1992 - Um-Schaltjahr

von Uli Merker

Der 12. Oktober 1992 steht für den 500. Jahrestag des Einstiegs in eine neue Ära der Weltgeschichte: Die Eroberung des amerikanischen Kon­ti­nents leitete die Entwicklung des auf struktureller Ungerechtigkeit ba­sierenden Weltmarktes ein.

Mit einer unübersehbaren Fülle und Vielfalt von Aktionen wird das nächste Jahr, das 500. Geburtsjahr dieser kolo­ni­alen Weltordnung übersät sein. Die ei­nen werden sich dabei anerkennend auf die Schulter klopfen und sich gegen­sei­tig bestätigen, wie segensreich doch der Bestand dieser Ordnung für sie war und ist. Die weitaus meisten anderen hinge­gen werden es zum Anlaß nehmen, auf die 500jährige Kontinuität von Un­ter­drückung, Beleidigung, Erniedrigung und Raub in der Öffentlichkeit hinzu­weisen, ebenso wie auf die jahrhunder­telange Tradition des Kampfes und des Widerstandes gegen die weißen Koloni­alherren.

Nicht nur in Lateinamerika - dem Kon­ti­nent, der in seiner Entwicklung am un­mittelbarsten von der Expedition des Genovesers Crist¢bal Col¢n betroffen war und ist -, sondern auch in anderen Teilen der „Dritten Welt“ bereiten sich Gruppen aus verschiedenen gesell­schaftlichen Sektoren darauf vor, den geplanten Selbstinszenierungen der Ko­lonial- und Neokolonialmöchte ei­gene Massenaktionen entgegenzusetzen, die deutlich machen sollen, daß die Ernte dieser 500jährigen Geschichte zu ex­trem ungleichen Teilen eingebracht wurde. Vor allem, was die unabhängige IndianerInnen- und Bauernbewegung anbetrifft, aber auch in den städtischen Volksbewegungen und bei großen Tei­len der Intelligenz bestehen seit gerau­mer Zeit ernsthafte Initiativen, die sich zum Ziel gesetzt haben, für das Jahr 1992 und darüber hinaus handlungsfä­hige Organisationsstrukturen aufzu­bau­en, die nicht nur geeignet sein sol­len, den Jubelfeiern der Herr­schenden einen deutlichen Kontrapunkt von Seiten der Volksorganisationen des gesamten Kontinents entgegenzusetzen, sondern auch fr die Zukunft politische Alterna­tiven gesellschaftsfähig zu ma­chen.

Mit dieser Postkarte wirbt die Koordination für die Kampagne „500 Jahre Kolonisation und Widerstand in Lateinamerika“ für Emanzipation und lateinamerikanische Identität.

Auch in zahlreichen Städten der BRD und des benachbarten europäischen Auslands existieren seit einiger Zeit vie­lerlei Aktionsgruppen, die sich mit dem Bedeutungsgehalt der 500jährigen Kolonialgeschichte sowohl für Europas als auch Lateinamerikas Entwicklungs­ge­schichte beschäftigen und entspre­chende Aktionen planen.

Zwei Strömungen - eine Kampagne
Selbst die Heerscharen moderner „Ent­decker“, die von Neckermann, TUI und anderen Reiseveranstaltern gut ge­schnürten Paketreisenden, die auf ihre Weise die fernen Kontinente erobern, kommen in der Regel immer häufiger mit dem schalen Gefühl in die heimatli­chen Gefilde zu­rück, daß es im­mer un­gastlicher werde in jenen Ländern, daß die überall anzutref­fende Seuche der ga­loppierenden Wirtschaftskrise die Leute dort immer „undank­barer“ werden lasse. Wenn also der Massenfern­tou­ris­mus, ei­nes der neuzeitlichen Instru­mente, die das Kolonialver­hält­nis in dieser zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­derts auf höchst wirksame Weise zu vergesellschaften half, schon mit sol­chen Alarmzeichen konfrontiert wird, dann ist es an der Zeit, daß auch die Herrschenden sich Gedanken machen über einen anstehen­den qualitativen Wandel in den Bezie­hungen zwischen Norden und Süden.

