Kundgebungsbeitrag von Rolf Siedler für den Ostermarsch Ellwangen am 31. März 2018

 

UNTERBRECHUNG XVII / 2017

Liebesbrief an die Demokratie

 

UNTERBRECHUNG XVII / 2017

Der Mensch ist nicht schlecht

Hebt die Köpfe, nicht die Hände!

Hebt die Köpfe …
nicht die Hände
schaut durch die Ritzen hinaus ins Weite … ins Weite …
ermuntert euch gegenseitig, so dass der Mut immer etwas größer sei
als die Angst
beugt euch nicht der Diktatur des Durchschnitts
gewöhnt euch nicht an die Lügen
und seien sie noch so schön verpackt
stellt munter Fragen …
äußert eure Zweifel …
Wie ist das nun mit den „alternativen Fakten?“ – ihr widerlichen Narzissten?
Wie habt ihr es mit der Wahrheit?
Der Zweifel ist der Anfang der Demokratie!

Von den Türstehern der Gewalt lasst uns nicht beeindrucken
… und auf ihr Niveau sollten wir niemals sinken
uns vor allem nicht sprachlos machen
uns nicht tatlos und mutlos machen
… Gewöhnung und Gleichgültigkeit sind zwei furchtbare Schwestern!

Es ist eine gute Zeit für Utopien.
Es ist eine gute Zeit, sich zu engagieren …
die Demokratie hat nur eine dünne Haut!
Lasst uns also anfangen
… oder weitermachen
… oder neu starten

Überall wird man die Spuren der Hoffnung entdecken
Spuren des Erwachens
von West bis Ost
von Nord bis Süd
Friedensfrauen in Israel, die sich zu einem gigantischen Marsch formieren,
die ein Friedensabkommen mit ihren palästinensischen Schwestern unterzeichnen
Swetlana Ganuschkina in Russland,
die unermüdlich Rechtsschutz gibt,
Basseku Koyate und Ngoni Ba, die gegen die Gewalt in Mali ansingen,
Jamako – lasst uns zusammenkommen
die Redakteure von Cumhyriet
Weißhelme in Aleppo
Kirchenmenschen und Gewerkschafterinnen auf allen Kontinenten,
die sich zusammentun …
Engagierte in allen Ländern, in Städten und Dörfern
in Vesperkirchen, Umweltverbänden, Weltläden, in Betriebsräten und politischen Gremien,
in Einrichtungen, Firmen, in der Nachbarschaft, wo auch immer.
Verantwortung ist die Lebensader der Demokratie.
Macht euch auf den Weg, zeigt, dass ihr gehen könnt,
und wo alle Ja sagen, sagt mal Nein.
Und umgekehrt.
Hebt die Köpfe … nicht die Hände.

Vergesst bei all dem das Schmunzeln nicht.
Den verwegenen Humor.
Das schrille Lachen.
Das muntere Augenzwinkern.

Denn der Mensch ist nicht schlecht
wenn man ihn nur richtig zubereitet.

Das lässt der italienische Autor Stefano Benni
einen Bären mit einem feinen Augenzwinkern sagen (den Mund lecken!)
Beweisen wir es den Bären, dass es so ist.

Der Mensch ist nicht schlecht,
wenn man ihn nur richtig zubereitet.

Jeder darf das auf seine Weise tun.
A mi manera.
My way.

 

* * *

Liebesbrief an die Demokratie

Gute Freundin,
wir waren gewohnt, offen miteinander zu reden. Offen und direkt.
In letzter Zeit aber ist es sehr still geworden zwischen uns.
Irgendetwas ist passiert. Ich weiß nicht, was.
Und ich habe Angst, dass wir uns aus den Augen verlieren.

Ich bin mit Dir groß geworden. Es war immer selbstverständlich, dass Du da warst.
Es war immer selbstverständlich. Du hast die Freiheit geliebt so wie ich,
Du hast an Thronen gerüttelt, Du warst ein Teil von mir.
Und wenn ich an manchen Tagen vor Selbstmitleid gebläht
mich über die Trostlosigkeit der Welt hergemacht habe,
dann warst Du es, der mir mit wunderlichen Sprüchen eine Schneise
in mein düsteres Weltbild geschlagen hat.
Und mir blieb meistens nichts anderes übrig als zu schmunzeln.
“Schlafzimmer und Gerichtssäle sind die einzigen Orte,
an denen man über die Wahrheit nicht lachen kann”
meintest Du dann trocken.
Oder: “Nur eines zählt: reif werden ohne verspeist zu werden.” (Jürgen Groß)
Also unternimm was! Du brauchst eine Obergrenze für Dein Selbstmitleid!

Ich würde gerne mit Dir jetzt am Küchentisch darüber lachen so wie früher.
Aber mir ist, als ob ein dunkler Faden in Dir zu arbeiten begonnen habe.
Du bist so dünnhäutig geworden.
“Es sind die Steine, die durch die Fenster fliegen”, sagtest Du beim letzten Mal.
Mir wurde plötzlich klar: Du bist nicht so stark, wie ich dachte,
nichts ist selbstverständlich, das Vertraute kann schnell dahingehen …
sag: hab ich Dich verletzt? Hab ich mich nicht genug um Dich gekümmert?
Von welchen Steinen sprichst Du … ?
Meintest Du den Shitstorm der Anonymen,
der stetig anschwillt, meintest Du die Respektlosigkeit, die sich berauscht bis zur Benommenheit?
Hättest Du von mir etwas anderes erwartet?

“Die meisten Hoffnungen werden lebendig begraben”
Mit diesen nüchternen Worten gingst Du weg.
Ich bin zusammengezuckt, hab mich aber nicht getraut zu fragen. Heute tut es mir leid.
Ich glaube, ich hatte Angst vor der Wirklichkeit.
Hatte Angst, den Schleier von meinem schön inszenierten Paradies zu ziehen.
Hatte Angst, dass die Wolke des Nichtwissens mir keinen Schutz mehr gewährt.
Ernüchterung ist offensichtlich nicht weniger ansteckend als Begeisterung.

Glaub mir, ich habe viel gegrübelt. Ich fühle mich verantwortlich.
Die Steine, die auf Dich zielten, sind auch in mein Haus gefallen.
Sag mir, was ich, was wir für Dich tun können.
Jetzt wo klar ist, dass nichts selbstverständlich ist.
Ich will nicht, dass wir uns verlieren. Eine Welt ohne Dich, ist leer.
Sei umarmt meine Freundin, sei umarmt meine gute Freundin Demokratie!
Deine

 

© Rolf Siedler