#Unteilbar

250.000 Menschen für eine offene Gesellschaft: Rückblick und Ausblick

von Georg Wissmeier
Initiativen
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Frühsommer 2018 in Deutschland. Nazis gehen in Chemnitz auf Menschenjagd. Danach streiten PolitikerInnen aller Couleur wochenlang wohlfeil und medienwirksam darum, ob Menschenjagden Menschenjagd genannt werden dürfen: Ja, nein, vielleicht. Die Parteien der so genannten bürgerlichen Mitte rücken immer mehr Richtung rechtsaußen, die AfD reibt sich die Hände. Nennenswerter Widerstand ist kaum sichtbar; die fortschrittlichen Kräfte wirken wie gelähmt.

Das ist die Phase, in der die Idee für eine Großdemonstration entsteht. Am Tag vor den bayerischen Landtagswahlen soll in Berlin ein unübersehbares Zeichen gesetzt werden. Von all jenen, die nicht bereit sind, die permanente Rechtsverschiebung weiter hinzunehmen. Die nicht wollen, dass soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte gegeneinander ausgespielt werden. Menschen aus dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte-Verein wollen ein Bündnis schmieden, das die üblichen politischen Nischen und Abgrenzungen von Protest und Widerstand überwindet. Von Anfang an ist allen Beteiligten klar: Es reicht nicht, eine Demonstration mit ein paar tausend Menschen zu organisieren. Es müssen mindestens 100.000 werden, Das alles innerhalb von knapp drei Monaten, ohne große Ressourcen, von Mut und Engagement abgesehen. Das klingt verrückt? Es war verrückt.

Es wird zu ersten Bündnistreffen eingeladen. Arbeitsgruppen werden gebildet. Wer sich mit seinen Fähigkeiten beteiligen will, kann mitmachen. In den drei Monaten bis zum 13.10. herrscht produktives Chaos. Vom Koordinierungskreis, gebildet aus VertreterInnen der AGs (Demo, Kultur, Öffentlichkeit, Mobilisierung, Inhalte, Finanzen) und einem schnell gegründeten „Büro“, mit zwei bezahlten Menschen besetzt, werden die Fäden zusammengehalten. Auf regelmäßigen (Berliner) Bündnistreffen werden wichtige Grundsatzentscheidungen gefällt.

Es entsteht ein Handeln der Vielen, getragen vom Grundverständnis des solidarischen Miteinanders. Im Vordergrund steht immer das Gemeinsame, nicht das Trennende. Als inhaltliche Grundlage diente der Bündnisaufruf zur Demonstration mit seinen Forderungen: Gegen jegliche Form von gruppenbezogener Diskriminierung, gegen die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten, gegen Sozialabbau und Verarmung – für eine offene und solidarische Gesellschaft. Politische und soziale Menschenrechte sind nicht teilbar.

Auch ein programmatischer Name für Demonstration und Bündnis ist gefunden: #unteilbar. Mit einem einzigen Wort bringt er auf den Punkt, worum es geht: die kategorische Absage an alle Versuche, Schneisen, Grenzen und Trennungslinien zwischen Menschen einzuziehen. Bei aller Unterschiedlichkeit der verschiedenen Akteure im Bündnis ist eines unbestritten:  #unteilbar steht für unabhängiges Handeln zivilgesellschaftlicher Kräfte jenseits parteipolitischer Interessen. Deshalb gehören zum Kreis der ErstunterzeichnerInnen auch keine Parteien.

