Kein Krieg, kein Frieden

Äthiopien 18 Monate nach dem Ende der Kampfhandlungen in Tigray

von Wolfgang Heinrich
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Der bisher für die Zivilbevölkerung wohl tödlichste Krieg des einundzwanzigsten Jahrhunderts war der katastrophale Bürgerkrieg in Äthiopien vom 4. November 2020 bis zum 2. November 2022. Dieser in Deutschland und Europa recht wenig beachtete Krieg in der Region Tigray kostete in 24 Monaten mehr als 360.000 Zivilisten das Leben durch direkte Kriegshandlungen. Weitere 300.000 starben in Folge der Zerstörung von Wasser- und Nahrungsquellen oder Mangel an medizinischer Hilfe (Vinck et al. 2023). Geschätzte 500.000 Soldaten wurden getötet oder schwer verletzt (de Waal 2024).

Zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung in Kirchen, auf Marktplätzen und in Dörfern, Raub und Plünderung von Privathaushalten, Industrieanlagen, Museen und Archiven und vor allem systematische sexuelle Gewalt waren Teil der Kriegführung. (1) Weite Teile der Region Tigray sind zerstört, der lokalen Wirtschaft wurde enormer Schaden zugefügt. Das, was in den vorangegangenen drei Jahrzehnten dazu beigetragen hatte, Äthiopien zu einem der stabilsten und sich rasch entwickelnden Länder Afrikas zu machen, wurde binnen 24 Monate weitgehend vernichtet (de Waal, 2024). Am 2. November 2022 unterzeichneten zwei der beteiligten Kriegsparteien in Pretoria ein „Abkommen zur Einstellung feindseliger Handlungen“ (2). Die Bundesregierung Äthiopiens und die Tigray Peoples’ Liberation Front erklärten, dieses Abkommen als Anstoß zu weiteren Schritten zu einem dauerhaften Frieden nutzen zu wollen. Zwei Kriegsparteien, die auf Seite der äthiopischen Regierung eine starke Rolle gespielt hatten, aber dabei durchaus eigene Interessen verfolgten, waren von den Verhandlungen in Pretoria ausgeschlossen worden: die Regierung des Nachbarstaats Eritrea und die Regierung des benachbarten äthiopischen Bundeslands Amhara.

„Peace? We don’t know her.“ (3)
Frieden ist bis heute nicht wiederhergestellt. Die eritreische Regierung weigerte sich, ihre Truppen wie in Pretoria vereinbart vollständig vom Territorium Tigrays abzuziehen. Auch die Truppen des benachbarten Bundeslandes Amhara verweigerten den vereinbarten Abzug aus weiten Teilen im Westen von Tigray. Ihrerseits erfüllte die äthiopische Regierung ihre Zusage nicht, alle fremden Truppen aus Tigray zu entfernen und durch Truppen der äthiopischen Armee zu ersetzen. Die nach dem Pretoria Abkommen eingesetzte Übergangsverwaltung von Tigray erfüllte deshalb ihre Verpflichtung zur Entwaffnung und Demobilisierung der Armee Tigrays nur teilweise.
Bis heute konnte der größte Teil der während des Kriegs vertriebenen Zivilbevölkerung nicht in ihre Heimat zurückkehren. Dies betrifft vor allem die Bevölkerung des westlichen Tigray, deren Land weiterhin von Amhara Milizen besetzt ist. Ebenso die Bevölkerung der noch von Eritrea besetzten Gebiete. Mit sehr langer Verzögerung erst begann die äthiopische Regierung die für den Wiederaufbau zugesagten Mittel allmählich auszuzahlen. Die Reparatur der zivilen Infrastruktur – von Straßen und der Energieversorgung bis hin zu Krankenhäusern, Schulen und Verwaltungen – kommt kaum in Gang. Mit Beginn des Kriegs 2020 eingestellte Gehaltszahlungen für staatliche Bedienstete sind bis heute nicht voll wieder aufgenommen. Das liegt auch daran, dass die äthiopische Wirtschaft sich im freien Fall befindet und die Regierung die erforderlichen Staatseinnahmen nicht generieren kann aber weiterhin Waffen in großem Stil beschafft. Viele der vor dem Krieg freizügigen Geldgeber sind – durch Schaden klüger geworden – mit neuen Finanzspritzen zurückhaltend.

Gerechtigkeit abgeräumt
Eines der schwärzesten Kapitel des Kriegs in Tigray waren die Massaker und die systematisch angewandte sexuelle Gewalt gegen Zivilist*innen. In ihrem letzten Bericht an die UN Menschenrechtskommission am 3. Oktober 2023 erinnerte die International Commission of Human Rights Experts on Ethiopia (ICHREE) daran, dass ihre Untersuchung im Jahre 2022 „hinreichende Gründe für die Annahme“ ergeben habe, dass „Staaten und nichtstaatliche Akteure schwerwiegende Verstöße und Missachtung gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht begangen haben“. Viele davon könnten „als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft werden. Sie stellte weiterhin fest, „dass ein hohes Risiko für weitere Gräueltaten in dem Land besteht (…) Diese systematischen und andauernden Verstöße und Missbräuche verstärken die Entfremdung und Feindschaft der unzufriedenen Gemeinschaften in Tigray, Amhara, Oromia und anderswo“ (UN HRC, 2023). Seit die Kommission ihren ersten Bericht im September 2022 (UN HCR, 2022) vorgelegt hatte, gehörten das Bekenntnis zu Völkerrecht und Menschenrechten und die Forderung nach internationaler, unabhängiger Aufklärung und Gerechtigkeit für die Opfer zum Mantra der deutschen und europäischen Politik. Jedoch legten diese am 4. Oktober 2023 einen Fallrückzieher hin, indem sie die Frist für der Beantragung der Mandatsverlängerung der Kommission untätig verstreichen ließen (HRW, 4.10.2023). Seit der Einrichtung der Kommission im Dezember 2021 hatte sich die äthiopische Regierung bemüht, die Untersuchungen der ICHREE zu behindern, die Kommission zu diskreditieren und deren Mandatsverlängerung zu verhindern. Mit Erfolg. Staatsräson geht vor Gerechtigkeit. Daran, dass die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen Menschlichkeit aufgeklärt und die dafür politisch Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden, glauben die Opfer und die Angehörigen der Ermordeten nicht mehr.

