Arbeitsmarkt von Unten und die Instandbesetzung von Arbeitsplätzen

von Kali Balcerowiak

"Orientiert man sich an Menschenrechten und Demokratie, das heißt nimmt man deren notwendige materielle Bedingungen ernst, dann ist eine qualitativ andere Sozialpolitik möglich und nötig. Soziale Sicherung ist von einem einseitigen und weithin veralteten Arbeitsbegriff zu lösen." (Aus den "Alternativen zur Repressanda 2010", Grottian / Narr / Roth, Komitee für Grundrechte und Demokratie).

Was ist Arbeit? Bei den alten Griechen war Arbeit etwas Minderwertiges. Ein freier Bürger arbeitete nicht! Arbeit war für Unfreie, für Sklaven.

Ganz anders in der protestantischen Ethik! Hier wird Arbeit als "Werk Gottes auf Erden" hochgeschätzt. Ist das Werk Gott wohlgefällig, drückt sich das in Wohlstand oder Reichtum aus.

Im Zeitalter der Industrialisierung verengte sich der Arbeitsbegriff auf überwiegend männliche Erwerbsarbeit. Wenn ich "Arbeit" in Beziehung setze zu "Arbeitslosigkeit", wird "Arbeit" zu einer Stelle auf dem 1. oder 2. Arbeitsmarkt. Einenreichen Faulenzer wird deshalb niemand als "Arbeitslosen" bezeichnen - einen engagierten Bürgerrechtler, der von Sozialhilfe lebt und eine 50h-Woche hat, aber durchaus.

Kurz und gut: unser Arbeitsbegriff und erst recht unser Begriff von Arbeitslosigkeit stimmten nicht mehr. Kein Wunder, ist doch das Zeitalter der Industrialisierung, das diese Begriffe prägte, vorbei. In dem eingangs zitierten Papier heißt es: "Ein angemessenes Verständnis von Arbeit meint Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Erziehungsarbeit und vielfältige Formen soziokultureller Arbeit".

Unsere Welt und ganz zentral unsere Arbeitswelt ist in einem Umbruch, der in seinen Ausmaßen gerne mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft verglichen wird. Welchen Namen die postindustrielle Gesellschaft sich geben will, ist noch nicht ganz klar. Informationsgesellschaft? Wissensgesellschaft? Dienstleistungsgesellschaft? Beschäftigungsgesellschaft? 20:80-Gesellschaft? Aber für Millionen Menschen in unserem so außerordentlich reichen Land sind die Auswirkungen des Umbruches bereits mehr oder weniger drastisch spürbar: Sie werden zur ungeliebten Verschiebemasse einer Politik, die es versäumt hat, sich selbst und die ihr anvertrauten Bürgerinnen und Bürger auf den Wandel einzustellen.

Versagt haben auch Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschaftswissenschaften, die nun erste zaghafte Signale eines partiellen Umdenkens senden. So geschehen auf dem Perspektivenkongress vom 14. - 16. Mai 2004 in der Technischen Universität Berlin. Angesichts des rasanten Tempos, in dem die bürgerliche Zivilgesellschaft auseinander bricht und in feudale Herrschaftsmuster zurückfällt, nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Was geschieht mit den Langzeitarbeitslosen, die niemand haben will ? Was sollen die Kommunen mit den Langzeitarbeitslosen machen ? Eine Frage, die im Zusammenhang mit der anstehenden Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe massiv in die Öffentlichkeit der Republik gedrungen ist.

Eine Antwort heißt sicherlich: Arbeitsmarkt von Unten. Arbeit gibt es gerade auf kommunaler Ebene im sozialen, soziokulturellen und stadt- bzw. landschaftspflegerischen Bereich mehr als genug. Prof. Dr. Peter Grottian, Hochschullehrer am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, Mitautor der zitierten "Alternativen zur Repressanda 2010", plädiert für eine Lösung im großen Stil. "Zwei-Millionen-Arbeitsplätze von unten" sollen zunächst für drei Jahre aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Im Papier heißt es dazu: "Der zentrale Impuls besteht darin, Menschen mit ihren Qualifikationen, Motivationen und Möglichkeiten ernst zu nehmen ... Öffentliche und private Schwerpunkte sind festzulegen, bei denen ein hoher gesellschaftlicher Bedarf unterstellt werden kann."

Grottian rechnet dafür mit 30 Mrd. jährlich, was z.B. der Summe entspricht, die der Bund der Steuerzahler als Vergeudung öffentlicher Mittel nachweist.

Das aus der Betroffenenperspektive entwickelte, lokal verankerte Konzept für ein Pilot-Projekt im Berliner Problemkiez Moabit West ist den Ideen von Grottian verwandt. Eine selbstverwaltete "Personal-Service-Agentur" der anderen Art soll vor Ort 50 Stellen anbieten und begleiten. Erwerbslose Anwohner/innen können sich mit ihren individuellen Arbeitswünschen auf die bei Trägern und Einrichtungen zu erhebenden Bedarfe beziehen; sie können darüber hinaus im Rahmen des Möglichen eigene Infrastruktur- oder Kulturprojekte entwickeln.

