Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2022 in Viersen

 

- Sperrfrist: 6.8., Redebeginn: 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

die Situation hier in der Fußgängerzone, auf dem Lambertiplatz, ist ein Sinnbild für die Situation, in der wir leben. Wir spüren natürlich, dass sich vieles verändert, Preise steigen, manche Sorgen werden größer, Zukunftspläne werden mit Vorbehalt gemacht. Und doch gehen wir weiter dem Tagesgeschäft nach: essen, trinken, reden, kaufen ein, planen, treiben im Strom des Alltags. Mitten da drin wollen die Veranstalter*innen heute zu einer Zeit des Innehalten und des Gedenkens einladen.

Wir sind wieder versammelt, um an die Atombombenopfer zu denken. Wir trauern um sie alle. Und wir können weiterhin froh sein, dass seit 1945 keine weiteren direkten Opfer hinzu gekommen sind. Indirekte Opfer zum Beispiel durch Strahlenschäden kommen leider ständig hinzu.

Im letzten Jahr haben wir uns bei der Gedenkveranstaltung hier an dieser Stelle über den Atomwaffenverbotsvertrag gefreut. Und wir können uns immer noch über ihn freuen, denn in diesem Jahr hat die erste Konferenz der Vertragsstaaten stattgefunden, das heißt der Staaten, die den Vertrag unterschrieben und ratifiziert haben. Diese Vertragsstaatenkonferenz ist am 23. Juni in Wien zu Ende gegangen und hat eine Reihe guter Beschlüsse gebracht und die Teilnehmer*innen begeistert nach Hause fahren lassen.

Der Präsident der Konferenz, der österreichische Botschafter Alexander Kmentt, schloss das Treffen mit den Worten: „Während alle Indikatoren für Atomwaffen in die falsche Richtung weisen, zeigen wir ganz klar in die richtige Richtung“. Die Staatenkonferenz, die von 21. bis 23. Juni 2022 bei den Vereinten Nationen in Wien stattfand, endete nach drei langen Sitzungstagen mit Standing Ovations. Ihre Ergebnisse lassen sich durchaus als Erfolg bezeichnen: Durch die Verabschiedung eines Aktionsplans mit konkreten Maßnahmen ebnete die Konferenz den Weg für eine konstruktive Umsetzung des Atomwaffenverbots.

Aber leider müssen wir in diesem Jahr auch sehr traurige Entwicklungen miterleben: Den Ukrainekrieg und die Verhärtung zwischen verschiedenen Kontrahenten - ganz aktuell zwischen USA und China. Wir erleben eine massive militärische Aufrüstung und die Verfeindung zwischen Bevölkerungen verschiedener Länder, wir sehen Hunger und Armut im sogenannten globalen Süden.

Mir persönlich ging es sehr schlecht in der Zeit kurz vor und erst recht nach dem 24.2.22, dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Ich habe danach angefangen, Nachrichten zu vermeiden, denn fünf Minuten Nachrichten ergaben fünf neue Schreckensmeldungen. Ich habe angefangen, mich mit Filmen mit Happyend abzulenken, insbesondere vor dem Einschlafen. Ich habe mich mit den Erkenntnissen aus Psychologie und Soziologie beschäftigt, die bestätigen, dass wir Menschen auf Kooperation angelegt sind und dass der Krieg nicht in unseren Genen liegt. Das hat mir Trost gegeben.

Nach einigen Wochen - ich erinnere mich noch an den Moment - spürte ich, wie ein Stück Normalität in mein Gefühlsleben zurück kam und ich kurz den Ukrainekrieg vergessen hatte. Eine zwiespältige Erfahrung: Ich fühlte mich entlastet, hatte aber auch ein schlechtes Gewissen.

Jetzt leben wir irgendwie wieder weiter im Schatten der Bedrohung - und das ist auch gut so. Schließlich sollten wir als Friedensbewegte nicht gelähmt verharren, denn wir sind gefragt, auf die Ereignisse und die politischen Entscheidungen zu reagieren und unsere Stimme zu erheben.

