Redebeitrag für den Ostermarsch in Essen am 9. April 2023

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Osterradlerinnen und -Radler !

Ich habe Erfahrung mit Militär, und deshalb mag ich Marschieren nicht. Wie auch Uniformen, die heute nicht zu unserem bunten, zivilen Zug gehören. Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid.
Werner Strahl heiße ich, bin seit vielen Jahre begeisterter Kinderarzt hier in Essen und soll hier nun reden an einem schönen Ostersonntag. Das fällt mir nicht leicht. Heute auf dem Hirschlandplatz mache ich halt so etwas wie öffentlichen ärztlichen Notdienst und rede über  Krankheiten der Erde. Wie in der Praxis muß ich feststellen, daß  Medikamente nur schwer zu bekommen sind.
Ich bin Mitglied verschiedener Facharztverbände. Für uns sind heute sind die IPPNW und Cap Anamur von Bedeutung. Beide wurden vor über 40 Jahren gegründet, um die Krankheit Krieg zu behandeln oder besser mit Prophylaxe zu vermeiden bevor sie zur Pandemie, dem Weltkrieg ausartet.
Als alter Mann habe ich viele persönliche Erfahrungen zum Thema gesammelt, die ich Ihnen mit auf die Radstrecke nach Herne mitgeben will.
Am Ende des 2.Weltkrieges kam ich im russischen Kaliningrad, dem früheren Königsberg zur Welt und wurde schon als Säugling durch Bomben zum Flüchtling. Erlebte das Wirtschaftswunder aber auch den „Kalten Krieg“ vom Rand des Ruhrgebietes, den beängstigenden Mauerbau in Berlin. Beim Abriß der Mauer machte ich freudig mit Hammer und Meißel mit. Willy Brandt und Michael Gorbatschow, Perestroika und Glasnost zeigten wie Leuchttürme die Richtung zu Frieden und Verständigung. Daß die Nato sich auf Wunsch der vom Joch befreiten Ostblockstaaten nach Osten ausdehnte fand ich nicht gut, aber verständlich.
Mein erstes Experiment zur Prophylaxe des Unfriedens:
Voller Neugier und Abenteuerlust fuhr ich 1994 mit dem Fahrrad von Essen über die russische Exklave Kaliningrad  nach St.Petersburg und um die Ostsee, traf nur freundliche Menschen und war grenzenlos glücklich. Die russische Familie, die jetzt in meinem Geburtshäuschen sehr bescheiden wohnt, ist seither eng mit uns befreundet.
Das zweite und größere Experiment zur Prophylaxe des Unfriedens:
Voll Hoffnung hatten engagierte Essener Bürger nach einer Partnerstadt in Rußland gesucht und fanden Gorki , die wunderschöne Großstadt an Wolga; wie Essen eine Industrie- und Rüstungsstadt. Später bekam sie ihren alten Namen Nishnij Nowgorod zurück. Die städtische Partnerschaft mit Essen war rasch geschlossen. Unter dem Dach unserer Gesellschaft für Deutsch-Russische- Begegnung entstanden vielfache persönliche, kulturelle, sportliche  und politische  Verbindungen. Welch hoffnungsfrohe Zeit!
 Z.B. leisteten 130  deutsche Jugendliche dort bisher schon ein ganzes Jahr Friedensdienst . Sie arbeiteten in Behinderten-einrichtungen und Krankenhäusern. Damit wurden sie zum Modell für den russischen Zivildienst, sehr zum Ärger Putins . In Gegenrichtung kamen russische Studentinnen ein Jahr nach Essen, um Behinderten zu helfen oder Rettungsdienst zu lernen.
Ein Licht des Friedens entzündeten Schüler aus Essen und Nishnij, als sie 2010, dem Kulturhauptstadtjahr unserer Stadt, in russischer Inszenierung Soldatenbriefe aus Stalingrad darstellten. Tiefe Betroffenheit beim dankbaren Publikum.
Nächste, oft traurige Erfahrungen:
Die sammelte ich mit der humanitären Hilfsorganisation Cap Anamur. Vielleicht haben einige diesen Namen im Ohr. Seit über 40 Jahren darf ich dort mitarbeiten. Als Arzt und langjähriger Vorsitzender war ich tätig in vielen Ländern bei Katastrophen, Hunger und Elend aber leider auch kriegerischen Auseinandersetzungen. Zur bitteren Vorgeschichte des jetzigen Krieges gehören die Erfahrungen aus den Befreiungsversuchen von Völkern aus dem Kaukasus.
Der 1. Tschetschenienkrieg (1994-96) unter dem Präsidenten Jelzin, mehr noch der 2. unter Putin (1999-2009) sind entsetzliche Erinnerungen. Die Hauptstadt Grosny wurde dem Erdboden gleich gemacht. Zweimal hatten wir die einzige Kinderklinik Tschetscheniens  nach  kompletter Zerstörung illegal, d.h. ohne russische Genehmigung  wieder aufgebaut, dann wurde sie nach einstündiger Vorwarnung wieder gezielt zerbombt. Wir mußten sie wiedererrichten und sie funktioniert noch heute, leider unter der Terrorherrschaft des Diktators Kadyrow, der mit seinen gefürchteten Truppen jetzt auch brutal gegen die Ukrainer kämpft.
