Atomkraft – riskant, teuer, unnötig

von Thomas Breuer

Derzeit laufen weltweit rund 440 Atomkraftwerke, 440 tickende Zeitbomben.(1) Der Anteil von Atomenergie am weltweiten Primärenergieeinsatz beträgt nur etwa sechs Prozent und wird selbst in einem „business as usual“-Szenario bis 2050 auf etwa demselben Niveau verharren.(2) Dieser unbedeutende Anteil rechtfertigt nicht das in Kauf nehmen der Risiken und ungelösten Problemen, die mit der Atomkraft verbunden sind und die bei keiner anderen Energiegewinnungsform derart hoch und unüberschaubar sind.

Atomkraft trägt kaum zur Deckung des weltweiten Energiebedarfs bei, verursacht aber ungeheuere Probleme. Beim Uranabbau entstehen riesige Abraumhalden, in den Abbaugebieten und durch die Uranaufarbeitung gelangen giftige (zum Beispiel Arsen) und radioaktive Stoffe in die Umwelt.(3) Da das Natururan nicht ausreichend spaltbares Uran 235 besitzt, muss es angereichert werden. Bei diesem Prozess entstehen wieder riesige Abfallberge mit abgereichertem Uran. Viele Jahre wurde abgereichertes Uran aus der deutschen Anreicherungsanlage Gronau als Uranhexafluorid nach Russland exportiert, offiziell deklariert als „Rohstoff“, faktisch Atommüll, der dort in Transportbehältern unter offenem Himmel vor sich hinrottet.(4)

Auch der Betrieb von Atomkraftwerken ist ein unübersehbares Risiko. Allein in Deutschland hat es seit dem Beginn der Nutzung der Atomkraft über 5.950 Störfälle in Atomkraftwerken gegeben.(5) Spätestens seit dem 11. September 2001 ist das Terrorrisiko mindestens ebenso gefährlich wie ein katastrophaler Unfall einzuschätzen. Kein Atomkraftwerk weltweit würde den gezielten Absturz einer größeren Verkehrsmaschine überstehen.(6) Nicht zuletzt deshalb klagt Greenpeace auf Stilllegung deutscher Atomkraftwerke an verschiedenen Standorten.(7)

Wiederaufbereitungsanlagen, die einen „geschlossenen Brennstoffkreislauf“ suggerieren und jahrelang offizieller Entsorgungsnachweis der deutschen Atomindustrie waren, stellen schon im Normalbetrieb eine enorme Umweltbelastung dar. In den sogenannten Wiederaufbereitungsanlagen werden abgebrannte Brennstäbe chemisch zerteilt mit dem Ziel, radioaktive Stoffe wie Plutonium und Uran aus dem Gemisch wieder herauszulösen. Radioaktive Abwässer und -lüfte gelangen durch diese Prozesse in die Umwelt. Transporte radioaktiven Materials quer durch mehrere Länder gefährden Mensch und Umwelt. Und: Wer eine Wiederaufbereitungsanlage betreibt, hat Zugang zum Atombombenstoff Plutonium. Alleine in der Anlage La Hague in Frankreich lagern inzwischen über 70 Tonnen Plutonium – immerhin der Stoff für fast 12.000 Atombomben.(8) Und auch am Ende der Atomkraftkette ist die Menschheit mit nicht lösbaren Problemen konfrontiert. Bis heute gibt es weltweit kein Endlager für hochradioaktiven Atommüll. Die Atomindustrie ist nicht einmal in der Lage, mit schwach- und mittelradioaktivem Atommüll umzugehen, das zeigt das Atommülldebakel in der Asse in Niedersachsen (9) oder auch das leckende Atommülllager Centre Stockage de la Manche in der Normandie in Frankreich.(10)

Atomkraftentwicklung weltweit
Eingehend haben wir mehr als ausreichend Gründe genannt, sich aus der Atomkraft so schnell wie möglich zu verabschieden bzw. erst gar nicht einzusteigen. Von 192 UN-Mitgliedsländern betreiben 29 Länder Atomkraftwerke. Laut der World Nuclear Association gibt es 14 Länder, in denen Reaktoren gebaut werden, wobei darunter Länder wie Brasilien und Argentinien sind, deren Reaktorbaustellen schon über 20 Jahre alt sind. Ähnliches gilt für die russischen Reaktorbaustellen, die in der Statistik aufgeführt sind.

Nur ein einziges Land, nämlich der Iran, wäre ein neues Atomkraft betreibendes Land. An dem Konflikt über das iranische Atomprogramm erkennt man im Übrigen, wie wenig die sogenannte „zivile“ Nutzung der Atomkraft von der militärischen Nutzung der Atomkraft zu trennen ist. Und man erkennt in erschreckender Weise, wie wenig es sich die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) zutraut, tatsächlich die nuklearen Stoffströme und Atomanlagen überwachen zu können.

