6x jährlich erscheint unser Magazin "FriedensForum" und berichtet über Aktionen, Kampagnen und Themen der Friedensbewegung. Gerne schicken wir dir ein kostenfreies Probeexemplar zu. Die nächste Ausgabe erscheint Ende April mit dem hochaktuellen Thema "Entspannungspolitik".
1992 - Um-Schaltjahr
vonDer 12. Oktober 1992 steht für den 500. Jahrestag des Einstiegs in eine neue Ära der Weltgeschichte: Die Eroberung des amerikanischen Kontinents leitete die Entwicklung des auf struktureller Ungerechtigkeit basierenden Weltmarktes ein.
Mit einer unübersehbaren Fülle und Vielfalt von Aktionen wird das nächste Jahr, das 500. Geburtsjahr dieser kolonialen Weltordnung übersät sein. Die einen werden sich dabei anerkennend auf die Schulter klopfen und sich gegenseitig bestätigen, wie segensreich doch der Bestand dieser Ordnung für sie war und ist. Die weitaus meisten anderen hingegen werden es zum Anlaß nehmen, auf die 500jährige Kontinuität von Unterdrückung, Beleidigung, Erniedrigung und Raub in der Öffentlichkeit hinzuweisen, ebenso wie auf die jahrhundertelange Tradition des Kampfes und des Widerstandes gegen die weißen Kolonialherren.
Nicht nur in Lateinamerika - dem Kontinent, der in seiner Entwicklung am unmittelbarsten von der Expedition des Genovesers Crist¢bal Col¢n betroffen war und ist -, sondern auch in anderen Teilen der „Dritten Welt“ bereiten sich Gruppen aus verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren darauf vor, den geplanten Selbstinszenierungen der Kolonial- und Neokolonialmöchte eigene Massenaktionen entgegenzusetzen, die deutlich machen sollen, daß die Ernte dieser 500jährigen Geschichte zu extrem ungleichen Teilen eingebracht wurde. Vor allem, was die unabhängige IndianerInnen- und Bauernbewegung anbetrifft, aber auch in den städtischen Volksbewegungen und bei großen Teilen der Intelligenz bestehen seit geraumer Zeit ernsthafte Initiativen, die sich zum Ziel gesetzt haben, für das Jahr 1992 und darüber hinaus handlungsfähige Organisationsstrukturen aufzubauen, die nicht nur geeignet sein sollen, den Jubelfeiern der Herrschenden einen deutlichen Kontrapunkt von Seiten der Volksorganisationen des gesamten Kontinents entgegenzusetzen, sondern auch fr die Zukunft politische Alternativen gesellschaftsfähig zu machen.
Mit dieser Postkarte wirbt die Koordination für die Kampagne „500 Jahre Kolonisation und Widerstand in Lateinamerika“ für Emanzipation und lateinamerikanische Identität.
Auch in zahlreichen Städten der BRD und des benachbarten europäischen Auslands existieren seit einiger Zeit vielerlei Aktionsgruppen, die sich mit dem Bedeutungsgehalt der 500jährigen Kolonialgeschichte sowohl für Europas als auch Lateinamerikas Entwicklungsgeschichte beschäftigen und entsprechende Aktionen planen.
Zwei Strömungen - eine Kampagne
Selbst die Heerscharen moderner „Entdecker“, die von Neckermann, TUI und anderen Reiseveranstaltern gut geschnürten Paketreisenden, die auf ihre Weise die fernen Kontinente erobern, kommen in der Regel immer häufiger mit dem schalen Gefühl in die heimatlichen Gefilde zurück, daß es immer ungastlicher werde in jenen Ländern, daß die überall anzutreffende Seuche der galoppierenden Wirtschaftskrise die Leute dort immer „undankbarer“ werden lasse. Wenn also der Massenferntourismus, eines der neuzeitlichen Instrumente, die das Kolonialverhältnis in dieser zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf höchst wirksame Weise zu vergesellschaften half, schon mit solchen Alarmzeichen konfrontiert wird, dann ist es an der Zeit, daß auch die Herrschenden sich Gedanken machen über einen anstehenden qualitativen Wandel in den Beziehungen zwischen Norden und Süden.