Zweimal durfte ich die Ukraine in Friedenszeiten, wenn auch im Chaos der Oligarchen, zusammen mit unseren Rußlandfreunden bereisen.  Wir trafen nur gastfreundliche Menschen, die auf ihr befreites Land stolz waren.
Für Cap Anamur war ich  2015 und 2017 in der umkämpften Ostukraine, den sog. Prorussischen Volksgebieten Luhansk und Donetzk. Dort fanden wir nur alte, depressiv hoffnungslose Menschen in ihren bescheidenen, oft beschädigten Holzhäuschen. Bei den schweren Zerstörungen waren Kinder und junge Menschen gen Westen oder nach Russland geflohen, so sie konnten.
Unsere medizinische Hilfe galt dem Wiederaufbau eines zerschossenen Krankenhauses und der Notversorgung kranker und alter Menschen. Die sicheren westlichen Gebiete der Ukraine hatten im Vergleich zu Rußland  deutlich höheren Lebensstandard. Ich konnte mich frei bewegen und die riesigen Sonnenblumen- und Weizenfelder bewundern. Der Maidan in Kiew war zum Unabhängigkeits-Platz gestaltet und ohne Hinweis auf behauptetes Nazitum.
Und jetzt, liebe friedensbewegte Freundinnen und Freunde, jetzt wird es ab dem 24.Februar 2022 ganz traurig:
Der monatelange gewaltige Aufmarsch von russischen Soldaten schien mir zwar bedrohlich; als meist optimistischer Mensch hoffte ich aber, das sei nur ein warnendes Großmanöver im Winter. Aber Dauer-Präsident Putin, in Jahren zum Autokraten avanciert, hatte anders entschieden und zum überfallartigen Angriff befohlen, zu seiner „militärischen Spezialoperation“.  Krieg auszusprechen wird stark bestraft, Krieg zu führen aber nicht.
Über die lange Vorgeschichte mit Aufrüstung in Ost und West, mit Vertragsbrüchen, ungeahnten Propagandaschlachten und der Amerika-First-Ideologie hat Euch Bernhard Trautvetter  in Düsseldorf schon berichtet. Putin kommt mit historisch behauptetem und religiös geheiligtem Imperialismus als Begründung für seinen Angriffskrieg. Dieser ist völkerrechtlich immer verboten und somit ein Verbrechen. Das Kriegsrecht verbietet Angriffe auf zivile Ziele wie Krankenhäuser, Schulen, Einrichtungen der Wasser-, Gas- und Stromversorgung etc.. Gewaltmaßnahmen gegen Zivilpersonen wie Entführung, Folter und Vergewaltigung sind zu sanktionieren und dokumentieren.    
 Rußland und die Ukraine, übrigens auch die USA ,haben die Statuten des „Internationalen Strafgerichtshofes“ in Den Haag nicht unterschrieben, wie es 150 andere Staaten machten. Doch können jetzt schon Verbrechen recherchiert und Urteile gefällt werden.
Schon im März 22 forderte der Gerichtshof die sofortige Einstellung der Kampfhandlung und den Rückzug der Truppen auf die Vorkriegs-stellungen und erließ den internationalen Haftbefehl gegen Putin.
Wenn es ausgleichende Gerechtigkeit in der Welt gäbe, müßte George W. Bush ebenso mit Verhaftung rechnen, denn der Nahost-Krieg gegen den Irak war auch ein nicht gerechtfertigter Angriffskrieg.
Fast 14 Monate sterben jetzt schon ungezählte Menschen in der Ukraine. Uns erreichen Berichte des größten und brutalsten Waffengangs in Europa seit dem 2. Weltkrieg. Täglich springt er uns in unseren Wohnzimmern an. Viele können und wollen das nicht mehr sehen, besonders nicht die üblen Propaganda-Behauptungen beider Seiten.
Wir brauchten keine Beweise von der Grausigkeit des Krieges z.B. aus Butscha oder Mariupol. Schon Anfang März 22 brachten wir mit Cap Anamur über Rumänien medizinische. Nothilfe in Krankenhäuser und zu Menschen in Bunker-Notquartieren. Die Ärzte im Krankenhaus Kramatorsk, nahe Bachmut, wo der entsetzliche Kampf zur Zeit zum Stillstand gekommen ist, sind total erschöpft und verzweifelt. Das wird wohl auch noch in einer Woche so sein, wenn die Ukrainer Ostern, ihren höchsten Feiertag,  begehen. Für sie hat das kunstvolle Bemalen von wunderschönen Ostereiern große Bedeutung.
Soldaten die Ihr todmüde seid, werft doch besser Ostereier aus Euren  Gräben, statt Eierhandgranaten und singt Lieder zur Auferstehung aus den Gräben!! Wir haben hier die Kriegsverweigerer zu Schützen!!

