Beobachterdelegation zum Newroz-Fest in der Türkei vom 18.3. bis 23.3.1994

von Ingrid Rössel-Marxsen
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Etwa 300 BeobachterInnen haben Türkisch-Kurdistan zu NEWROZ und den Kommunalwahlen besucht. Auch der Trägerkreis "Kurdistan: Schweigen tötet - Frieden jetzt!" hatte BeobachterInnen entsendet. Aus den ausführlichen Berichten zitieren wir hier in Ausschnitten Ingrid Rössel-Marxsen (Pax Christi).

Samstag, den 19.3.1994

Gespräch im neuen Parteibüro der DEP (Demokratische Kurdische Partei):

Am 18.2.1994, vor 4 Wochen, wurde ein Bombenattentat auf das Parteibüro der DEP in Ankara ver­übt - am Tag der Festlegung der Kandidaten. Es war rei­ner Zufall, daß es nur einen Toten gab, da das Büro an einer belebten Ge­schäftsstraße untergebracht war. Alle Parteimitglieder hatten das Haus eine halbe Stunde vorher verlassen, da die Sitzung früher zu Ende war! Das ge­samte Haus, auch das Büro der kurdi­schen Zeitung AZADI wurde zerstört.

Im gleichen Zeitraum wurde der Gene­ralsekretär der DEP nachts in seiner Wohnung überfallen und in einem Ku­gelhagel von 5 Kugeln schwer verletzt - dies geschah ebenfalls in Ankara.

Diese Anschläge auf die Mitglieder der DEP sind symptomatisch für die ge­samte Türkei.

Seit Gründung der HEP, der Vorgänger­partei, wurden bisher über 70 Mitglieder von unbekannten Tä­tern umgebracht, 20 Parteizentralen mit Brandsätzen ange­griffen sowie während der Wahlkampa­gne 350 Funktionäre/Kandidaten der DEP verhaftet.

Neben diesen direkten physischen An­griffen kommen juristische und staatli­che, wie das Anti-Terror-Gesetz, das jede Erwähnung des kurdischen Pro­blems mit hohen Geld- und Haftstrafen als Separatismus verurteilt, so daß von Meinungsfreiheit keine Rede sein kann.

Fast alle DEP und PSK-Mitglieder, mit denen wir sprachen, sind bereits nach diesem Gesetz verurteilt worden bzw. erwarten noch ihre Prozesse und Stra­fen.

Aufgrund dieses massiven Druckes von seiten des Staates hat sich die DEP von den Wahlen zu­rückgezogen, da sie eine faire Wahl nicht gewährleistet sieht, da viele ihrer Kandidaten gar nicht an­treten können. Frau Çiller wertete dies öffent­lich als "großen Erfolg".

Gespräch mit dem IHD (Menschen­rechtsverein) in Ankara:

Wir führen das Gespräch mit dem Vor­sitzenden des IHD.

Der IHD dokumentiert nicht nur Men­schenrechtsverletzungen in der ge­samten Türkei, sondern ver­sucht auch mit Hilfe von Rechtsanwälten eine Rechtsvertretung der Opfer zu leisten.

Diese Rechtsvertretung geschieht ehren­amtlich durch Rechtsanwälte, die dann oft selbst verfolgt  bzw. mit Prozessen überzogen werden.

Seit Gründung des IHD wurde jedes Jahr ein Jahresbericht herausgegeben. Im Moment eskalieren die Menschen­rechtsverletzungen jedoch derartig, daß der IHD nun Monatsberichte heraus­bringt!

Im Februar 1994 wurden

-     877 Personen festgenommen (U-Haft in Polizeistationen bis zu 15 Ta­gen, in den Gebieten des Ausnahmezu­standes 30 Tage)

-     150 Personen tatsächlich verhaftet mit Haftgrund (nach den 15 bzw. 30 Tagen Polizeihaft)

-     16 Menschen in U-Haft getötet

-     29 Menschen sind nach der Fest­nahme verschwunden

-     39 Menschen wurden durch Unbe­kannte ermordet

-     18 Publikationen wurden beschlag­nahmt

-     4 Organisationen und Parteien wur­den verboten, darunter die GRÜNEN (10.2.1994)

-     gegen Journalisten wurden 664 Mo­nate Haft beantragt

-     68 Journalisten befinden sich zurzeit in Haft

-     Brandsätze, Bomben wurden gegen 15 Organisationen, Parteien, Vereine gerichtet

-     17 Dörfer wurden entvölkert

Diese Monatsberichte werden auch an die türkische Regierung geschickt - bis­her ohne jede Reaktion.

Die Menschenrechtsverletzungen seien jetzt schlimmer als Anfang der 80er Jahre nach dem Militärputsch. Anschei­nend seien ökonomische Interessen der westlichen Länder, v.a. Deutschlands, wichtiger als die Wahrung der Men­schenrechte.

Seit 2 Jahren gibt es Delegationen aus dem Ausland zum Newroz-Fest: 1992 gab es 94 Tote, 1993 gab es wenige Tote (durch das Waffenstillstandsange­bot der PKK, Özals vorsichtigem Kurs und vielleicht auch dadurch, daß durch Delegationen Kräfte gebunden waren). Dieses Jahr werden wieder Schwierig­keiten erwartet. 1995 soll Newroz dann offiziell erlaubt werden.

Gespräch mit einem IHD-Anwalt aus Cizre, gehört dem Hauptvorstand des IHD an:

Er spricht in Türkisch, wie alle unsere Gesprächsteilnehmer, obwohl auch ein kurdischer Dolmetscher anwesend ist.

