NATO: „Nicht einen Schritt weiter nach Osten“

Buchbesprechung: Mary E. Sarotte zur NATO-Osterweiterung

von Martin Singe
Hintergrund
Hintergrund

Aktuell wird die Mitverantwortung der NATO für den Krieg in der Ukraine heftig diskutiert. Dabei spielt vor allem die Frage der NATO-Osterweiterung eine gravierende Rolle. Hatte der Westen Moskau eine Nicht-Erweiterung im Gegenzug zur deutschen Einheit fest versprochen? Wie klar war, dass die Gewährung einer NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine eine rote Linie für Moskau war? Für all diese Fragen bringt das Buch von M. E. Sarotte „Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung“ erhellende Einsichten.

Sarotte hat für ihr 2021 – also vor dem Ukraine-Krieg – abgeschlossenes und zunächst in den USA veröffentlichtes 400 Seiten starkes Werk unglaublich viele Dokumente und politische Notizen gesichtet, Interviews geführt und bislang teils unbekanntes Archivmaterial aus den 1990er Jahren zu Tage gefördert. Ihr Buch schlängelt sich – Historie systematisch aufarbeitend – entlang der Zeitschiene von 1989 bis 1999 und entlang der jeweiligen Präsidentschaften und politisch bedeutsamen Berater*innen in den USA und der Sowjetunion bzw. Russland. Für die 2023 erschienene deutsche Ausgabe hat Sarotte ein eigenes Vorwort verfasst, um auf den Ukraine-Krieg eingehen zu können. Obwohl Sarotte vor allem die Art der NATO-Osterweiterung sehr kritisch beurteilt, wirft sie Putin vor, diese Debatte für seine Kriegsbegründung zu missbrauchen.

1989/90 war eine völlig neue und geostrategisch offene Situation im Ost-West-Verhältnis entstanden. Die große Utopie eines echten Gemeinsamen Hauses Europa mit einer Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok war in greifbare Nähe gerückt. Die vom Westen angestrebte deutsche Einigung stellte dabei grundsätzliche Fragen für künftige Weichenstellungen in der europäischen Sicherheitspolitik. Gorbatschow, von März 1990 bis Dezember 1991 letzter Staatspräsident der Sowjetunion, hielt es Anfang 1990 für ausgeschlossen, dass ein vereintes Deutschland Teil der NATO werden könne. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte mehrfach im Januar und Februar 1990: „Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben." (Sarrotte, 73, 79, vgl. 96) Und ebenso – daher der Buchtitel – bestätigte US-Außenminister Baker im Januar 1990 gegenüber Gorbatschow, die Nato werde sich „not one inch– nach Osten bewegen" (S. 21).

Umstritten war und ist die Verbindlichkeit dieser mündlichen Zusagen. Bald nach diesen Zusicherungen beider Außenminister wurden diese von ihren jeweiligen Chefs – Bush und Kohl – zurückgepfiffen, und es wurden neue „Sprachregelungen“ festgelegt. Dennoch kann man sich auch nach der Lektüre des umfangreichen Buches von Sarotte des Eindrucks nicht erwehren, dass die Sowjetunion bzw. Russland vom Westen bewusst getäuscht wurde, um zunächst die deutsche Einheit (Zwei-Plus-Vier-Vertrag) und danach die Osterweiterung der NATO durchzusetzen. Auch massive Geldzahlungen des Westens – um nicht Bestechung zu sagen – spielten eine wesentliche Rolle, um östliche Zusagen zu erhalten, u.a. Milliardenzusagen für den sowjetischen Truppenabzug aus der DDR. Und Clinton äußerte, als die NATO bereits klar auf Erweiterungskurs war: „Es wird schwierig werden, aber zumindest prinzipiell glaube ich, Russland kann gekauft werden.“ (S. 258).

