Verdachtsunabhängige Kontrollen durch den Bundesgrenzschutz

BGS: Karriere zur Bundespolizei?

von Martina Kant
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September 1998: Die im Mai vom Bundestag verabschiedete Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes tritt in Kraft. Der Bundesgrenzschutz erhält die Befugnis, verdachtsunabhängige Kontrollen im Zugverkehr vorzunehmen. Diese Kompetenzerweiterung wird damit gerechtfertigt, dass die grenzüberschreitende illegale Einwanderung und organisierte Kriminalität, nachdem die Binnengrenzen zwischen den Schengenstaaten weggefallen sind, zugenommen habe. Die Grenzsicherung als "Einwanderungs- und Kriminalitätsfilter" wird nunmehr ins Landesinnere verlagert. Dem Bundesgrenzschutz wurden in den letzten Jahren nach und nach zusätzliche Aufgaben übertragen (bereitschaftspolizeiliche Unterstützung, Übernahme bahnpolizeilicher Aufgaben und der Luftverkehrssicherheit, internationale Polizeimissionen). Die Novelle des Bundesgrenzschutzgesetzes ist ein weiterer Schritt, den Bundesgrenzschutz systematisch zu einer Bundespolizei aufzurüsten.

"Ich bin fassungslos", entrüstet sich ein 37jähriger Iraner mit langen schwarzen Haaren, "mein Aussehen ist der einzige Grund dafür, dass ich kontrolliert werde". Auch ein anderer Reisender in einem bayerischen Nahverkehrszug schimpft auf die Polizei: "Die kontrollieren nur Randgruppen, Ausländer, sozial Schwache und solche, die den Mund aufmachen. Das ist eine Schweinerei."

"Schleierfahndung" oder "verdachtsunabhängige Kontrolle" heißt die Befugnis des Bundesgrenzschutzes (BGS). Seit September 1998 kann der BGS auch in Zügen, auf Bahnhöfen und Flughäfen mit internationalem Verkehr außerhalb des 30 km breiten Grenzstreifens jede Person ohne konkreten Verdacht nach ihrem Ausweis fragen und ihr Gepäck "in Augenschein" nehmen. Vor der Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes durfte der BGS nur innerhalb des 30 km tiefen Grenzgebietes zum Zwecke des "Grenzschutzes" Personen anhalten und ihre Identität feststellen.
 

Nach massiver Kritik des Bundesrates und von Sachverständigen wurde der ursprüngliche BGS-Gesetzentwurf der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP etwas entschärft. Danach sind Kontrollen und Durchsuchungen nicht völlig voraussetzungslos möglich; es muss nun wenigstens aufgrund von "Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung" anzunehmen sein, dass die kontrollierten Züge oder Bahnhöfe zur "unerlaubten Einreise" genutzt werden. Dass es sich dabei nur um eine Scheinbegrenzung polizeilicher Befugnisse handelt, wird schnell deutlich. Keinerlei Tatsachen werden gefordert, die eine solche Annahme rechtfertigen könnten. In der Praxis mag diese Einschätzung auf nahezu alle Bahnanlagen und Züge zutreffen, da dort fast überall schon einmal Menschen ohne Einreisevisum oder andere Aufenthaltstitel angetroffen wurden. Um eine rechtlich überprüfbare Einschränkung handelt es sich daher nicht. Vielmehr bleibt es den BGS-BeamtInnen überlassen, ob sie eine/n Bürger/in kontrollieren oder nicht. Ebenso wenig einschränkend ist die Formulierung in dem verabschiedeten Gesetz, nach der der BGS nun das Gepäck nicht ohne weiteres "durchsuchen", sondern nur "in Augenschein" nehmen und darüber hinaus nicht die "Identität" einer Person feststellen, sondern lediglich nach ihrem Ausweis fragen darf.

Ein Polizist "müsste drei Semester Jura studiert haben, um diese feine Unterscheidung nachvollziehen zu können", bemängelte ein Bundestagsabgeordneter der CDU/CSU. Erst wenn sich konkrete Verdachtsmomente ergeben, kann der BGS den- oder diejenige durchsuchen, mit zur Wache nehmen und gegebenenfalls erkennungsdienstlich behandeln, d.h. Fingerabdrücke abnehmen, Fotos erstellen, Körpergröße messen. Für Flughäfen gilt diese Beschränkung nicht, dort kann der BGS ohne jede Voraussetzung kontrollieren und durchsuchen. In der Praxis, so ist zu befürchten, wird der BGS auch bei Kontrollen in Zügen und Bahnhöfen häufig eine komplette Identitätsfeststellung vornehmen, insbesondere, wenn jemand seinen/ihren Ausweis nicht dabei hat. Im Inland ist im übrigen niemand verpflichtet, den Personalausweis mitzuführen.