Nichts anderes ist der Zweck einer Ver­anstaltung, die nicht zufällig auch für die Mitte des Jahres 1992 angesetzt ist: die von den Vereinten Nationen einbe­rufene Weltkonferenz über „Umwelt und Entwicklung“ im Juni 1992 in Rio de Janeiro. Auf ihr soll in umfassender Weise darüber beraten werden, wie der weltweit beobachtbaren Zerstörung der ökologischen Kreisläufe entgegenge­tre­ten werden kann, ohne daß dies auf Kosten der Entwicklungschancen der „Dritten Welt“ geschehen müsse, bzw. ohne daß dies mit allzu hohen Einbußen im Entwicklungsstandard der Industrie­länder verbunden sei. Aus diesem Grun­de werden Experten aus aller Her­ren Länder zu den mannigfaltigen öko­lo­gi­schen Katastrophenanzeichen gehört werden, wird der Versuch unternommen werden, eine weltweit gültige Umwelt-Charta (in Analogie zu der Menschen­rechts-Charta der UN) zu entwickeln und zu verabschieden, werden jede Menge wohlklingender Absichtserklä­rungen zur Einschränkung des Energieverbrauchs sowie zur Drosselung des in der Hauptsache auf die Industrieländer zurückfallenden Schadstoffausstoßes abgegeben werden. Kurzum, es wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen weiteren Meilenstein im interna­ti­onalen Konferenzgeschehen handeln, während die Wachstumsdesigner in den Chefetagen der multinationalen Kon­zer­ne seelenruhig an der Marktfähigkeit neuer Produkte herumbasteln werden.

Ein Novum zeichnet jedoch diese Kon­ferenz aus: Erstmals wird von Seiten der offiziellen Veranstalter auch bewußt auf das breite Spektrum von Nichtregie­rungsorganisationen zurückgegriffen, werden diese förmlich zur Durchfüh­rung einer Parallelkonferenz nach Rio eingeladen. Dies geschieht vermutlich aus der doppelten Absicht, einerseits das Qualitätsprofil dieses nichtstaatlichen Sektors zu testen, und andererseits zu erwartendes Widerspruchspotential auf diese Weise in kontrollierbare Bahnen einzubinden.

Das äußerst vielgestaltige Spektrum der mit Ökologiefragen befaßten Organisa­ti­onen und Verbände läßt allein schon im nationalen Rahmen sehr unter­schied­liche Herangehensweisen in Be­zug auf die Konferenz erkennen: Wäh­rend ei­ni­ge größere Verbände sich wahrschein­lich zu Recht einige Chancen auf lobby­istische Beeinflussung der of­fiziellen Regierungsdelegation ausrech­nen, sehen die kleineren Gruppen in ei­ner solchen Strategie keinen politischen Sinn, son­dern verlegen sich eher in ih­ren poli­ti­schen Überlegungen darauf, unabhängig von Durchsetzbarkeit oder nicht über Aktionsformen nachzuden­ken, die ge­eignet sein könn­ten, in der Öffentlich­keit zum Nachden­ken über radikal ande­re Entwicklungs­wege anzuregen. Öko­nomische Forde­rungen wie z.B. die nach Schuldenstrei­chung als Vorausset­zung für jegliche weitere Diskussion über neue Entwick­lungswege sind in diesen Überlegungen bewußt mit enthal­ten, wie überhaupt das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie in diesen Gruppen viel stärker themati­siert wird.

Und hiermit ist, so meine ich, ein wich­tiger Schnittpunkt für die zukünftige dringend erforderliche stärkere Zusam­menarbeit zwischen Internationalismus­gruppen und den diversen Aktionsgrup­pen aus dem Bereich der Ökologiebe­we­gung genannt. Ebenso wie ersteren eine gesunde Portion ökologischen Sachver­standes in ihrer hauptsächlich politisch-ökonomisch verengten Sicht­weise gut zu Gesicht stünde, dürfte für zweitere die stärkere Berücksichtigung interna­tionaler politischer und wirt­schaftlicher Zusammenhänge eine wich­tige Ergän­zung zu ihrer manchmal allzu heilen ökologischen Weltsicht sein.

Der längst noch nicht beendete Golf­krieg hat jedoch noch zusätzliche Di­mensionen für die dringend erforderli­che engere Zusammenarbeit der ver­schiedenen sozialen Bewegungen auf die Tagesordnung gesetzt. Nicht nur, daß auf unerträglich zynische Art und Weise der Welt vorgeführt wurde, wie leicht es den Herrschenden fällt, Un­mengen von Geld in ein menschenver­achtendes Feuerwerk zu stecken - ein Umstand, der überdeutlich hat werden lassen, wie problemlos die Schulden­fra­ge gelöst werden könnte, wenn sie nur gelöst werden wollte -, sondern auch, daß mit diesem Krieg der ge­samten zi­vi­len Weltgesellschaft eine verheerende Niederlage zugefügt wurde. Sechs Wo­chen lang war die zivile Menschheit ohnmächtige, in Teilen an­fangs lautstark protestierende, später aber zunehmend kleinlauter werdende und heute vollends verstummte Zeugin, ja geradezu Adres­satin einer buchstäb­lich bombastischen Vernichtungsorgie, im Verlauf derer nicht nur hunderttau­sendfaches Leben ausgelöscht wurde, sondern auch die Aussaat für zukünfti­ges Unheil gelegt wurde, in der nicht nur wichtige Teile des Menschheitsge­dächtnisses mit ei­nem Schlag ausradiert wurden, sondern auch die Wurzeln für das erneute Auf­blühen stupider Militär­kultur gesetzt wurden. Die Millionen von Bomben, die das Gebiet des Zwei­stromlandes in eine zerfetzte Krater­landschaft verwandelt haben, hinterlas­sen auch tiefe Krater in unseren Köpfen.