In marktwirtschaftlich organisierten Energiemärkten, wie beispielsweise in England und in Teilen der USA, ist nicht mit Neubauten von Atomreaktoren zu rechnen – es sei denn, die jeweilige Regierung subventioniert diese massiv. In den osteuropäischen Beitrittsländern der EU scheitern neue Atomkraftwerksprojekte regelmäßig an deren Finanzierung. Das bedeutet, dass Investoren die Atomkraft ohne eine weitgehende staatliche Übernahme der Risiken nicht attraktiv finden.

Die einzigen Länder in Westeuropa, in denen es derzeit Baustellen für Atomkraftwerke gibt, sind Finnland und Frankreich. In beiden Fällen stehen die Bauherren schon während der Bauphase vor erheblichen technischen und finanziellen Problemen. Der Reaktor im finnischen Olkiluoto, für 3,2 Milliarden Euro budgetiert, lag schon Mitte 2010 bei geschätzten 5,9 Milliarden Euro.(11) Ähnliches passiert gerade auf der Baustelle Flamenville in der Normandie in Frankreich, wo die ursprüngliche Kostenschätzung von vier Milliarden Euro bis Mitte 2010 bereits auf fünf Milliarden Euro gestiegen ist.(12)

Die einzigen Länder, die tatsächlich massiv in neue Atomkraftwerke investieren (bzw. investieren wollen), sind China und Indien. Bewertet man den Begriff „massiv“ jedoch im indischen oder chinesischen Wachstumskontext, wird eines sehr schnell deutlich: Es handelt sich nicht um eine bewusste Wachstumsstrategie für Atomkraft, sondern um einen nicht kritisch hinterfragten Teil des Ausbaus sämtlicher Energiegewinnungsmöglichkeiten. Würden Länder wie China und Indien den Ausbau der Atomkraft kritisch durchleuchten, würden sie feststellen, dass sie sich damit unlösbare Probleme ins Land holen, den Ausbau ihrer Energieversorgung verlangsamen und sich zudem abhängig machen von Uranlieferungen – denn Uran gibt es weder in Indien noch in China in ausreichender Menge.

Der Fall Jaitapur, Indien
Exemplarisch möchte ich hier kurz auf den geplanten Bau von zunächst zwei Europäischen Druckwasserreaktoren (EPR) des französischen Atomkonzerns Areva in Jaitapur, an der Westküste Indiens, eingehen.

Das erste Problem – neben den eingangs erwähnten Problemen der Atomkraft an sich – ist, dass die Reaktoren in einem Gebiet geplant sind, das als „high risk“ Erdbebenzone eingeschätzt wird.(13) Das zweite Problem ist, dass es in Indien keine unabhängige Atomaufsicht gibt. Das indische Atomic Energy Regulatory Board (AERB) wird von einem ehemaligen Manager der staatlichen Atomkraftgesellschaft NPCIL geleitet, die Betreiberin der Jaitapur Atomanlage sein wird. Die Atomaufsicht AERB berichtet an das Department of Atomic Energy (DAE), das wiederum der Eigner von NPCIL ist. Die Tatsache, dass es keine unabhängige Atomaufsicht gibt, bedeutet ein erhebliches Sicherheitsproblem.

Dies ist aber keineswegs spezifisch für Indien, auch hier in Deutschland gibt es interessante personelle Kreisschlüsse: Indem Bundesumweltminister Röttgen den ehemaligen Atommanager Gerald Hennenhöfer Ende 2009 zum Chef der deutschen Atomaufsicht gemacht hat, sorgte er dafür, dass durch die personelle Vermischung die Unabhängigkeit der Atomaufsicht in Frage gestellt ist. Auch in Baden-Württemberg gibt es de facto keine unabhängige Atomaufsicht mehr. Ministerpräsident Mappus kaufte den Atomkonzern Energie Baden Württemberg (EnBW) für das Bundesland, so ist auch hier die künftige Unabhängigkeit der Atomaufsicht zu bezweifeln. Umso mehr, als die erheblichen Schulden, die Baden-Württemberg für diesen Kauf aufnehmen muss, durch die Dividenden gedeckt werden müssen. Hier gibt es nun erhebliche Zielkonflikte für die Landesregierung.

Aber zurück nach Indien: Ein weiteres Problem für die indische Atomaufsicht ist, dass das Land 20 Atomreaktoren betreibt, von denen die zwei größten 540 MW Kapazität aufweisen. Ein EPR hat eine Kapazität von 1.650 MW, also eine Größenordnung, für die es im Land noch keinerlei Erfahrung gibt.