Nichts anderes ist der Zweck einer Veranstaltung, die nicht zufällig auch für die Mitte des Jahres 1992 angesetzt ist: die von den Vereinten Nationen einberufene Weltkonferenz über „Umwelt und Entwicklung“ im Juni 1992 in Rio de Janeiro. Auf ihr soll in umfassender Weise darüber beraten werden, wie der weltweit beobachtbaren Zerstörung der ökologischen Kreisläufe entgegengetreten werden kann, ohne daß dies auf Kosten der Entwicklungschancen der „Dritten Welt“ geschehen müsse, bzw. ohne daß dies mit allzu hohen Einbußen im Entwicklungsstandard der Industrieländer verbunden sei. Aus diesem Grunde werden Experten aus aller Herren Länder zu den mannigfaltigen ökologischen Katastrophenanzeichen gehört werden, wird der Versuch unternommen werden, eine weltweit gültige Umwelt-Charta (in Analogie zu der Menschenrechts-Charta der UN) zu entwickeln und zu verabschieden, werden jede Menge wohlklingender Absichtserklärungen zur Einschränkung des Energieverbrauchs sowie zur Drosselung des in der Hauptsache auf die Industrieländer zurückfallenden Schadstoffausstoßes abgegeben werden. Kurzum, es wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen weiteren Meilenstein im internationalen Konferenzgeschehen handeln, während die Wachstumsdesigner in den Chefetagen der multinationalen Konzerne seelenruhig an der Marktfähigkeit neuer Produkte herumbasteln werden.
Ein Novum zeichnet jedoch diese Konferenz aus: Erstmals wird von Seiten der offiziellen Veranstalter auch bewußt auf das breite Spektrum von Nichtregierungsorganisationen zurückgegriffen, werden diese förmlich zur Durchführung einer Parallelkonferenz nach Rio eingeladen. Dies geschieht vermutlich aus der doppelten Absicht, einerseits das Qualitätsprofil dieses nichtstaatlichen Sektors zu testen, und andererseits zu erwartendes Widerspruchspotential auf diese Weise in kontrollierbare Bahnen einzubinden.
Das äußerst vielgestaltige Spektrum der mit Ökologiefragen befaßten Organisationen und Verbände läßt allein schon im nationalen Rahmen sehr unterschiedliche Herangehensweisen in Bezug auf die Konferenz erkennen: Während einige größere Verbände sich wahrscheinlich zu Recht einige Chancen auf lobbyistische Beeinflussung der offiziellen Regierungsdelegation ausrechnen, sehen die kleineren Gruppen in einer solchen Strategie keinen politischen Sinn, sondern verlegen sich eher in ihren politischen Überlegungen darauf, unabhängig von Durchsetzbarkeit oder nicht über Aktionsformen nachzudenken, die geeignet sein könnten, in der Öffentlichkeit zum Nachdenken über radikal andere Entwicklungswege anzuregen. Ökonomische Forderungen wie z.B. die nach Schuldenstreichung als Voraussetzung für jegliche weitere Diskussion über neue Entwicklungswege sind in diesen Überlegungen bewußt mit enthalten, wie überhaupt das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie in diesen Gruppen viel stärker thematisiert wird.
Und hiermit ist, so meine ich, ein wichtiger Schnittpunkt für die zukünftige dringend erforderliche stärkere Zusammenarbeit zwischen Internationalismusgruppen und den diversen Aktionsgruppen aus dem Bereich der Ökologiebewegung genannt. Ebenso wie ersteren eine gesunde Portion ökologischen Sachverstandes in ihrer hauptsächlich politisch-ökonomisch verengten Sichtweise gut zu Gesicht stünde, dürfte für zweitere die stärkere Berücksichtigung internationaler politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge eine wichtige Ergänzung zu ihrer manchmal allzu heilen ökologischen Weltsicht sein.
Der längst noch nicht beendete Golfkrieg hat jedoch noch zusätzliche Dimensionen für die dringend erforderliche engere Zusammenarbeit der verschiedenen sozialen Bewegungen auf die Tagesordnung gesetzt. Nicht nur, daß auf unerträglich zynische Art und Weise der Welt vorgeführt wurde, wie leicht es den Herrschenden fällt, Unmengen von Geld in ein menschenverachtendes Feuerwerk zu stecken - ein Umstand, der überdeutlich hat werden lassen, wie problemlos die Schuldenfrage gelöst werden könnte, wenn sie nur gelöst werden wollte -, sondern auch, daß mit diesem Krieg der gesamten zivilen Weltgesellschaft eine verheerende Niederlage zugefügt wurde. Sechs Wochen lang war die zivile Menschheit ohnmächtige, in Teilen anfangs lautstark protestierende, später aber zunehmend kleinlauter werdende und heute vollends verstummte Zeugin, ja geradezu Adressatin einer buchstäblich bombastischen Vernichtungsorgie, im Verlauf derer nicht nur hunderttausendfaches Leben ausgelöscht wurde, sondern auch die Aussaat für zukünftiges Unheil gelegt wurde, in der nicht nur wichtige Teile des Menschheitsgedächtnisses mit einem Schlag ausradiert wurden, sondern auch die Wurzeln für das erneute Aufblühen stupider Militärkultur gesetzt wurden. Die Millionen von Bomben, die das Gebiet des Zweistromlandes in eine zerfetzte Kraterlandschaft verwandelt haben, hinterlassen auch tiefe Krater in unseren Köpfen.
