"...aber nicht die Kraft, die sie schuf!"

Auf den Spuren des Widerstandes im Wendland

von Ingrid Link-Lowin
Initiativen
Initiativen

"Unsere Hütten können sie zerstören, aber nicht die Kraft, die sie schuf!" Mit diesen Worten hat Birgit per Lautsprecher am Sonntag (23.04.95) in Dannenberg während des illegalen und völlig unverhält­nismäßigen Polizeieinsatzes  gegen "VERLADENIX", eines frisch aufge­bauten Anti-Atomdorfes, auf die äußere Zerstörung der "Republik Freies Wendland" vor fast genau 15 Jahren und damit gleichzeitig auf die lange Geschichte des Widerstandes hingewiesen.

Gerade in jenen Apriltagen, an denen der Atomstaat seine Maske hat fallen lassen müssen, habe ich diese Kraft in­tensiv und vielfältig gespürt. Es ist die Kraft der Lebendigkeit, die besonders spürbar ist im "Land der Lebendigen". Diese Lebendigkeit aber ist ansteckend. Vielleicht ist dies auch mit ein Grund, warum die Polizei und der Bundes­grenzschutz sich so vor gewaltfreien, aber lebendigen Bürgerinnen und Bür­gern, haben schützen und panzern müs­sen. Vielleicht kam es deswegen auch immer wieder zu verbalen und tätlichen Angriffen auf den phantasievollen Wi­derstand - das, was "man" fürchtet, sollte "unschädlich" gemacht werden. Vielleicht wird deswegen auch mehr von "eingeschleusten" Gewalttätern und ihren Provokationen geredet als von dem gewaltigen Protest.

Aber auch viele Polizistinnen und Poli­zisten sind infiziert worden. Sie haben diese Lebendigkeit erkannt und sind sich gleichzeitig des Wahnsinns bewusst geworden, z.B. nach 14-stündigem Dienst mit Körperpanzer, Helm, Schild und Schlagstock einen Haufen von Holzbrettern (so an dem gleichen Sonntag in Dannenberg) u.a. vor auf der Wiese lagernden Familien bewachen zu müssen.

Andere waren noch stärker infiziert, ha­ben den Befehl "Polizeikette marsch!" und "Knüppel frei!" bewusst überhört, die Schilder an den Rand gestellt, die Helme abgenommen und erst dann an­gefangen, Sitzende wegzutragen. Es gab auch Polizitinnen und Polizisten, die "sachdienliche Hinweise" gegeben ha­ben, wann, wie und wo das Querstellen am sinnvollsten sei.

Nun, dies soll nicht das Bild der Polizei und erst recht nicht das sich jetzt wieder abzeichnende Bild eines neuen Polizei­staates verschönern, aber da jedes "Rädchen" im Polizeiapparat, ob zivil oder in Uniform, auch noch Mensch sein möchte, ist es "infizierbar".

Lebendigkeit schließt Leiden mit ein. Dieser Satz wäre leichter zu schreiben, hätten ich nicht die Folgen der brutalen Stock-, Schild- und Wasserwerferein­sätze selbst gesehen. So wünschen ich z.B. der Bäuerlichen Notgemeinschaft viele finanzstarke Solidaritätsbekun­dungen, damit die Trecker wieder auf dem Feld und der Straße (!) einsatzbe­reit sind, und all denen, die (nicht nur) körperlich verletzt worden sind, baldige Besserung und daß anstelle von Hass weiterhin Entschlossenheit, Phantasie, Kraft und Ausdauer wachsen.

Schon die Anzeigenwelle in der Elbe-Jeetzel-Zeitung im vergangenen Som­mer* hatte die Verwurzelung des Pro­testes in allen Altersgruppen und gesell­schaftlichen Gruppierungen gezeigt und das Wendland als "Lernort einer neuen politischen Kultur" erkennen lassen.

Jetzt wurde eigentlich "nur" das ge­macht, was schon lange angekündigt worden ist: "Wir stellen uns quer!"

Es war bewegend, wie heiter und unbe­waffnet eine Entschlossenheit gezeigt habt, die die Einsatzleitungen immer wieder aus dem Konzept gebracht ha­ben. Sie sind ausgebildet und ausgerü­stet, mit "Gewalttätern" umzugehen. Vielleicht wurde deswegen auf unter­schiedlichen und z.T. sehr dubiosen Wegen versucht, die Bevölkerung als gewalttätige Chaoten darzustellen, um den eigenen chaotischen Polizeieinsatz zu rechtfertigen.

