengenden Corona-Jahr bei uns verdienten!

Und da sind die Ausgaben anderer Länder noch nicht mal dabei, zum Beispiel die von Deutschland getragenen Kosten für den Ausbau des deutschen Fliegerhorstes Büchel, auf dem immer noch bis zu 20 US-Atombomben für den Einsatz bereit stehen. Die vielen Milliarden, die Deutschland für neue F35-Kampfjets ausgeben will, um diese Atomwaffen ins Ziel zu bringen. Die Kosten für die Wartung und den Betrieb dieser Jets, oder für die Ausbildung und das Training der Piloten, die die Jets fliegen, und für den Betrieb des Fliegerhorstes ...

Ein Großteil dieser 82 Mrd. US$ fließt in die Aufrüstung der Atomwaffenarsenale. Ich will einige Beispiele nennen:

  • In China werden in der Wüste momentan zwei neue Silofelder für Atomwaffen gebaut. Diese könnten nach Fertigstellung, so die Analyse von Experten, zur Stationierung von etwa 200 neuen Interkontinentalraketen dienen. China baut neue Atomsprengköpfe,entwickelt neue Raketen, arbeitet an Hyperschallwaffen und stellt neue Atom-U-Boote in Dienst.
  • Großbritannien überholt sein komplettes Atomwaffensystem: neue U-Boote, neue Raketen, neue Sprengköpfe. Und es hat die Zahl seiner einsatzbereiten Atomwaffen nach vielen Jahren wieder erhöht.
  • Nordkorea arbeitet an der Verbesserung seiner Atomraketen und -sprengköpfe und bereitet momentan offenbar einen neuen Atomwaffentest vor.
  • Die USA arbeiten an neuen Raketen, an Hyperschallwaffen und an neuen Sprengköpfen. Einer der neuen Atombombentypen, die B61-12, soll im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO unter anderem auch in Deutschland stationiert werden, auf  em Fliegerhorst Büchel.
  • Von den Neuerungen in Russland hören wir aktuell am meisten. Hyperschallwaffen, neue Atom-U-Boote, eine atombetriebene Unterwasserdrohne, die gegnerische Küsten bedroht, neue Raketentypen ...

Auch Frankreich, Israel, Indien und Pakistan beteiligen sich an diesem weltweiten Wettrüsten.

Abrüstung geht uns alle an

UN-Generalsekretär Guterres sagte in seiner bereits erwähnten Rede vor der Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbot: „Abrüstung geht uns alle an, weil das Leben selbst uns alle angeht.“ Abrüstung geht uns alle an, und es ist keine Option, bei dem Thema auf deutsche Politikerinnen und Politikern zu vertrauen. Die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, war vor wenigen Wochen zu Besuch in Nagasaki und sprach dort auch mit Überlebenden. Darauf verwies sie in ihrer Rede am Montag bei der Konferenz zum Nichtverbreitungsvertrag. Sie betonte, der Nichtverbreitungsvertrag sei nicht nur ein Stück Papier, sondern verpflichte dazu, auf das Ziel der atomwaffenfreien Welt hinzuarbeiten. Nur leider zieht sie daraus keine Konsequenzen, wirft Deutschland nicht sein Gewicht in die Schale, um diesem Ziel näher zu kommen. Vielmehr werden neue Atombomber gekauft und die nukleare Abschreckungsdoktrin der NATO bestätigt. Mutige Schritte hin zur Abrüstung sind das nicht, und es besteht kein Zweifel daran: Nukleare Abschreckung beruht auf der Bereitschaft, Atomwaffen im Ernstfall einzusetzen. Sonst macht die ganze Doktrin keinen Sinn.

Der UN-Generalsekretär nahm heute an der Gedenkfeier zum Atombombenabwurf in Hiroshima teil und sagte: „Die Führer [der Staaten] können sich nicht vor ihrer Verantwortung wegducken. Meine Message an sie ist einfach: Nehmt die nukleare Option
vom Tisch – für immer. Es ist Zeit für die Proliferation von Frieden. Beherzigt die Botschaft der Hibakusha: »Nie wieder Hiroshima! Nie wieder Nagasaki!«4

Sie wundern sich vielleicht, warum ich als roten Faden für diese Rede ausgerechnet Zitate des UN-Generalsekretärs gewählt habe. Viele andere Zitate wären denkbar, zum Beispiel von Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki oder von Betroffenen der Atomwaffentests im Pazifik, in den Wüsten von Algerien, Kasachstan, der USA und an anderen Orten.

Ich habe mich bewusst für Zitate des UN-Generalsekretärs entschieden. Selten zuvor war die Ohnmacht der Akteure innerhalb der Vereinten Nationen so augenscheinlich wie heute. Die Ohnmacht, das umzusetzen, was oberstes Mandat der Vereinten Nationen ist, nämlich „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“.5Schließen möchte ich aber mit einem Zitat aus der heute von Kazumi MATSUI, dem Bürgermeister der Stadt Hiroshima, abgegebenen Erklärung zum Jahrestag des Atombombenabwurfs: „Gemeinsam mit Nagasaki und gleichgesinnten Menschen überall auf der Erde geloben wir, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Atomwaffen abzuschaffen und den Weg vorzuzeichnen zum dauerhaften Frieden auf der Erde.“6

Ich danke Ihnen und Euch für’s Zuhören.

 

Regina Hagen ist Mitglied des Darmstädter Friedensforums und eine Sprecherin der Kampagne „Büchel ist überall! Atomwaffenfrei.jetzt“ (www.atomwaffenfrei.de)

 

Anmerkungen:

  • (1) United Nations: The Secretary-General – Remarks to the Tenth Review Conference of the Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, 1 August 2022, 10:00 a.m..
  • (2) United Nations: Secretary-General’s video message to the Opening of the First Meeting of States Parties to the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons. 21 June 2022.
  • (3) International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN): 2021 Global Nuclear Weapons Spending. June 2022.
  • (4) United Nations: Secretary-General's remarks at the anniversary of the atomic bombing of Hiroshima. 6 August 2022.
  • (5) Erster Absatz der UN Charta vom 26. Juni 1945.
  • (6) Hiroshima City: Peace Declaration, 6. August 2022.