Offene Grenzen begründen BGS-Einsatz
Begründet werden die erweiterten Befugnisse des BGS mit der vermeintlich steigenden grenzüberschreitenden Kriminalität und der "erheblich gestiegenen unerlaubten Zuwanderung". Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen seit dem Schengener Durchführungsübereinkommen sei auch die Filterfunktion der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten entfallen. "Deutlich zugenommen" hätten, so ist in der Begründung des Gesetzentwurfes nachzulesen, die "festgestellten Einschleusungen" und die "importierte Kriminalität" über die westlichen Grenzen Deutschlands. Zudem sei der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger bei gravierenden Gewaltdelikten überproportional hoch.
Seitdem die deutsche Ostgrenze zu Polen und Tschechien mit 6.200 BGS-BeamtInnen, Hubschraubern, Wärmebildkameras und anderen technischen Sicherungsmaßnahmen hermetisch abgeschottet wird, stellt man nun fest, dass sich die Flucht- und Einwanderungswege nach Deutschland verändern. Zum einen kommen professionelle und mitunter auch skrupellose FluchthelferInnen zum Einsatz. Zum anderen weichen Flüchtlinge und MigrantInnen auf weniger kontrollierte Routen aus. Reflexartig rufen Politik und Polizei nach schärferen Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten. Die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern haben bereits ihre Polizeigesetze geändert und um ereignis- oder verdachtsunabhängige Kontrollen erweitert. Mittlerweile sind auch in Berlin und Brandenburg "lageabhängige Kontrollen" möglich.

Mit der Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes sollten die Kontrollbefugnisse des BGS gleich einer Rüstungsspirale "an die der Länderpolizeien angepasst werden, um insbesondere die "organisierte Schleuserkriminalität" bekämpfen zu können. Von Seiten Bayerns und Baden-Württembergs werden gleichsam Forderungen laut, auch in den übrigen Bundesländern ereignisunabhängige Kontrollen einzuführen.

Mit der Bekämpfung grenzüberschreitender, organisierter oder Schleuserkriminalität haben verdachtsunabhängige Kontrollen in der Praxis kaum etwas zu tun. Zwar liegen vom BGS noch keine Zahlen vor, Ergebnisse einer achtmonatigen Auswertung von ereignisunabhängigen Zugkontrollen in Bayern zeigen aber sehr deutlich die Zielrichtung. Danach erreicht die Polizei eine "Treffer"-Quote von rund 16 %. Das heißt: Bei knapp jeder sechsten Kontrolle geht den BeamtInnen ein/e RechtsbrecherIn ins Netz. Auf den ersten Blick scheinen verdachtsunabhängige Personenkontrollen recht effektiv zu sein. Bei genauerem Hinsehen relativieren sich die "Fahndungserfolge" jedoch erheblich. Bei rund dreiviertel der aufgegriffenen Menschen handelte es sich um MigrantInnen im Asylverfahren oder geduldete MigrantInnen, die gegen die Residenzpflicht verstoßen hatten, die den Bezirk ihrer Ausländerbehörde verlassen hatten, um einen Ausflug zu machen, um Verwandte zu besuchen oder aus anderen Gründen. Dabei handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit (!) nach dem Ausländer- bzw. dem Asylverfahrensgesetz. Von der Bekämpfung grenzüberschreitender, organisierter Kriminalität kann nicht die Rede sein. Nur knapp 3 % der Festgesetzten, also knapp 0,5 % der kontrollierten Personen wurden mit Haftbefehl gesucht. Auch die Sicherstellungsmengen von Rauschgift bewegten sich lediglich im Konsumentenbereich. Drogenhändler gingen der Polizei nicht ins Netz. Nur jeder vierzehnte "Treffer", 1 % der Kontrollierten, war ein/e "illegal" Eingereiste/r.
 

"Weiße Europäer" werden ausgenommen
Der hohe Anteil von MigrantInnen, insgesamt rund 82 %, an den aufgegriffenen Personen, offenbart jedoch die Kontrollstrategie der Polizei. In einem "intelligenten Kontrollverhalten" filtern die PolizeibeamtInnen nach eigenen Angaben die "fahndungs- und kontrollrelevanten Personen aus dem Strom der Reisenden heraus". Taktische Einzelheiten werden selbstverständlich nicht bekanntgegeben. In der Praxis, so ist zu vermuten, werden überwiegend Menschen kontrolliert, die ihrem Aussehen nach "Nicht-Deutsche" sind. StaatsbürgerInnenschaft ist dabei nebensächlich. "Die Kontrollen werden immer selektiver", wie Didier Bigo, Sozialwissenschaftler aus Paris, treffend bemerkt, "sie gründen sich mehr und mehr auf ethnische und rassische Merkmale.,Weiße Europäer` werden ausgenommen, während die,anderen`, die mit der dunklen oder schwarzen Haut, im Netz hängen bleiben." Es sei die soziale Einbildungskraft, die das Bild des "Ausländers" produziere, der kontrolliert werden müsse, der potentiell "gefährlich" sei.

Schon allein die Logik der verdachtsunabhängigen Kontrollen legt derartige Aussonderungsmechanismen nahe. Wenn von importierter Kriminalität, von illegalen Migrationsströmen und gewalttätigen Ausländern die Rede ist, produziert die Politik eine rassistische Vorgabe, nach der die Polizei Menschen in Verdächtige und Unverdächtige unterteilt.

