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Der Islam und die neue Zeit
vonIn den siebziger und achtziger Jahren wurde die islamische Erwekkungsbewegung oder der Fundamentalismus oftmals mit radikalen extremen Gruppen am Rande der Gesellschaft gleichgesetzt. In den neunziger Jahren wurde es klar, daß die Bewegung viel komplexer ist. Die islamische Wiedererweckung ist eine breite religiös-soziale Bewegung und Teil der zentralen muslimischen Gesellschaft. Eine betontere islamische Orientierung kann in Mittel- und Unterschichten, bei Männern und Frauen, Gebildeten und Ungebildeten, Angestellten und ArbeiterInnen gefunden werden. Während kleine radikale Gruppen weiterhin bestehen und mit Gewalt und Terrorismus agieren, wurde in vielen muslimischen Ländern islamischer Aktivismus institutionalisiert und arbeitet und blüht innerhalb der Systeme.
Eine neue Schicht modern gebildeter aber islamisch orientierter Eliten ist neben und manchmal in Opposition zu ihren säkularen Gegenparts entstanden. Das Ziel ist die Veränderung der Gesellschaft durch die islamische Bildung von Individuen und durch soziale und politische Aktion. Da'wa ("Ruf")- Gesellschaften arbeiten in sozialen Diensten (Krankenhäusern, Rechtsberatung), in wirtschaftlichen Projekten (Islamische Banken, Versicherungen), in Bildungseinrichtungen (Schulen, Kindergärten, Jugendcamps) und in Verlagen und Sendeanstalten. Islamische AktivistInnen wurden wesentlicher Bestandteil des politischen Prozesses. Sie nahmen an nationalen und lokalen Wahlen teil, errangen einen eindrungsvollen Sieg bei den Wahlen in Algerien und wurden zur Hauptoppositionsgruppe in Ägypten, Tunesien und Jordanien. Aktivisten haben Ministerämter im Sudan, Jordanien, Pakistan, Iran und Malaysia inne.
Ironischerweise hat das Ausmaß, zu dem die Wiedererweckung des Islam Teil des normalen muslimischen Lebens und der Gesellschaft wurde, viele dazu bewogen, sie als eine noch größere Bedrohung anzusehen. In vielen muslimischen Ländern werden staatliche Institutionen heute ergänzt oder herausgefordert durch islamisch orientierte Schulen, Kliniken, Banken etc. Ihr Erfolg wird oft von den Regimen als implizite wenn nicht explizite Kritik oder Drohung angesehen.
Gleichermaßen bietet die Entstehung einer alternativen Elite, mit moderner Bildung, aber islamischer Orientierung, eine alternative Sicht von Politik und Gesellschaft an, die die westlichen, säkularen Überzeugungen, Lebensstile, Macht und Privilegien etablierter Eliten herausfordert..
Sind Islam und Demokratie
miteinander vereinbar?
Wie das Judentum und das Christentum kann der Islam auf vielfältige Weise interpretiert werden; er wurde genutzt, um Demokratie und Diktatur zu rechtfertigen. Das zwanzigste Jahrhundert sah beide Tendenzen. Während manche Führer der islamischen Bewegungen sich gegen Demokratie und ein parlamentarisches Regierungssystem aussprachen, war ihre negative Reaktion oft mehr Teil einer allgemeinen Ablehnung des kolonialen europäischen Einflusses und eine Verteidigung des Islam gegen weitere Durchdringung und Abhängigkeit vom Westen als eine völlige Ablehnung der Demokratie. Islamische Bewegungen haben Demokratie und Menschenrechte genutzt, um autokratische Herrscher als "un-islamisch" zu kritisieren und forderten demokratische Wahlen und größere politische Teilhabe in Tunesien, Algerien, Ägypten, Kuwait, Marokko, Pakistan, Kashmir, Indonesien und Bangladesh.
Spannungen zwischen westlicher und islamischer Sicht
Dennoch gibt es Unterschiede zwischen westlichen Begriffen von Demokratie und islamischen Traditionen. In den islamisierten Formen der Demokratie ist die Souveränität des Volkes in der Theorie der göttlichen Souveränität untergeordnet; Gottes ewiges Gesetz kann nicht durch menschlichen Wunsch oder Launen verändert werden. Was das in der Praxis heißt, darauf geben diejenigen, die die direkte Anwendung des klassischen islamischen Rechts, andere, die dessen Neuformulierung fordern, und noch andere, die glauben, daß es ausreiche, daß kein Gesetz dem Koran widerspreche, sehr unterschiedliche Antworten.
Das Problem der Toleranz
Die Geschichte islamischer Experimente in Pakistan, Iran und dem Sudan stellt ernsthafte Fragen bezüglich der Bereitschaft islamisch orientierter Regierungen, Dissens zu tolerieren und den Status und die Rechte von Frauen und nicht-muslimischen Minderheiten zu respektieren. Gleiche Themen beschäftigten das Christentum in der Vergangenheit. Tatsächlich waren bis zum zweiten vatikanischen Konzil manche Experten der politischen Entwicklung der Auffassung, daß Demokratie/moderner Pluralismus und Katholizismus unvereinbar seien.
Spannungen und Zusammenstöße zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Gemeinden haben in den letzten Jahren zugenommen: Kopten in Ägypten, Bahai im Iran, Chinesen in Malaysia, Christen im Sudan und Pakistan. Oftmals werden nicht-muslimische Minderheiten wie die genannten Christen als Kollaborateure und Nutznießer der europäischen Kolonialherrschaft angesehen.
Der Status von "Ungläubigen"
Dem islamischen Recht zufolge gehören Nicht-Muslime zu einer extra Klasse von Bürgern, den dhimmi ("Geschützten"), die ihre eigene Gemeinde bilden. Im Austausch zu ihrer Treue zum Staat und der Zahlung einer Kopfsteuer sind sie frei, ihren Glauben zu praktizieren und werden durch ihre eigenen religiösen Führer und Gesetze in Fragen der Religion und des Privatlebens, der Erziehung, Bildung und des Familienrechts geleitet. So aufgeklärt diese Position in der Vergangenheit im Vergleich zur christlichen Sicht und Behandlung von "Ungläubigen" gewesen war, schafft es nach modernen Maßstäben einen Bürgerstatus zweiter Klasse. Die meisten modernen muslimischen Staaten haben allen BürgerInnen unabhängig von ihrer Religion gleiche Rechte verliehen. Aber die gegenwärtige Wiedererweckungsbewegung hat politischen Druck geschaffen, den oft weitverbreiteten traditionellen Einstellungen gegenüber Nicht-MuslimInnen wieder gesetzliche Grundlagen zu geben.