Gestatten Sie mir, hierzu ein Jugenderfahrung zu berichten:
Als 18-Jähriger, suchte ich in Frankreich bei Verdun das Grab meines Großvaters. Nach drei langen Wanderwochen über gewaltige Totenfelder war ich endlich am Ziel und war sehr bewegt. Vor Verdun verreckten 1916 in nur 9 Monaten 300 000  Soldaten elendig. Es wäre falsch, sie als Helden zu verehren. Sie sind nur zu beweinen. Ich wurde zum überzeugten Pazifisten.
Monate später, nach dem Abitur meldete ich mich bewußt und kritisch gerade zur Atom-Raketen-Artillerie. Wir bedienten „Honest-John-Raketen“, Sprengkopf mit 5-facher Zerstörungskraft der Hiroshimabombe; Reichweite mit mäßiger Zielgenauigkeit 20 km.
Angenommener Feind war immer der Russe. Mit ihm zusammen hätte uns unsere eigene Waffe getötet und Deutschland verstrahlt. Darüber gab es in der Bunderwehr aber keine Aufklärung. So verließ ich nach 2 Jahren als aufgeklärter Fachidiot und Leutnant den Laden und verweigerte sofort jeden weiteren Dienst am militarisierten Vaterland.
Weiter war ich glücklicher Pazifist im Frieden.
Jetzt bin ich endlich angekommen bei der IPPNW. Das schwierige Kürzel meint „Die Ärztinnen und Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs“.
Zur Hochzeit der Hochrüstung und dagegen der Friedensbewegung wurde diese NGO von Medizinern in Ost und West gegründet. Sie forschten zu und warnten dringend vor Atomgefahren. Bald waren wir in Deutschland 12 000 und international 250 000 Ärztinnen und Ärzte in der ganzen Welt. 1985 erhielten wir den Friedensnobelpreis. Unser Kongreß mit 3000 Medizinern in der Grugahalle hatte das warnende Motto: „Wir werden Euch nicht helfen können“ und diese traurige aber richtige Erkenntnis gilt heute noch, heute, wo wir Damaligen allmählich alt und müde geworden sind.