Dieses Projekt kostet im Jahr ca. 1 Million. Die lokale Verankerung aller Mitwirkenden garantiert einen konzentrierten Leistungs-Input in denKiez. Über einen Zeitraum von drei Jahren lassen sich die Ergebnisse als sozialer Mehrwert evaluieren oder auch volkswirtschaftlich berechnen. So kann mit dem Pilot-Projekt Moabit West die Kaufkraft im Kiez stabilisiert, die Attraktivität des Wohnumfeldes erhöht, die Integration insbesondere von Migrant/innen befördert werden - Ziele, die mit den veröffentlichten Vorstellungen der Verwaltung Hand in Hand gehen. Die Fragebögen zur Bedarfserhebung bei Trägern und Einrichtungensowie zu möglichen Stellenprofilen sind im Rahmen der Projektentwicklung bereits erfolgreich getestet.

So gut und plausibel das alles klingen mag - für eine konkrete Umsetzung muss der Arbeitsmarkt von Unten noch einiges an Unterstützung, Wohlwollen und Aufmerksamkeit mobilisieren. Niemand traut sich so richtig, in Zeiten massiven Lohn-Dumpings ein selbstverwaltetes, kreatives Projekt mit relativ attraktiven Arbeitsbedingungen vom Stapel zu lassen. Lieber schickt man verstärkt Polizeistreifen in die Problemkieze und investiert in Pfefferspray und Schlagstöcke, um die alte Ordnung mit Gewalt aufrecht zu halten. Kiezkultur ade!

Oft ist derzeit von "Innovation" die Rede. Innovation heißt auch: innovative Arbeitsstrukturen, innovative soziale Strukturen, Freude am Neuen, Freude am gesellschaftlichen Experiment. Freude auch an einem neuen Typ von wirkungsvollen Protest- und Ausdrucksformen, die die konzeptionelle Arbeit begleiten müssen. Denn Papier reicht nicht, um die gesellschaftliche Erstarrung aus Angst, Bequemlichkeit und Verantwortungslosigkeit aufzubrechen!

Hierzu schlagen die "Alternativen zur Repressanda 2010" einiges z.T. schon Erprobtes vor:

    Instandbesetzungen von gesellschaftlich sinnvollen und konsensfähigen Arbeitsplätzen
 
 
    Spaziergänge zu den Wohlhabenden
 
 
    Armutsproteste wie Lumpen-Demonstrationen oder Schwarzfahr-Aktionen
 
 
    Symbolische Schließung von Arbeitsämtern
 
 
    Arbeitsämter bezeichnet Grottian als "Teil des Problems und nicht der Lösung". Daran ändert auch die teure Umbenennung von "Amt" in "Agentur" nichts.

Last but not least ein Bündnis progressiver Kräfte außerhalb und innerhalb der Institutionen:
 

 
    Gewaltfreier ziviler Ungehorsamvon denjenigen, die in den Institutionen nicht mehr loyal sein können oder wollen, z.B. Jugendarbeiter/innen, die 150 Jugendliche betreuen sollen, Hochschullehrer/innen, die mit 120 Studierenden Seminare gestalten sollen, Sozialbeamt/innen, die 180 Sozialhilfeempfänger/innen betreuen sollen ...
 
 
    Gewerkschaften, aufgepasst! Hier ist gewerkschaftliche Unterstützung gefragt!

Jeder von uns lebt, jeder von uns arbeitet und macht damit ganz eigene Erfahrungen. Können wir die fälligen Neudefinitionen und Restrukturierungen satten Funktionären und Bürokraten überlassen? Nein! Das ist eine Aufgabe, die uns alle angeht und zu der jede und jeder etwas beizutragen hat. Vor allem Betroffene sollen einbezogen und gehört werden. Demokratische Politik darf nicht zum Selbstzweck oder zur Handlangerin einseitig wirtschaftlicher Interessen verkommen. Eine Gesellschaft ist soviel mehr als ein Wirtschaftsunternehmen! Nachhaltigkeit, Menschenrechte und die in unsererVerfassung garantierte Menschenwürde müssen zur Richtgröße politischer Entscheidungen werden. Wir sind ein sehr reiches Land und können es uns leisten, neue Wege in eine neue Gesellschaft zu suchen.

Sind wir uns - arm, wohlhabend oder reich - in diesen Zeiten eines hochdramatischen gesellschaftlichen Umbruchs der Wichtigkeit unseres Beitrages und unserer Verantwortung für die Gestaltung des gesellschaftlichen Prozesses bewusst? Die Geschichte gehört uns ... oder auch: es gibt nichts Gutes, außer man/frau tut es.

Die "Alternativen zur Repressanda 2010" sind erhältlich beim Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7-11, 50670 Köln, Tel.: 0221-9726930, Fax: 931, mail: info [at] grundrechtekomitee [dot] de

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Kali Balcerowiak ist Künstlerin und Heilpraktikerin mit vielfältiger Projekt-Erfahrung. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2000 Schwerpunkt "Soziale Skulptur" nach Joseph Beuys. 2002/2003 Projekt-Entwicklung "Arbeitsmarkt von Unten - Pilotprojekt Moabit West". "Arbeitslos" seit 1996.