Die historischen Prozesse dieses entscheidenden Jahrzehnts werden von Sarotte minutiös beschrieben, auch die dabei oft eine erhebliche Rolle spielenden persönlichen Ansichten und Gepflogenheiten der verhandelnden politischen Führungspersönlichkeiten. Eine wesentliche Rolle spielten bei allen Überlegungen auch die Atomwaffen des (ehemaligen) Warschauer Paktes und deren zukünftiger Verbleib. Politische Zwischenlösungen im Ost-West-Verhältnis – wie die Partnerschaft für Frieden (PfP) oder der NATO-Russland-Rat – wurden von den Akteuren jeweils unterschiedlich bewertet und entsprechend mal intensiv vorangetrieben bzw. direkt oder indirekt boykottiert. Je weiter die Zeit voranschritt, desto klarer wurde, dass die westliche Politik auf eine Russland ausschließende neue Ost-West-Ordnung hinarbeitete. Auch die indirekten oder expliziten Anfragen Russlands hinsichtlich einer eigenen NATO-Mitgliedschaft blieben ohne Antwort oder wurden abschlägig beschieden (u.a. S. 110, 118). Der Ausschluss Russlands aus einer neuen europäischen Sicherheitsordnung bedeutete die Rückkehr in den (zunächst wieder nur) Kalten Krieg.

Insgesamt kommt Sarotte zu dem Ergebnis, dass es keine vertraglichen oder verbindlichen Festlegungen der NATO auf einen Verzicht der Osterweiterung gegeben habe – trotz aller expliziten verbalen Zusagen hochrangigster Politiker wie Baker und Genscher, die NATO keinen Zentimeter nach Osten auszuweiten. Auch der Zwei-plus-Vier-Vertrag könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass damit eine NATO-Osterweiterung ausgeschlossen wäre, da dieser ausschließlich für Deutschland – und nicht implizit für andere ehemalige Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes – gelte. Diese westlichen Sichtweisen wurden von östlicher Seite immer wieder anders zu interpretieren versucht, bzw. waren sie bei jeweiligen Vertragsabschlüssen bzw. Zusagen anders wahrgenommen worden.

Am Schluss stellt Sarotte die Frage, ob es politische Alternativen zu den Entscheidungen gegeben hätte, die real zu einer Ordnung in Anlehnung an die des Kalten Krieges geführt haben – nur mit einer deutlich weiter östlich an Russland grenzenden Trennlinie. Und diese Alternativen hätte es sehr wohl gegeben. Schon 1991/92, als – so Sarotte – Russland für eine echte Kooperation mit den USA am offensten war, „begann sich das Zeitfenster für die Schaffung einer kooperativeren Ordnung mit Russland nach dem Kalten Krieg allmählich zu schließen“ (S. 319). Nachdem sich in den USA die Gegner der PfP politisch durchgesetzt hatten, „wurde eine neue Trennungslinie unvermeidlich“ (S. 321). Schließlich wurde der Bukarester NATO-Gipfel 2008, bei dem George W. Bush auf den Beitritt der Ukraine und Georgiens drängte, zur „Belastungsgrenze“ für Putin (329), zumal vorab im Jahr 2007 der – für eine Rüstungskontrolle extrem schädliche – Aufbau einer NATO-einseitigen Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik eingeleitet worden war. Der ABM-Vertrag, 1972 mit unbegrenzter Gültigkeitsdauer abgeschlossen, war von den USA bereits 2002 gekündigt worden.

Ein bitteres Fazit Sarottes: „Überdies hat die NATO die Artikel 5-Garantie auch Ländern gegeben, die in Gefahr sind, sich darauf berufen zu müssen. … Ein Zyniker würde sagen, nachdem die Funktion der NATO durch das Ende des Kalten Kriegs in Frage gestellt wurde, erweiterte sie sich, bis sie wieder notwendig wurde. Eine nuancierte Ansicht ist, dass die Allianz sich nicht auf die Art zu erweitern brauchte, wie sie es tat, und nicht in die ehemalige Sowjetunion hinein.“ (S. 331)

Die Lektüre dieses umfangreichen Werkes sei unbedingt empfohlen. Unglaublich kenntnisreich und durchaus spannend wird ein entscheidendes Kapitel europäischer Geschichte samt ihrer Akteure und Interessen beleuchtet.

 

Anmerkung:

  • Mary Elise Sarotte (2023): Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung, München: Beck-Verlag,397 Seiten, ISBN 978-3406808319, 28 Euro (Original 2021 erschienen)

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".