Viele Einwohner haben Cizre seit dem Massaker durch türkische Militärs im August 1992 verlassen. Seit kurzer Zeit ist Cizre eine tote Stadt. Die Bewohner werden Newroz nicht in Ruhe feiern können. Seit 1990 bis jetzt finden An­griffe auf die Bevölkerung der Stadt statt. Vor 10 Tagen gab es wieder einen Angriff auf Cizre, bei dem Werkstätten zerstört wurden. Einen Tag nach diesem Angriff wurden 5 "normale" Menschen in der Stadt einfach erschossen, hinge­richtet.

Die Stadt ist zerstört. Die Bevölkerung ist zum größten Teil nach Gaziantep, Mersin, Antalya, Iskenderum geflüchtet. Bei der Ausreise mußten die Flüchtlinge unterschreiben, daß sie von der PKK verfolgt wurden, nur dann durften sie die Stadt verlassen.

Es herrscht ein Klima der Angst. Die Überwachung durch die Sicherheits­kräfte sei sehr groß, es werde Psychoter­ror ausgeübt, Autos ohne Kennzeichen fahren durch die Straßen. Ehemalige PKK-Leute seien nach dem Eingeständ­nis von Straftaten "umgedreht" worden, so daß sie nun als Zivile für die Sicher­heitskräfte arbeiten. Diese Leute seien, ähnlich wie die Dorfwächter, besonders gefährlich, da sie die Bevölkerung und die Verhältnisse gut kennen. Es herrsche ständige Angst vor Denunzia­tion und Verhaftung.

Jedes Haus in Cizre hat Schäden durch die Angriffe, es gibt kein unbeschädig­tes Haus mehr. U.a. haben auch deut­sche Panzer diese Häuser zerstört. Al­lein sein Haus weise 2.000 Einschüsse auf. Er habe in seinem Büro 3 Kilo an nur auf sein Büro abgefeuerten Kugeln gesammelt. Er erwartet von Deutschland Hilfe und keine Panzer und Waffen, die kurdische Städte zerstören.

Er begrüßt ausdrücklich die Delegatio­nen. Sie helfen, eine friedliche Lösung zu finden, bei der Kurden und Tür­ken friedlich zusammenleben können.

Es gilt, den Krieg in der Türkei zu stop­pen, der eine Katastrophe für das ge­samte Land darstellt.

Dringend notwendig wäre, daß die tür­kische Regierung diesen blutigen und schmutzigen Krieg mit einem Waffen­stillstandsangebot stoppt und Verhand­lungen aufnimmt mit von KurdInnen bestimmten VertreterInnen, um so auf dem Verhandlungsweg eine Lösung des Konfliktes zu erreichen.

Die deutsche Regierung muß sofort ihre Rüstungslieferungen und militärische Zusammenarbeit mit der Türkei stop­pen. Im Moment ist die bundesdeutsche Regierung Komplizin der Vertreibung und Ermordung der kurdischen Bevöl­kerung sowie aller oppositionellen Kräfte in der Türkei.

Besonders zynisch ist es daher, die vor bundesdeutschen Waffen bei uns um Schutz nachsuchenden kurdischen AsylbewerberInnen wieder in die Türkei zurück abzuschieben, da dort offen­sichtlich die Anti-Folter-Konvention von der Türkei nicht eingehalten wird. Eine Abschiebung von kurdischen ab­ge­lehnten AsylbewerberInnen in die Tür­kei stellt damit einen Bruch der Genfer Flüchtlingskonven­ti­on und der Konven­tion über Menschenrechte dar, da ihnen dort mit großer Sicherheit Folter und menschenrechtswidrige Behandlung drohen. Im Übrigen wurde das Anti-Ter­ror-Gesetz um einen neuen Zusatz er­weitert, der erhöhte Haftstrafen (3-6 Jahre) für im Ausland betriebene sepa­ratistische Propaganda vorsieht. Fälle über abgeschobene, in der Türkei sofort festgenommene und gefolterte Asylbe­werberInnen liegen mir vor. Um inter­nationalen Rechtsabkommen gerecht zu werden, ist ein Abschiebestopp für die Türkei dringend erforderlich.

Weiterhin wäre ein Einsatz bei der UNO notwendig, damit den KurdInnen der Status einer Kriegspartei zuerkannt wird, so daß sie in Verhandlungen mit der türkischen Regierung eintreten kön­nen.

Jede/r einzelne der deutschen Bevölke­rung hat die Möglichkeit, aktiv etwas für die KurdInnen in der Türkei zu tun:

1.    Bis zur Beendigung des Krieges ge­gen die KurdInnen sollte kein/e Deutsche/r Urlaub in der Tür­kei ma­chen, da die Militärs über Fonds di­rekt am Tourismus mitverdienen und die Einnahmen aus dem Tourismus eine der größten Einnahmequellen der Türkei darstellen. Ein Ausbleiben der Devisen, mit denen der Krieg fi­nanziert wird, würde den Druck auf die Türkei erhöhen und die Chance steigern, daß der Krieg beendet und friedliche Lösungen angestrebt wer­den.

2.    Wir können von hier aus die friedli­chen, humanitären und Menschen­rechtsorganisationen noch stärker als bisher unterstützen, besonders auch durch finanzielle Hilfen, wie z.B. die kurdischen Parteien, die Behand­lungszentren für Folteropfer, die Stiftung für die kurdischen Gebiete.

 

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