Vielmehr hat sie als tätiger Verfas­sungsschutz überall dort Zivilcourage gezeigt, wo Grundrechte verletzt, Ei­gentum missachtet, willkürliche Polizei­sperren errichtet und Bürgerinnen und Bürger eingeschüchtert werden sollten, also überall dort, wo sich die Polizei als Besatzungstruppe verstanden und ver­halten hat.

Es gab aber auch dort Zivilcourage, wo vermittelt wurde und angesichts der Fratze eines Polizei- und Atomstaates Schritte der Deeskalation nur sehr schwierig geworden waren. "Pastor ge­gen Castor" und Pastor mit erhobenen Händen zwischen einsatzbereiten Was­serwerfern und sitzenden Demonstran­ten - diese leider ungewohnte und so bisher noch nicht erlebte Rolle von Kir­che und Pastoren ist sehr beeindruckend gewesen.

Die Schülerinnen und Schüler, die mit dem Transparent "Wir Schüler stellen uns quer, denn wir wurden gelehrt vor­auszudenken" ihren Unterricht verlassen und in Lüchow den Verkehr zum Erlie­gen gebracht haben, sind ein Beispiel für gelungene "Politische Bildung", ei­ner Bildung, die im totalitären Erzie­hungsumfeld z.B. von Ministerin Mer­kel oder des Bundesinnenministers überhaupt nicht vorstellenbar ist - was ja auch deutlich erkennbar ist.

Der Widerstand im Wendland richtet sich nicht nur gegen etwas, gegen den Wahnsinn einer menschenverachtenden Atompolitik, sondern er ist auch Pro-test, Zeugnis für eine menschlichere Welt.

Dieses Zeugnis ist - vielfältig und an vielen Orten - abgelegt worden. Die Heiterkeit und Gelassenheit bei gleich­zeitigem tatkräftigem Miteinander zeigt, was vielerorts bereits verloren ist.

Vor allem ist der Widerstand verwur­zelt, verwurzelt in der langjährigen Ge­schichte eines phantasiereichen Wider­standes, aber auch in dem Boden eines Landes, in dem zwar nicht "Milch und Honig fließen", aber Kraniche brüten und Nachtigallen singen, wie z.B. (trotz des Schlagstockeinsatzes der Polizei um Mitternacht, als der Castor schon vier Stunden unterwegs war) am Dannenber­ger Ostbahnhof.

Erstaunlich auch, daß beim Widerstand die Sinne noch nicht verloren gegangen sind. So wurde diese Nachtigall auch von denen gehört, die soeben noch ei­nem Polizeikessel entkommen konnten!

Neben dieser Verwurzelung mit und in der Natur haben sich die Widerständler aber auch gegenseitig verwurzelt, z.B. durch die vielen neu gebildeten CA­STOR-Gruppen mit ihren engen sozia­len Verflechtungen - ein idealer Nähr­boden für eine neue politische Kultur.

Außerdem sind sie verwurzelt in der Bevölkerung - anders und viel stärker als z.B. vor 15 Jahren bei der Räumung der "Republik Freies Wendland". Hierzu gibt es viele mutmachtende Geschich­ten.

Noch nie habe ich so viele Menschen weinen gesehen. Aber es waren nicht die Tränen der Verzweiflung und der Resignation, sondern Tränen der Trauer, Trauer angesichts der Unmenschlichkeit des Atomstaates und der Unfähigkeit unserer Volksvertreter, die Demokratie vor der Atommafia zu schützen, und der Unfähigkeit der Polizei, Bürger und Bürgerinnen vor der Verantwortungslo­sigkeit der Atompolitiker zu schützen.

Es sind aber auch Tränen, die einem Gemisch von leidenschaftlicher Liebe und Mitgefühl entspringen, Tränen, die Schöpferkräfte enthalten.

In diesem Sinne sind die Tränen nicht umsonst geweint, sondern geben Kraft, das Not-wenige zu tun, Kraft zu einem Lachen, "das sie besiegen wird".

 

Ausgabe

Rubrik

Initiativen