Der EPR wird in Indien erstaunlicherweise 30 Prozent billiger angeboten, als er in Europa oder Nordamerika kosten würde. Dieser massive Preisunterschied ist nicht mit günstigeren Arbeitskosten in Indien zu erklären – denn der Bau eines Atomkraftwerks bedarf hoch spezialisierter Zulieferer, und der Großteil der Kosten entsteht durch die Produktion der technischen Bestandteile und der Bestandteile aus der Schwerindustrie (wie beispielsweise den Druckbehälter). Die Produktion vieler Bestandteile ist von Areva sowieso schon in Niedriglohnländer und den dortigen Zulieferern verlagert worden. Das bedeutet, der Bau startet schon unter einem erheblichen Kostendruck. Das lässt keinen Raum für hohe Sicherheitsanforderungen.(14)

Die Menschen in Jaitapur wehren sich vehement gegen den ihnen aufoktroyierten Bau der Atomreaktoren. In der Region leben Familien vom fruchtbaren Ackerland und vom Fischfang. Ihre Lebensgrundlage sehen die Menschen durch das geplante Atomkraftwerk bedroht.(15)

Ausblick
Atomkraft hat keine Zukunft in einem modernen Energiesystem. Anders als bei anderen Industrien ist die Lernkurve bei der Atomenergie negativ. Das bedeutet, dass Atomreaktoren – anders als beispielsweise Windräder und Solarzellen – immer teuerer werden.(16) Garrett-Peltier und Pollin von der Universität von Massachusetts haben für die USA festgestellt, dass der Bau von Atomkraftwerken (im Vergleich zu anderen Infrastrukturmaßnahmen wie beispielsweise dem Bau von Windkraftanlagen oder Solaranlagen) deutlich weniger neue Arbeitsplätze pro eine Million Dollar Investition schafft.(17)

Die Menschheit darf nicht unnötig den Gefahren und ungelösten Problemen der Atomkraft ausgesetzt werden. Der Bedrohung durch den Klimawandel, ein Argument, das gerne für die Atomenergienutzung herangezogen wird, muss mit dem Ausbau erneuerbarer Energien und deren Effizienz sowie cleveren Energienetzen entgegen getreten werden. Nur die Erneuerbaren sind in der Lage, ausreichend Strom für den Energiebedarf der Welt zu produzieren, und sie können gleichzeitig einen enormen Beitrag zur Entwicklung leisten. Beispielsweise könnten mit solarthermischen Kraftwerken auf nur 0,4 Prozent der Fläche der Sahara der gesamte europäische Energieverbrauch gedeckt werden.(18) Afrika könnte so zum Energieexporteur werden.

Zudem ist ein weltweiter Atomausstieg unabdingbare Voraussetzung zur weltweiten atomaren Abrüstung. Jedes Land, das – wie beispielsweise Deutschland – eine Atomwirtschaft besitzt, ist über kurz oder lang auch in der Lage, eine Atombombe zu bauen.

 

Anmerkungen
(1) http://www.world-nuclear.org/info/reactors.html

(2) http://www.energyblueprint.info/fileadmin/media/documents/2010/0910_gpi_..., Seite 214

(3) http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/atomkraft/uran..., Seite 27 ff

(4) http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/002/1700253.pdf, Seite 5

(5) http://www.bfs.de/de/kerntechnik/ereignisse/berichte_meldepflichtige_ere..., Zusammenstellung aus allen BfS Berichten

(6) http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/atomkraft/gree...

(7) http://www.greenpeace.de/themen/atomkraft/nachrichten/artikel/keine_chan...

(8) Bei 5kg 14.000.

(9) http://www.greenpeace.de/themen/atomkraft/nachrichten/artikel/maengel_in...

(10) http://www.greenpeace.de/themen/atomkraft/nachrichten/artikel/grabungsar...

(11) http://www.greenpeace.org/international/en/news/Blogs/nuclear-reaction/a...

(12) http://www.nuclearcounterfeit.com/?p=3603

(13) http://www.greenpeace.org/international/Global/international/publication..., Seite 1

(14) ebda, S. 4

(15) http://www.greenpeace.org/india/en/news/Feature-Stories/Villagers-protes...

(16) http://www.vermontlaw.edu/Documents/IEE/20100909_cooperStudy.pdf, Seite 18

(17) http://adpartners.org/tables/Job_Creation_for_Investment_-_Garrett-Pelti...

(18) http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/atomkraft/Stud..., Nitsch, Dr. Joachim, Seite 12

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Thomas Breuer ist Leiter des Energie- und Klimabereichs bei Greenpeace.