Aber was können wir sagen?

  • dass wir haben uns geirrt haben und nicht mit dem russischen Angriff gerechnet haben?
  • das wir recht hatten mit den Warnungen vor der Kündigung von internationalen Verträgen, vor Aufrüstung, Manövern, Militärbündnissen?
  • dass Aufrüstung und Sicherheitslogik auf Kosten anderer versagt haben und die Menschheit in diese schreckliche Situation gebracht haben?
  • dass die Friedensbewegung versagt hat, weil sie sich nicht energisch und nicht geschickt genug für den Frieden eingesetzt hat?

Das sind widersprüchliche Gedanken und Gefühle und in mir ist von allem etwas.

Wie mache ich jetzt weiter? Ich will gegen die Resignation angehen und daran festhalten, dass Menschen zur Kooperation fähig sind, um den Lauf des Lebens auf diesem Planeten so lange und so glücklich wie möglich zu gestalten.

Ich komme zurück zu den Atomwaffen. Schon seit über 70 Jahren protestieren Menschen wie wir gegen den atomaren Wahnsinn. Sie haben den Weg frei gemacht für die großen Abrüstungswellen in den 90er Jahren. Es war nur eine Handvoll von Aktivist*innen aus der ganzen Welt, die mit ICAN, der Internationalen Kampagne für die Abschaffung der Atomwaffen erreicht haben, dass die große Mehrheit der Staaten das Atomwaffenverbot beschlossen haben, trotz Druck durch die Atommächte.

Aber je länger der Krieg in der Ukraine dauert und je mehr die Spannungen zwischen USA und China eskalieren, desto höher ist die Gefahr, dass Atomwaffen eingesetzt werden. Sei es durch den absichtlichen Einsatz, durch Missverständnisse oder durch Fehler in den technisch komplexen Frühwarnsystemen, wie sie in der Vergangenheit schon mehrfach vorgekommen sind. 

Diese Woche begann in New York die Konferenz zum Atomwaffen-Nicht-Verbreitungs-Vertrag (NVV). Antonio Guterres, der UN-Generalsekretär sagte am 01.08.2022 vor Staats- und Regierungsvertreter*innen von Ländern mit und ohne Atomwaffen:

„Die Krisen - mit nuklearen Untertönen - schwelen: vom Nahen Osten und der koreanischen Halbinsel bis hin zu Russlands Einmarsch in der Ukraine. Die Wolken, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges verzogen hatten, ziehen wieder auf. Wir haben bisher außerordentliches Glück gehabt. Aber Glück ist keine Strategie. Es ist auch kein Schutz vor geopolitischen Spannungen, die in einen nuklearen Konflikt übergehen. Heute ist die Menschheit nur ein Missverständnis, eine Fehlkalkulation von der nuklearen Vernichtung entfernt."

Wie kann es sein, dass die Angst sich trotzdem wieder etwas beruhigt hat?

Bill Williams, der 2006 in Australien ICAN, die bereits erwähnte Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, gegründet hat, hat gesagt:  „Es ist eine riesige Selbstzensur, ein Mantel aus Schweigen. Das ist nicht verwunderlich. Niemand, der geistig gesund ist, möchte seine Träume durch diesen ultimativen Horror belasten“.

Es ist unsere kollektive Verdrängung und unser „was wir uns nicht vorstellen können, wird auch nicht passieren“, die es ermöglichen, dass auch unsere deutsche Regierung immer mehr Waffen an die Ukraine liefert, ohne zu erklären, wie sie die Eskalation zum Atomkrieg verhindern kann.

Welche anderen Möglichkeiten haben wir, mit großen Gefahren umzugehen außer sie zu verdrängen?

Wir können dankbar genießen, was wir haben und daraus die Kraft ziehen, unsere Zeit und unsere Gaben sinnvoll zu nutzen. Wir haben eine Verantwortung der jüngeren Generation gegenüber, unsere Kraft und unsere Visionen mit ihnen zu teilen.

