Brief aus Budapest, Ungarn 8. April 1999

von Bojan Aleksov
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Liebe Freundinnen und Freunde,

Budapest ist zu einem Treffpunkt und Ziel für viele unserer FreundInnen, FriedensaktivistInnen, unabhängigen JournalistInnen, MenschenrechtsanwältInnen, prominenten Oppositionellen, aber auch gewöhnlichen Menschen geworden, die aus Belgrad und anderen Orten Serbiens fliehen. Leider muss ich anmerken, dass nur diejenigen, die Geld und Beziehungen haben, das Land verlassen konnten, wie es in ähnlichen Situationen immer geschieht. In den vergangenen Tagen habe ich ihre Berichte voller Angst und Sorge über ihre eigene Zukunft und die des Landes gehört. Ich will versuchen, einiges davon aufzuschreiben. Es spiegelt nur einen Teil der Ereignisse wieder, da ich keine Aussagen direkt aus dem Kosovo erhalten konnte.

Wie Ihr alle wisst, wurden viele unabhängige Medien sofort geschlossen und ihr Vermögen beschlagnahmt. Die verbleibenden stehen unter direkter der indirekter Kontrolle des Staates. Der einzige Unterschied bei der Berichterstattung der ehemaligen unabhängigen Medien zu den staatlichen sind die gelegentlichen Berichte über die Zerstörungen und die Zahl der Opfer durch die Bombardierungen. Eine andere Quelle ist die Web-Seite der Demokratischen Partei, auf der sich die Informationen befinden, die sie von Mitgliedern und aus anderen Quellen erhalten. Es ist ihre einzige Aktivität und im Grunde die einzig mögliche. Die Leute sind folglich sehr uninformiert und in ständiger Furcht vor allem. Sie wissen kaum etwas über die Ereignisse im Kosovo. Die staatlichen Medien tragen zur Verbreitung von Furcht bei und in den Luftschutzkellern kommt dann alles an die Oberfläche. Dort verbreiten sich leicht Gerüchte über Giftgas und radioaktive Substanzen. Das ist der Grund, warum viele unserer FreundInnen, die nüchtern zu bleiben versuchen, vermeiden, in die Schutzräume zu gehen. Nach der Bombardierung von Aleksinac, die viele unschuldige Zivilpersonen in ihren Häusern tötete, wird dies noch schwieriger werden.
 

Die Menschen fürchten, die verbleibenden Brücken zu überschreiten. Nur wenige tun dies am Tage und so gut wie keiner in der Nacht. Es gibt noch Lebensmittel, aber keine Zigaretten. Die größte Besorgnis gibt es offensichtlich in Novi Sad, das durch die Zerstörung aller Brücken in zwei Teile getrennt wurde. Alle Brücken nach Kroatien wurden zerstört, die Situation für die verbleibenden SerbInnen in der Gegend von Vukovar (Kroatien) wird härter.Es ist kein Wunder, dass sich in dieser Situation viele ehemalige Oppositionelle zu Milosevic und seiner Regierung wenden. Die gleichen Menschen, die vor nur wenigen Jahren geschlagen und inhaftiert wurden, weil sie amerikanische Flaggen getragen hatten, verbrennen diese nun. Es gibt Geschichten von spontaner Gewalt und Angriffen auf albanische Geschäfte, Intoleranz gegenüber Roma usw. Die Homogenisierung, Fremdenfeindlichkeit und das nationalistische Denken ist überall präsent. Für diejenigen von Euch, die sich erinnern: das war während des Krieges in Kroatien und Bosnien nicht der Fall. Die Kommunikation und wechselseitige Unterstützung ist der einzige Weg aus der überwältigenden Hysterie. Aus diesem Grund ist das Wichtigste ein funktionierendes Internet. Viele Server arbeiten nicht, und die noch verbliebenen funktionieren sehr schwierig und langsam. Die Aktiven der nichtstaatlichen Organisationen setzen auch ihre Aktivitäten durch die Kommunikation mit den FreundInnen im Kosovo fort, wo die Situation bei weitem am Tragischsten ist - und unter sich selbst - um Informationen auszutauschen, Ratschläge und Energie zu bekommen. Es ist bewundernswert, dass diese Aktivitäten fortgesetzt werden und dass sie sich treffen und diskutieren, wie man sich auf die neuen Umstände einstellen kann. Ich muss ergänzen, dass mich die gespannte politische Situation und die von den Medien benutzte Rhetorik an die 50er Jahre erinnert. Unter diesen Umständen entschieden sich viele zur Flucht, schlossen sich den tausenden von Oppositionellen des Regimes von Milosevic an, die in den vergangenen angespannten Jahren flohen, was weiter jede Chance des Strebens nach Veränderung vermindert. Für Viele waren die NATO-Bombardements der letzte Schlag gegen die Möglichkeiten einer Demokratisierung in Serbien. Nicht ein Wort davon ist in den westlichen Medien zu hören.

Im Moment sind mir keine Berichte über direkte Schikanen und Druck auf einzelne Oppositionelle des Regimes bekannt, abgesehen davon, dass einige Leute von der Polizei vorgeladen wurden. Die Bomben und die generelle Atmosphäre sind effektiv genug. Es gibt auch keine Berichte über die Anwendung extremer Kriegsmaßnahmen gegen Militärdienstentziehung und Desertion. Dennoch haben viele Männer fürchterliche Angst und verstecken sich. Andernfalls können sie leicht Ziele der NATO-Kriegsmaschinerie werden.
 

Mit der Verstärkung der NATO-Bombardements verschwindet jede Hoffnung - Hoffnung auf eine Lösung des Kosovo-Problems, für die Demokratisierung in Serbien, für Stabilität und Wohlstand auf dem Balkan

(Brief von Bojan Aleksov, Frauen in Schwarz Belgrad, aus Budapest. E-mail an Connection e.V. vom 8. April 1999. Übersetzung: Rudi Friedrich, Connection e.V.)

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