Kurzzbericht zur Lage in den palästinensischen Gebieten

Aktueller Kurzzbericht zur Lage in den palästinensischen Gebieten. (März 2002)

von Kirsten Maß
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Der israelisch-palästinensische Konflikt hat sich, so zahlreiche politische Beobachter, in der Gewaltentwicklung in den letzten Wochen immer mehr zu einem Hin-und-her an "Vergeltung" entwickelt, aus dem nur eine entschiedene politische Initiative herausführen kann. Die vergangenen Tage haben gezeigt, dass die Gewalt noch weiter sehr rapide ansteigen kann und täglich mehr und mehr Opfer, vor allem unter Zivilisten, fordert. Im folgenden soll lediglich die Zuspitzung der letzten Woche dargestellt werden:

Seit dem 28. Februar unternahm die IDF (Israeli Defence Force) gezielte Angriffe auf verschiedene Flüchtlingslager in der Westbank, vor allem Balata (bei Nablus) und Jenin, umzingelte die Lager mit Panzern und "durchkämmte" erstmals die Lager nach Intifada-Aktivisten, wobei sich die Soldaten den Weg durch die Wohnhäuser bzw. Baracken sprengten und freischossen. Bewaffnete Lagerbewohner und Polizisten lieferten sich über Tage Feuergefechte. Die 24 palästinensischen Todesopfer innerhalb von drei Tagen waren jedoch zumeist ZivilistInnen - darunter am 03. März in Jenin auch der RK-Arzt Dr. Khalil Suleiman, dessen Ambulanz von einer Granate getroffen wurde.

Mehrere Selbstmord-Attentate sowohl in West-Jerusalem als auch Tel Aviv und Afula versetzen die israelische Bevölkerung in Schrecken und Trauer. Im orthodoxen Viertel Beit Yisrael in West-Jerusalem tötete am 02. März ein Selbstmordattentäter 9 ZivilistInnen. 51 Menschen wurden verwundet. Bei den Angriffen in Tel Aviv und Afula wurden jeweils drei Menschen getötet.

Die gezielten Angriffe palästinensischer Miliz auf IDF Soldaten an den Checkpoints in der Westbank und im Gaza Streifen, bei denen bislang an die 20 Todesopfer zu verzeichnen sind, haben ebenfalls zu einer neuen Stufe der Gewalt geführt.

Mit dem Bomben-Angriff auf eine palästinensische Schule in Ost-Jerusalem am 04. März treten auch wieder bestimmte Siedlergruppen als gewalttätige Akteure auf. Kinder und Eltern insgesamt in der Westbank und im Gaza Streifen sind zunehmend ernsthaft traumatisiert. Zahlreiche Berichte von Psychologenteams geben darüber Auskunft.
Gleichsam verstärkt die IDF die, wie die israelische Zeitung Haaretz schreibt, "extra-judicial killings". Nachdem am 4. März der Versuch fehlgeschlagen war, den Hamas-Aktivisten Shaykh Abu Kwayk in einem Minibus zu treffen, wobei sowohl seine Frau und drei Kinder als auch 2 weitere Kinder in einem dahinter fahrenden Auto getötet wurden, feuerten zwei israelische Apache-Helikopter am 05. März vier Raketen auf ein Auto in Ramallah und töteten Muhannad Abu Halawa (23), Fawzi Marar (25) und Umar Ka`dan (25). Abu Halawa, bekannter Aktivist der Fatah nahestehenden Al-Aqsa Brigaden, war einem vorherigen Attentatsversuch entkommen. Am 07. März (heute) wurde Muhammad Anani (27), ein führendes Mitglied des militärischen Flügels des Islamischen Jihad, in seinem Haus in Siris nahe Jenin umgebracht.

(Seit dem Ausbruch der Intifada sind 70 - 80 Palästinenser solchen "extra-judicial killings" zum Opfer gefallen, wobei laut palästinensichen Quellen insgesamt auch ca. 35 Passanten ums Leben kamen.)

Vom 05. bis 07. März wurden die Luft- und Bodenangriffe des israelischen Militärs im Gaza-Streifen und der Westbank intensiviert. Bei einem Angriff auf das Dorf Abassan im südlichen Gaza-Streifen, der mit der Suche nach einem DFLP Aktivisten "begründet" wurde, wurden mehrere Haüser unter heftigem Beschuss beschädigt und zerstört. Drei palästinensische Zivilisten, eine Frau und zwei Männer, wurden dabei erschossen. Einer der beiden Männer erlag seinen Verletzungen, da bis zum Abrücken der IDF keine Ambulanzen an den Ort zugelassen wurden.