So wie die humanitären Bewegungen vor uns, die Bewegungen zur Abschaffung von Sklaverei und Folter oder für Frauen- und Kinderrechte kann auch diese Bewegung unaufhaltsam werden. Gemeinsam können wir die größte akute Bedrohung für unser Überleben neben der Klimakatastrophe überwinden.

Dabei werden wir viele Freunde und Freundinnen finden. Immer mehr Menschen von überall auf der Welt und aus allen Religionen und Bewegungen schließen sich ICAN an: Von humanitären Organisationen über Umweltverbände bis zu Aktivist:innen für Menschenrechte und Gender-Gerechtigkeit.

Sie alle vereint die Überzeugung, dass Atomwaffen alles bedrohen, was wir lieben und dass Sicherheit niemals durch Drohung mit Massenmord erreicht werden kann.

Auf unserem Weg werden wir das herrschende Verständnis von Sicherheit verändern, hin zu einer menschlicheren Sicherheit, die Grenzen überwindet und Raum für alle schafft.

Die Bewegung für das Atomwaffenverbot hat die Vereinten Nationen schon jetzt demokratischer gemacht und gestärkt. Und eine starke Gemeinschaft brauchen wir, um auch den anderen existentiellen Krisen unserer Zeit zu begegnen.

Lasst uns die Verdrängung beenden, denn wir müssen keine Angst haben:

Wir stehen auf den Schultern unzähliger starker und schwacher Menschen vor uns, die, gerade wenn die Nacht am tiefsten war, nicht aufgegeben haben.

Die heute vorherrschende Sicherheits- und Machtlogik führt zu spiegelbildlichen Beschuldigungen: Jede Seite erklärt, dass sie gegen Nazis oder faschistoide Kräfte kämpft, während sie sich gegenseitig bekämpfen. Jede erklärt, dass Krieg und Eskalation absolut unvermeidlich sind und es daher die größte Sünde sei, Appeasement zu betreiben und der anderen Seite entgegen zu kommen. Beide behaupten, dass der Kampf rein defensiv/verteidigend sei, und doch erfordert diese Verteidigung endlose Kämpfe mit dem Ziel der Kapitulation des Aggressors oder zumindest seiner nachhaltigen Schwächung. Ein Zermürbungskrieg gegen Russland wird furchtbar lange dauern - bis dahin ist die ganze Welt zermürbt.

Das Konzept der Friedenslogik beinhaltet dagegen den Blick auf das Große Ganze, auf das Überleben auf dem Planeten anstatt sich auf die nationale Sicherheit zu beschränken. Es konzentriert sich auf Prävention, sieht den eigenen Anteil und die eigene Verantwortung, Friedenslogik übt Selbstkritik, sucht Kooperation durch vertrauensbildende Maßnahmen, Kommunikation auf Augenhöhe. Sie deeskaliert, erkennt legitime Interessen an, schließt und erfüllt multilaterale Abrüstungsverträge. Friedenslogik fördert zivilgesellschaftliche Kontakte und mindert innergesellschaftliche Gewalt.

Das Atomwaffenverbot passt da sehr gut rein, seine Perspektive ist die der „Kleinen“, der kleinen Staaten, der unbewaffneten Zivilgesellschaft, der Schwächeren, der Kinder. Was brauchen sie, worunter leiden sie, aber auch, was können sie beitragen für den Frieden?

Auch und gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen sage ich

  • Keine Atomwaffen, nicht in Büchel oder Kaliningrad oder North Dakota oder sonst wo
  • Keine atomwaffenfähigen F-35-Bomber und keine anderen Rüstungsprojekte
  • Sondern friedenslogische Ansätze und engagierter Einsatz für Verhandlungen
  • Abbau gesellschaftlicher Spannungen und Ungerechtigkeiten
  • Klimaschutz durch Frieden
  • Lebensrecht für alle Bewohner*innen dieses Planeten heute und in Zukunft

 

Dr. Susanne Grabenhorst ist aktiv bei der der IPPNW Regionalgruppe Mönchengladbach-Viersen.