In gewisser Weise handelt(e) es sich bei diesem Krieg um einen totalen Krieg der weltweit führenden Staatsklassen gegen die globale zivile Gesellschaft, der nicht nur mit militärischen, sondern so deutlich wie nie zuvor auch mit zivi­len Mitteln (Medien) geführt und ge­wonnen wurde. Die weitverbreitete Schreibweise, daß es sich hierbei um ei­nen Nord-Süd-Krieg gehandelt habe, ist insofern also nur bedingt zutreffend, da sie den in den nordischen Gesell­schaften selbst errungenen Sieg schlicht ausblen­det. Dazu gehört auch - vor die­ser Tat­sache dürfen wir natürlich nicht die Au­gen verschließen -, daß relevante Teile eben dieser unterlegenen zivilen Gesell­schaft ihre eigene Niederlage auch noch wie besessen feiern.

Wenn uns nun von den Strategen des Weißen Hauses und des Pentagon groß­sprecherisch eine „Neue Weltordnung“ angekündigt wird, dann kann man sich schon jetzt unschwer vorstellen, nach welchem Muster diese Ordnung ge­strickt sein wird. Bisher scheint es sich um die Ausgeburt einer zutiefst rück­wärtsgewandten, ökonomischen und po­litischen Machtclique in jenem Land zu handeln, das als ursprünglich erwei­terter Wurmfortsatz Europas sich von diesem emanzipierte und es schließlich im Ver­lauf dieses Jahrhunderts auf wirt­schaft­li­chem und machtpolitischem Ge­biet weit hinter sich ließ.

Das letzte Jahrzehnt hat jedoch deutlich werden lassen, daß Machtpolitik allein noch keine Garantie für die Fortent­wicklung von Produktivkräften liefern kann. Der Industriepark der Vereinigten Staaten ist im Vergleich zu dem der eu­ropäischen Länder und Japans hem­mungslos veraltet, im Wettbewerb mit europäischen und japanischen Produk­ten können sich die US-amerikanischen auf dem Weltmarkt nur noch durch bru­tale Vermarktungsstrategien oder durch hohe Zollmauern behaupten. Da­bei kommt den US-Konzernen ihr welt­weit verzweigtes Produktions- und Dis­tribu­tionsnetz zugute. Aber auch dieses droht durchlöchert zu werden von den zuneh­mend transnationaler operierenden Kon­zernen und ihnen angeschlossenen Ban­ken europäischer und japanischer Prove­nienz. Es ist der sich abzeichnende wirt­schaftliche Niedergang, der die reichste und zugleich am höchsten ver­schuldete Nation der Welt bzw. deren Mächtige ihr Heil darin suchen läßt, zur Sicherung ihrer politischen Hegemoni­alstellung auf die probate Kanonenboot­politik längst vergangen geglaubter Zeiten zurückzugreifen.

Inwieweit das Projekt der Herrschenden Europas, durch die Schaffung eines ein­heitlichen Binnenmarktes den freien Waren-, Geld- und Dienstleistungsver­kehr zu gewährleisten und damit bessere Voraussetzungen für den Konkurrenz­kampf zwischen den drei ökonomischen Zentren USA, Europa und Japan zu schaffen, angesichts der neugeschaffe­nen weltpolitischen Konstellation über­ühaupt zum Zuge kommen wird, bleibt abzuwarten.

In jedem Falle wird ein enges Zusam­menrücken der aktivsten Teile der zivi­len Gesellschaften vonnöten sein, und zwar möglichst im internationalen Maßstab. Das bedeutet, daß die ver­schiedenen sozialen Bewegungen, d.h. die Dritte-Welt- oder Internationalis­mus-Bewegung, die Ökologiebewegung, die Friedens-, Antikriegs- und Frauen­bewegung, die engagierten Menschenrechtsgruppen, die kirchlichen Basisbe­wegungen noch stärker als bisher in ei­nen produktiven Austausch treten müs­sen, sich aufeinander abstimmen sollten und bewegungsübergreifende Strategien und Kampagnen planen und entwickeln sollten. Nur dadurch wird es möglich sein, aus der nicht zuletzt auch durch die Ereignisse in Osteuropa hervorgerufe­nen tiefen Verunsicherung und aus dem dumpfen Gefühl der Niederlage wieder herauszukommen. Machen wir uns die zu erwartende historisch-politi­sche Kon­junktur des Schaltjahres 1992 zunutze! Machen wir 1992 zu einem Um-Schalt­jahr!

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Informationsstelle Lateinamerika (ila)