Die neuen Befugnisse des Bundesgrenzschutzes sind aber auch aus anderen Gründen höchst bedenklich. Jenseits einer systematischen rassistischen Diskriminierung durch selektive Kontrollen kollidieren verdachtsunabhängige Kontrollen durch den BGS mit der Kompetenz der Bundesländer in Sachen Strafverfolgung und Gefahrenabwehr. Mit dem Recht, jede Person in Zügen und auf Bahnhöfen außerhalb des 30 km tiefen Grenzstreifens kontrollieren zu können, verlässt der BGS seine eigentlichen Aufgaben: den Grenzschutz sowie die Gefahrenabwehr auf Bahnanlagen und Flughäfen. Bei verdachtsunabhängigen Kontrollen jenseits des Grenzgebietes geht es nicht um die Sicherung der bundesdeutschen Grenze und auch nicht darum, Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grenzübertritt zu verfolgen oder zu verhindern. Auch die bahnpolizeiliche Notwendigkeit derartiger Kontrollen ist nicht ersichtlich. "Unter der vordergründigen Anknüpfung an Grenzschutzaufgaben soll eine flächendeckende Kontrollpräsenz auch im allgemein-polizeilichen Aufgabenbereich im Inland durch den BGS stattfinden", kritisierte der Bundesrat zurecht. Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1998 dürfe der BGS jedoch nicht zu einer allgemeinen, mit den Landespolizeien konkurrierenden Bundespolizei ausgebaut werden und damit sein Gepräge als Polizei mit begrenzten Aufgaben verlieren.

Verdachtsunabhängige Personenkontrollen sind zusätzlich aus völkerrechtlicher Sicht fragwürdig. Systematische Grenzkontrollen wurden mit dem Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) von 1990 zwischen den beteiligten Staaten abgeschafft. Nach Artikel 2 Absatz 1 SDÜ dürfen die Binnengrenzen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.

Verdachtsunabhängige Kontrollen aus Anlass des Grenzübertritts sind demgemäß an den Schengener Binnengrenzen ausgeschlossen. Mit den erweiterten Befugnissen des BGS wird die grenzpolizeiliche Tätigkeit von der Grenze weg ins Binnenland verlagert. Grenzpolizeiliche Maßnahmen, die jedoch nach dem Schengener Durchführungsübereinkommen bereits an der Grenze unzulässig sind, können im Binnenland erst recht nicht zulässig sein. Selbst die Mitteilung der Europäischen Kommission, wonach die Mitgliedstaaten überall auf ihrem Territorium Kontrollen ausüben könnten, rechtfertigt nicht, die Befugnisse des BGS auszuweiten. Sie ermächtigt lediglich die Mitgliedstaaten, zulässige Kontrollen in Polizeigesetzen festzulegen.

Schengener Mogelpackung
Mit der BGS-Gesetzesänderung und durch die geänderten Landespolizeigesetze werden Ersatzkontrollen durch die Hintertür wieder eingeführt. Der im Schengener Abkommen niedergelegte freie Personenverkehr entpuppt sich zusehends als Mogelpackung. Erkauft wird die vermeintliche Freiheit mit verschärfter Kontrolle und Misstrauen. Indem das BGS-Gesetz es zulässt, jede/n beliebige/n Bürger/in ohne tatsächlichen Anlass als potentielle/n Rechtsbrecher/in zu behandeln, setzen verdachts- oder ereignisunabhängige Kontrollen auf die Einschüchterung aller Menschen in diesem Land. Eine Diskriminierung ausländisch aussehender Menschen wird dabei nicht nur billigend in Kauf genommen. Sie ist beabsichtigt. Der angeblichen Effizienz polizeilicher Arbeit werden hier - wie beim "Großen Lauschangriff" - Grundrechte geopfert. Es besteht allerdings, so Hans Lisken, "keine allgemeine Pflicht, die eigene Freiheit voraussetzungslos den staatlichen Organen zur Verfügung zu stellen, damit diese ihre Aufgabe besser oder schneller erfüllen können. Andernfalls lebten wir in der Tat in einem,Polizeistaat` (...)."

Es vermag nur wenig zu trösten, dass die BGS-Gesetzesänderung zunächst auf fünf Jahre befristet ist. Bis dahin soll deren Wirksamkeit untersucht werden. Diese Klausel erlaubt konservativen Politikern jedoch auch, den Kompromiss in ihrem Sinne nachzubessern. So äußerte der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU), dass nach 2003 zu entscheiden sei, ob die Kontrollbefugnisse ausreichend seien, oder ob "doch das schärfere Mittel der direkten verdachtsunabhängigen Identitätsfeststellung geboten ist".

Der Artikel wurde dem aktuellen Jahrbuch 1998/99 des Komitees für Grundrechte und Demokratie entnommen.

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Martina Kant ist Politologin und Vorstandsmitglied und Redakteurin von CILIP