Erst 1987 führte der INF-Vertrag zwischen Gorbatschow und Reagan zur Vernichtung der landgestützten Mittelstreckenraketen und eröffnete die Chance zu einem „Gemeinsamen Haus Europa“ von Lissabon bis Wladiwostok.
Zum Overkill der Menschheit  blieben noch reichlich strategische und taktische nukleare Bomben. Wir ostermarschierten tapfer gegen Georg W.Bushs mörderisches Verbrechen des Irakkrieges und den mit Deutschland geführten  verhängnisvollen Feldzug gegen die Taliban in Afghanistan.
All das brachte junge, politisch feurige Menschen dazu, endlich wieder antiatomaren Krach zu schlagen: Mit ihrer NGO „ICAN“, der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, erregten sie weltweites Aufsehen. Ihr  großer Erfolg ist der  Atomwaffen-Verbotsvertrag, der von der UN-Vollversammlung vor 2 Jahren mehrheitlich angenommen ist. Auch Lagerung, Transport und Drohung sind untersagt, wie auch jede Hilfe beim Einsatz von Atomwaffen. Der AVV ist gültig, das schert aber nicht die 9 Atom-Mächte, die die Abrüstung verweigern. Auch die USA-Verbündeten,  d.h. alle Nato-Staaten, unterschreiben nicht. Fünf gestatten sogar die Einbunkerung von taktischen, amerikanischen Atombomben und laufen Gefahr, zuerst getroffen zu werden. Es sind Holland, Belgien, Italien und die Türkei sowie leider auch Deutschland. Wir protestieren seit Jahren gegen 20 taktische amerikanische Atombomben, die auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel stationiert sind. Sie werden gerade modernisiert, so daß sie lenkbar sind und ihr Ziel mit der Sprengkraft von 0,3 bis 50 Kilotonnen TNT sicher treffen können, also mit der Stärke von mehr als 3  Hiroshima-Bomben. Den Abwurf trainieren Piloten der jeweiligen Länder. Ihre neu zu bestellenden  35 US-Tarnkappenbomber werden den deutschen Steuerzahler 10 Mrd. Euro kosten.
Alle  deutschen Außenminister seit Guido Westerwelle und auch der Bundestag haben sich für den Abzug der Bomben ausgesprochen, dies aber immer wieder vergessen mit dem fadenscheinigen Argument, man verlöre damit doch die nukleare Teilhabe, also ein Mitspracherecht.
Just darauf berufen sich jetzt Wladimir Putin und sein Befehlsempfänger Lukaschenko bei der Stationierung taktischer A-Bomben in Bjelo-Rußland an der polnischen Grenze. Wir müsssen wirklich Angst haben. Immer noch sind wir beim Atom-Thema der IPPNW:
Jährlich im Oktober beraten hier in der Essener Messe hohe Nato-Militärs, Rüstungsmanager und Politiker über Taktik und Strategie von Atomkriegen. Unser Friedensfreund Bernhard Trautvetter recherchiert und informiert darüber seit Jahren. Seinem persönlichen Protest vor der Grugahalle müssten sich eigentlich viele Gleichgesinnte zur Verstärkung anschließen. Bitte kommt doch im Oktober auch zur Grugahalle, um hochdekorierten, mutigen Offizieren in die verkniffenen Augen zu sehen.
Abschließend muß ich für IPPNW und ICAN warnen vor der Gefahr, die von Kernkraftwerken droht.
An vier Standorten in der Ukraine laufen 15 Kraftwerksblöcke. Während die vier in Tschernobyl seit der Katastrophe 1986 abgeschaltet sind, aber noch 1 Millon Jahre strahlen werden, läuft im Süden mit Unterbrechung das größte AKW Europas bei Saporischschja. Normal sichern 4 Hauptstromleitungen die 6 Blöcke.
Inzwischen funktioniert nur noch eine um wenigsten die Kühlung zu ermöglichen. Sollte sie auch ausfallen, schafft das der Notstromgenerator nur für ein paar Tage, dann der Gau.
Seit März 22 ist das AKW von russischen Truppen besetzt. Sie haben dort  Waffen und Munition gelagert. Mannschaften von Rosatom steuern den Betrieb und zwingen  ukrainische Ingenieure zur Mitarbeit.
Weil um das AKW schon mehrfach geschossen wurde, ist der Chef der internationalen Atombehörde IAEA hatte  in größter Sorge. Er fordert deshalb dringend einen Sicherheitsbereich, um den Gau zu vermeiden.
Internationale Atomexperten stellten die warnenden Doomsday-Wecker von zuvor 5 Minuten jetzt auf 90 Sekunden vor 12! Das ist Wahnsinn, aber der Gau bleibt hoffentlich noch vermeidbar, wenn, ja wenn endlich die Vernunft siegt.
Meine Bitten an Euch:
Bleibt beharrlich und vermehrt Euch für den Frieden. Und unsere Forderung an Kriegsführende und Kriegsfördernde:
Sofortiger Waffenstillstand zur Beendigung des Schlachtens mit Hilfe z.B. von Brasilien, Südafrika, China, Indien und Indonesien Rückzug der Invasoren hinter  die Linien vom 23.2.22 mit Kontrolle durch Blauhelme der UN Ende der Waffenlieferungen Rückkehr der Gefangenen und entführten Kinder Minenräumung und Zulassung humanitärer Hilfe. Verzicht auf den Atomerstschlag, Sicherung der AKWs Vorbereitung sehr intensiver und langer Friedensverhandlungen mit der KSZE Lockerung von Sanktionen und   Wiederaufnahme von Exporten Motto:  Weizen statt Waffen und Gas statt Granaten.
Entschuldigt meine persönlich gefärbten Sätze.
Zu Klima und Hunger und Krieg hat schon Bernhard gesprochen.

Ich danke für Eure und Ihre Geduld, auch meine privaten Gedanken zu hören.
    
Wenn Ihr Zeit und Lust habt, lest den kleinen praktischen Reclam-Band des Philosophen Olaf Müller mit dem Titel:
Pazifismus. Eine Verteidigung.
Und nun wünsche ich Euch allen herzliche Bewegung im Frieden mit dem Zweizeiler:
Mach‘ Oster-Frieden mit dem Rade / dann zieht  Dein Glück vom Kopf zur Wade!

Frohe, friedliche Ostern!!! Und GlückAuf !!

 

Werner Stahl ist Kinderarzt in Essen und aktiv bei IPPNW und Cap Anamur.