Israelische Kampfflieger beschossen Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde, die sich in dicht besiedelten zivilen Wohngebieten befinden. Davon waren auch zwei Schulen betroffen: In Gaza-City wurde beispielsweise das von der UNWRA verwaltete Al-Nour Centre for the Blind beschädigt. Die Kinder konnten nur mit Mühen aus dem Gelände evakuiert werden, als ein F 16 Kampfflieger das nahegelegene Generaldirektorat der Palästinensischen Zivilpolizei bombardierte. In Khan Yunis bombardierten Apache-Helikopter eine palästinensische Sicherheitsstellung und beschädigten dabei auch die Kemal Nasser Boy`s Secondary School schwer. Allein am 06. März starben so 12 PalästinenserInnen und zwei israelische Soldaten.

Das selbst europäische "Vermittler im Konflikt" zur Zielscheibe werden können, erlebte am 06. März der europäische Gesandte für den Nahen Osten Miguel Moratinoz. Um ca. 22.45 Uhr feuerte ein israelischer Helikopter eine Rakete in Yasser Arafats Hauptquartier in Ramallah während eines Treffens zwischen dem palästinensischen Präsidenten und Moratinos. Der Einschlag traf ein Gebäude in unmittelbarer Nähe (15 Meter) des Raums, in dem das Treffen stattfand. Bei dem Angriff wurde niemand verletzt. Laut Javier Sancho, Moratinos Sprecher, gingen die Lichter aus, und die EU-Delegation wurde mit Fackellicht hinausbegleitet. Arafats Berater Ahmad Abdul Rahman zufolge seien die Fenster des Raums, in dem Arafat und Moratinos einige Minuten vorher saßen, zu Bruch gegangen. Laut Arafats Beratern führten der israelische Außenminister Shimon Perez und Yasser Arafat ein Telefongespräch, während die erste Raktete einschlug. Perez, der Sharon`s Vorgehensweise des "force only" ablehnend gegenübersteht, verweigerte jeden Kommentar. Moratinos ließ laut Haaretz-Meldung am folgenden Tag (07. März) lediglich verlauten, die Rückkehr zu Verhandlungen sei der einzige Ausweg aus diesem Wahnsinn.

Donnerstag morgen drangen IDF-Truppen in die Stadt Tulkarm in der Westbank ein und stellten das nahegelegene Flüchtlingslager Nour Shams unter Ausgangssperre, nachdem die Armee ihre Operationen in den besetzten Gebieten gemäß dem jüngsten Beschluss des Sicherheitskabinetts entsprechend intensivierte. Israelische Helikopter feuerten zwei Raketen auf ein palästinensiches Sicherheitsgebäude in der Stadt Halhoul in der Westbank. In Bethlehem feuerten F-16 Flugzeuge auf Einrichtungen der Palästinenser. Von dort wurde widerum die israelische Siedlung Gilo in Jerusalem beschossen, wodurch einige Wohnungen Schaden erlitten.

In Gaza feuerten sowohl Kampfschiffe von der See aus (wobei an einem palästinensischen checkpoint allein 13 Polizisten schwer verletzt wurden), als auch F-16 Flugzeuge aus der Luft. Bei einem Angriff auf den Sicherheits-Compound mitten in der Stadt wurden 10 Menschen verletzt. Der Angriff erfolgte, als in den umliegenden Schulen und der Universität der Lehrbetrieb im vollen Gang war.

Ein israelischer Kampfflieger beschoss ein palästinensisches Polizeihauptquartier in Gaza und verletzte mindestens zehn Menschen. Ein nahegelegenes Gebäude des palestinensischen Roten Halbmondes und eine von den Vereinten Nationen verwaltete Schule wurden dabei ebenfalls beschädigt. Bislang zählt der Tag mindestens drei Todesopfer.

Premierminister Ariel Sharon hatte am selben Mittwoch (06. März) verlauten lassen, dass die jüngsten militärischen Operationen Teil einer Kampagne seien. "Diese Kampagne", so sagte er "wird eine aggressive, kontinuierliche Kampagne sein, von der Israel nicht ablassen wird, bis die andere Seite versteht, dass sie mit Terror nichts erreichen kann, was die Rückkehr zu Verhandlungen erleichtern wird." In den vergangenen Tagen hatte Sharon mehrfach Statements dieser Art abgegeben. So wurde er im 1. Kanal der israelischen Fernsehens zitiert mit den Worten: "Wir müssen den Palästinensern erst einen sehr harten Schlag zusetzen, bevor wir über Frieden reden können." Diese und die Äußerung, man müsse die Zahl der palästinensichen Opfer erhöhen, erzielten jedoch eine ungewöhnlich deutliche Kritik von Seiten des US-amerikanischen Außenministers Powell, der in einem Gespräch mit einem Kommittee des Congress äußerte: "If you declare war on the Palestinians and think you can solve the problem by seeing how many Palestinians can be killed - I don`t know that leads us anywhere." Seine Kritik ausbalancierend, forderte Powell von Arafat, he "has to do more, can do more, must do more."

Ein Ende der Gewalt ist längst nicht in Sicht.

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Kirsten Maß ist Auslands-Mitarbeiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.