In gewisser Weise handelt(e) es sich bei diesem Krieg um einen totalen Krieg der weltweit führenden Staatsklassen gegen die globale zivile Gesellschaft, der nicht nur mit militärischen, sondern so deutlich wie nie zuvor auch mit zivilen Mitteln (Medien) geführt und gewonnen wurde. Die weitverbreitete Schreibweise, daß es sich hierbei um einen Nord-Süd-Krieg gehandelt habe, ist insofern also nur bedingt zutreffend, da sie den in den nordischen Gesellschaften selbst errungenen Sieg schlicht ausblendet. Dazu gehört auch - vor dieser Tatsache dürfen wir natürlich nicht die Augen verschließen -, daß relevante Teile eben dieser unterlegenen zivilen Gesellschaft ihre eigene Niederlage auch noch wie besessen feiern.
Wenn uns nun von den Strategen des Weißen Hauses und des Pentagon großsprecherisch eine „Neue Weltordnung“ angekündigt wird, dann kann man sich schon jetzt unschwer vorstellen, nach welchem Muster diese Ordnung gestrickt sein wird. Bisher scheint es sich um die Ausgeburt einer zutiefst rückwärtsgewandten, ökonomischen und politischen Machtclique in jenem Land zu handeln, das als ursprünglich erweiterter Wurmfortsatz Europas sich von diesem emanzipierte und es schließlich im Verlauf dieses Jahrhunderts auf wirtschaftlichem und machtpolitischem Gebiet weit hinter sich ließ.
Das letzte Jahrzehnt hat jedoch deutlich werden lassen, daß Machtpolitik allein noch keine Garantie für die Fortentwicklung von Produktivkräften liefern kann. Der Industriepark der Vereinigten Staaten ist im Vergleich zu dem der europäischen Länder und Japans hemmungslos veraltet, im Wettbewerb mit europäischen und japanischen Produkten können sich die US-amerikanischen auf dem Weltmarkt nur noch durch brutale Vermarktungsstrategien oder durch hohe Zollmauern behaupten. Dabei kommt den US-Konzernen ihr weltweit verzweigtes Produktions- und Distributionsnetz zugute. Aber auch dieses droht durchlöchert zu werden von den zunehmend transnationaler operierenden Konzernen und ihnen angeschlossenen Banken europäischer und japanischer Provenienz. Es ist der sich abzeichnende wirtschaftliche Niedergang, der die reichste und zugleich am höchsten verschuldete Nation der Welt bzw. deren Mächtige ihr Heil darin suchen läßt, zur Sicherung ihrer politischen Hegemonialstellung auf die probate Kanonenbootpolitik längst vergangen geglaubter Zeiten zurückzugreifen.
Inwieweit das Projekt der Herrschenden Europas, durch die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes den freien Waren-, Geld- und Dienstleistungsverkehr zu gewährleisten und damit bessere Voraussetzungen für den Konkurrenzkampf zwischen den drei ökonomischen Zentren USA, Europa und Japan zu schaffen, angesichts der neugeschaffenen weltpolitischen Konstellation überühaupt zum Zuge kommen wird, bleibt abzuwarten.
In jedem Falle wird ein enges Zusammenrücken der aktivsten Teile der zivilen Gesellschaften vonnöten sein, und zwar möglichst im internationalen Maßstab. Das bedeutet, daß die verschiedenen sozialen Bewegungen, d.h. die Dritte-Welt- oder Internationalismus-Bewegung, die Ökologiebewegung, die Friedens-, Antikriegs- und Frauenbewegung, die engagierten Menschenrechtsgruppen, die kirchlichen Basisbewegungen noch stärker als bisher in einen produktiven Austausch treten müssen, sich aufeinander abstimmen sollten und bewegungsübergreifende Strategien und Kampagnen planen und entwickeln sollten. Nur dadurch wird es möglich sein, aus der nicht zuletzt auch durch die Ereignisse in Osteuropa hervorgerufenen tiefen Verunsicherung und aus dem dumpfen Gefühl der Niederlage wieder herauszukommen. Machen wir uns die zu erwartende historisch-politische Konjunktur des Schaltjahres 1992 zunutze! Machen wir 1992 zu einem Um-Schaltjahr!