Unterstützung, Beteiligung, Engagement
Der Demoaufruf trifft einen Nerv. Ab September rief #unteilbar Interessierte in Berlin zu Mitmachtreffen, zum Flyern oder Plakatieren auf – mit Erfolg. Es kamen Menschen aus allen Stadtteilen; Junge, Alte, politisch Aktive, bisher Inaktive und viele ehemals Aktive. Für alle gab es etwas zu tun, und alle taten etwas.
Je näher der 13.10. kam, desto mehr wurde mobilisiert, gemalt, gebastelt, Banner aufgehängt, Pressemitteilungen geschrieben, Flugblätter verteilt, Plakate geklebt. Manches wurde vom Koordinierungskreis koordiniert, anderes passierte einfach so. Von vielen Dingen wissen wir bis heute nichts. Auch die Liste der UnterstützerInnen des Aufrufs wuchs täglich. Amnesty International, Aktion Sühnezeichen, Pro Asyl, Gewerkschaften, feministische Gruppen, Interventionistische Linke, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Seebrücke, Mietervereine, Theater, Antira-Initiativen, um nur einige Wenige aus dem Kreis der 400 ErstunterzeichnerInnen zu nennen. Bis zur Demo kamen noch weitere knapp 11.500 Organisationen und Einzelpersonen dazu.

Und dann der 13.10: Als VeranstalterInnen hatten wir 40.000 Teilnehmende angemeldet. Die OptimistInnen hatten auf 100.000 gehofft. Es kamen 250.000 Menschen, die, bei strahlendem Sonnenschein, vom Alexanderplatz zur Siegessäule zogen; bunt laut, vielfältig – und ungeheuer kreativ, mit tausenden selbstgestalteten Plakaten, Aktionen, Performances. Wir als OrganisatorInnen hatten natürlich gehofft, dass #unteilbar groß wird. Aber diese Beteiligung und Stimmung am 13.10. hatte sogar die allerkühnsten Erwartungen noch um Längen geschlagen.

Das politische Verständnis und die Grundhaltung des #unteilbar-Bündnisses fanden sowohl in der Auftakt-, als auch auf der Abschlusskundgebung ihren Ausdruck: VertreterInnen von Basisinitiativen kamen neben Menschen aus Großorganisationen zu Wort. Kultur wurde mit Politik, bisher leise Stimmen mit großen Namen verbunden. Die vielen sehr unterschiedlichen Gruppen, sozialen Themen und Kämpfe zusammenzuführen und gemeinsam sichtbar zu machen, war Voraussetzung für die Wucht des 13. Oktobers, der zum Kulminationspunkt einer zivilgesellschaftlichen Bewegung wurde. Die Zivilgesellschaft hat ihre Schockstarre ganz offensichtlich überwunden.

Dazu beigetragen haben auch die Demonstrationen von #ausgehetzt in München, von welcome united in Hamburg, im Hambacher Forst und anderswo.

#unteilbar geht weiter...
Am 17.11. fand der erste #unteilbar-Ratschlag nach der Demo statt. Im Mittelpunkt dieses bundesweiten Treffens, dessen Einladung sich gezielt an den Kreis der ErstunterzeichnerInnen richtete, standen der Austausch und die Sammlung von Ideen für zukünftiges #unteilbar-Handeln. Konkrete Entscheidungen sollten zu diesem Zeitpunkt noch nicht getroffen werden. Verabredet wurde ein weiteres bundesweites #unteilbar-Treffen für Ende Januar/Anfang Februar 2019, auf dem ein #unteilbar Aktionsfahrplan für 2019 verabredet werden soll. Das kann ein weiteres „großes Ding“ sein, gemeinsame bundesweite Aktionen, Verabredungen zur Transformation von #unteilbar in lokale und regionale Aktivitäten, ein #unteilbar-Festival/Kongress  ...

Eine erste Möglichkeit, gemeinsam zu handeln und das #unteilbar-Verständnis zu verbreiten, bietet das Ende November im Ullstein-Verlag erscheinende Buch #unteilbar - Für eine offene und solidarische Gesellschaft. Inhalt sind die Reden der Auftakt- und der Abschlusskundgebung.
Bini Adamczak schrieb: „Der 13.10. markiert das Ende der Verteidigung und den Anfang der Veränderung!“ Diese Aussage zu überprüfen wird erst in Zukunft gelingen. Dafür etwas zu tun bietet jeder Tag Möglichkeiten.

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Georg Wissmeier gehörte zum Koordinierungskreis der Demo am 13.10 und ist Aktivist bei #unteilbar in Berlin.