Regionale Vorherrschaftskonflikte

Der Kampf um Vorherrschaft der Regionalmächte im Nahen und Mittleren Osten

von Jens Heibach
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Der heutige Nahe und Mittlere Osten ist zweifellos eine der konfliktreichsten Regionen der Welt. Ein wichtiger Grund hierfür ist der Kampf um die Vorherrschaft in der Region, der vor allem zwischen den Regionalmächten Saudi-Arabien, Iran und der Türkei ausgetragen wird. Ein Blick auf die derzeit größten Krisenherde der Region, etwa in Syrien oder Libyen, dem Jemen oder dem Irak, zeigt, dass es kaum einen Konflikt gibt, an dem Ankara, Riad oder Teheran nicht direkt oder indirekt beteiligt sind und dessen Regelung aufgrund ihrer oft konträren Interessen zumindest deutlich erschwert wird.

Regionale Vorherrschaftskonflikte, wie auch (regionale) Vorherrschaft an sich, sind schwer zu fassen. Das ist zunächst einmal wörtlich zu nehmen, da der Versuch, die Vorherrschaft in einer Region zu übernehmen, generell nur selten von Erfolg gekrönt ist. (1) Im Falle des Nahen und Mittleren Ostens kommt hinzu, dass die Aspiranten kaum jemals öffentlich eingestehen, ein solches Ziel zu verfolgen, wobei die Türkei dies seit geraumer Zeit mit Verweis auf den Neoosmanismus am freimütigsten formuliert. In der Forschung ist man sich jedoch weitgehend einig darüber, dass die Region infolge der arabischen Aufstände 2011 von einer neuen Auseinandersetzung um die Vormachtstellung erschüttert wird, die durch den eher wahrgenommenen als tatsächlichen Rückzug der USA seit Obama zusätzlich an Schärfe gewinnt. Umstritten ist hier eher, wie viele Parteien sich an dieser Auseinandersetzung beteiligen (zählen etwa auch Ägypten, Israel oder gar die Vereinigten Arabischen Emirate zum Kreis der Konkurrenten?) und wie es um die Erfolgsaussichten der einzelnen Kandidaten bestellt ist.

Die Beantwortung dieser Fragen hängt (auch) davon ab, welches Verständnis von „Vorherrschaft“ zugrunde gelegt wird bzw. über welche Mittel ein Staat zu verfügen in der Lage sein muss, um diese zu erlangen. Darüber hinaus ist bedeutsam, wie man die Grenzen der Region definiert, die von diesem Konflikt betroffen ist, da sich hierüber Rückschlüsse zu den beiden vorgenannten Punkten gewinnen lassen. Zählt man zum Beispiel die Staaten Nordafrikas hinzu, wird der arabische Charakter der Region verstärkt, was es den nicht-arabischen Aspiranten wiederum erschwert, ihre Ansprüche zu begründen. Die von Saudi-Arabien kontrollierten panarabischen Medien werden daher auch nicht müde, die arabischen Bevölkerungen vor der Erneuerung einer safawidischen (Iran) oder osmanischen (Türkei) Fremdherrschaft zu warnen.

Ausschlaggebend ist natürlich, welche Vorstellungen die Region betreffend in Ankara, Riad oder Teheran selbst vorherrschen. Der Türkei unter Erdoğan etwa wird nachgesagt, einen Führungsanspruch in gleich drei Regionen – dem Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika, Südosteuropa sowie dem Kaukasus und Teilen Zentralasiens – zu hegen, der gerne historisch begründet wird. (2) Dass Raumvorstellungen eng mit geopolitischen Interessen verknüpft sind, zeigt auch die saudische Politik gegenüber dem Horn von Afrika. Galten die Staaten des Horns trotz ihrer räumlichen Nähe über Jahrzehnte hinweg als regionsfremd, werden in jüngsten saudischen Diskursen historische und kulturelle Gemeinsamkeiten betont und das Horn mithin als Teil einer gemeinsamen Region dargestellt. (3)