Neuer Krieg im Land
Nach der Beendigung der Kriegshandlungen in Tigray entschied Premier Abiy, die Amhara Special Forces (SF) und die FANNO Miliz, die im Krieg gegen die Bevölkerung in Tigray mit der äthiopischen Armee Hand in Hand gehandelt hatten, zu entwaffnen und aufzulösen. Wenig überraschend verweigerten dies die Fanno Milizen. Große Teile der Amhara SF desertierten mit ihren Waffen und schlossen sich Fanno an. Seitdem sieht sich die Regierung mit einer neuen bewaffneten Rebellion in der Amhara-Region konfrontiert. Weite Teile der Amhara Region sind unter Kontrolle der Fanno, die Armee hält einige größere Städte und bemüht sich, Hauptverkehrswege offen zu halten. Trotz der Ausrufung des Notstands kommt es beinahe täglich zu Kampfhandlungen, die die Region unregierbar machen. Ein weiterer Aufstand in Oromia, der größten und bevölkerungsreichsten Region des Landes, dauert an. Auch andere lokale bewaffnete Gruppen kämpfen gegen die Regierung. Weite Teile des Landes sind zu „No-Go-Areas“ geworden (de Waal, 2024).

Hungersnot und transnationale Spannungen
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind derzeit 24,3 Millionen Menschen - fast ein Viertel der Bevölkerung - auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. 15,8 Millionen davon benötigen Nahrungsmittelsoforthilfe (UN OCHA 2024). US-Hilfsorganisationen rechnen damit, dass 900.000 Menschen unmittelbar vom Verhungern bedroht sind (The Guardian 2024). Ohne umfangreiche humanitäre Hilfe könnten viele von ihnen in den kommenden Monaten durch Hunger sterben. Ende 2022 wurde weitreichende systemische Korruption und Missbrauch humanitärer Hilfe in den von der äthiopischen Regierung kontrollierten staatlichen Strukturen aufgedeckt. Der notwendige Aufbau einer neuen Struktur für humanitäre Hilfe konnte nur mit massivem Druck der Geber gegen den hinhaltenden Widerstand der Regierung durchgesetzt werden. Das schränkt die humanitäre Hilfe gegenwärtig noch stark ein. Als ob die innenpolitischen Probleme des Landes nicht schon genug wären, brach Premier Abiy Ahmed in den letzten Monaten neue Spannungen mit Somalia vom Zaun, er verstrickte sich in dem sudanesischen Bürgerkrieg und drohte sogar Eritrea mit Gewaltanwendung. Der wichtigste ausländische Schirmherr der Regierung Abiys, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), liefern in großem Umfang Waffen. Ägypten, Saudi-Arabien und die Türkei machen dasselbe für Eritrea, Somalia und die sudanesischen Streitkräfte. Die Zutaten dafür, die gesamte Region in einen Stellvertreterkonflikt zu ziehen, sind vorbereitet (de Waal).

 

Anmerkungen:

  • (1) Siehe FriedensForum Nr 2/2021 und Nr. 6/20212
  • (2) Siehe FriedensForum Nr. 3/2023
  • (3) Eine Formulierung, mit der die äthiopische Bloggerin Maja Misikir viele ihrer Berichte einleitet.
  • de Waal, Alex und Mulugeta Gebrehiwot Berhe, 2024: Ethiopia Back on the Brink, Foreign Affairs 8. April 2024. https://ogy.de/2d9e
  • Human Rights Watch, 2023: Human Rights Council: EU Fails Ethiopia’s Victims. No Action Following Scathing Report Highlighting UN’s Prevention Role. 4. Oktober 2023. https://ogy.de/frnh
  • Le Monde, 11.3.2024: Ethiopia's hidden famine needs national and global attention. Prime Minister Abiy Ahmed refuses to acknowledge the serious food crisis affecting Tigray, in the north of the country. Editorial. https://ogy.de/vrmk
  • The Guardian, 9. Februar 2024: ‘At the door of death’: desperation in Ethiopia as hunger crisis deepens. https://ogy.de/qcrr
  • UN Human Rights Commission, 2022: Report of the International Commission of Human Rights Experts on Ethiopia. A/HRC/51/46, 5. October 2022
  • UN Human Rights Commission, 2023: Report of the International Commission of Human Rights Experts on Ethiopia. A/HRC/54/55, 14. September 2023 (Advance unedited version)
  • UN OCHA, 2024: Ethiopia Humanitarian Needs Overview 2024 (February 2024). https://ogy.de/bf76
  • Vinck, Patrick, Tadesse Simie Metekia, Geoff Dancy, Kathryn Sikkink, und Phuong N. Pham, 2023: Can Justice Bring Peace to Ethiopia? Foreign Affairs, 15. November 2023. https://ogy.de/whp5

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Krisen und Kriege
Dr. Wolfgang Heinrich hat als Mitarbeiter europäischer Nichtregierungsorganisationen über 30 Jahre in und zu der Region am Horn von Afrika gearbeitet. Wissenschaftlich befasst er sich seit 1978 vor allem mit Äthiopien und Somalia.