Diese Beispiele zeigen nicht nur, dass die Regionsvorstellungen politischer Akteure nicht unbedingt mit gängigen Regionsdefinitionen übereinstimmen müssen. Sie deuten auch auf die Hindernisse hin, mit denen sich Aspiranten für die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten konfrontiert sehen. Denn egal, ob man nun von Vorherrschaft oder Hegemonie spricht, wird in der Forschung weitgehend die Meinung vertreten, dass diese einhergeht mit, erstens, einer deutlichen Überlegenheit materieller Macht, wobei die militärischen und ökonomischen Fähigkeiten eines Staates ausschlaggebend sind; und, zweitens, einer gewissen Akzeptanz der Führerschaft des besagten Staates seitens der anderen Staaten in der Region bzw. dem Regionalsystem. (4) Mit anderen Worten, materielle Macht allein reicht nicht aus, um die regionale Vorherrschaft zu erlangen und bewahren. Entscheidend ist vielmehr, dass die Regeln und Werte, die der Aspirant für den Umgang mit- und untereinander setzt, von der Mehrheit der Staaten in der Region aus mehr oder minder freien Stücken befolgt werden.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es im Nahen und Mittleren Osten auf absehbare Zeit keinen Staat geben wird, der es vermag, die Vorherrschaft auszuüben. Grundsätzlich scheitern alle Aspiranten bereits an der Erfüllung des ersten Kriteriums. Dem Iran zum Beispiel, dem oft die besten Chancen im regionalen Wettbewerb zugesprochen werden, geht die materielle Überlegenheit ab: Die Türkei verfügt über die größte Armee in der Region, und hinsichtlich finanzieller Ressourcen schneidet Saudi-Arabien wesentlich besser ab als Iran, dessen Wirtschaft schon seit Jahren unter einem rigiden Sanktionsregime leidet. Hinzukommt, dass Teheran vornehmlich als Vertreter schiitischer Interessen wahrgenommen wird in einer Region, die mehrheitlich sunnitisch geprägt ist. Konfessionalismus bzw. die von den Regionalmächten bewusst betriebene Konfessionalisierung von Konflikten ist dabei nur ein Faktor, der die Staaten in der Region davon abhält, sich den Führungsansprüchen eines anderen Staates zu fügen. Ethnische, ideologische und Systemunterschiede (Monarchien vs. Republiken) befördern zusätzlich die Lagerbildungen.

Nun unterscheidet sich die heutige Situation nicht grundlegend von früheren Epochen. Vielmehr sticht der Nahe und Mittlere Osten als Region hervor, in der seit Ende des Zweiten Weltkriegs jeweils unterschiedliche Regionalmächte versuchten, die regionale Vorherrschaft zu erlangen – und hierbei stets scheiterten, auch aufgrund der Einflussnahme externer Großmächte wie der USA. (5) Der Nahe und Mittlere Osten war und ist daher ein multipolares System, in dem eine stabile und friedensfördernde regionale Ordnung nur dann geschaffen werden und fortbestehen kann, wenn es den wichtigsten regionalen und internationalen Akteure gelingt, zu einem Einvernehmen diesbezüglich zu kommen. Das ist derzeit nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.

Anmerkungen
1 Derrick Frazier und Robert Stewart-Ingersoll (2010): Regional powers and security: a framework for understanding order within regional security complexes. European Journal of International Relations, Bd. 16, Nr. 4, S. 741.
2 Z.B. Emel Parlar Dal (2016): Conceptualising and testing the “emerging regional power” of Turkey in the shifting international order. Third World Quarterly, Bd. 37, Nr. 8, S. 1423-1453.
3 Jens Heibach (2018): Transregionale Beziehungen unter hegemonialen Vorzeichen: Der Stellenwert Subsahara-Afrikas in der neuen Geopolitik Saudi-Arabiens. In Steffen Wippel und Andrea Fischer-Tahir (Hg.): Jenseits etablierter Meta-Geographien: Der Nahe Osten und Nordafrika in transregionaler Perspektive. Baden-Baden: Nomos, S. 307-324.
4 Z.B. G. John Ikenberry und Daniel H. Nexon (2019): Hegemonic Studies 3.0: The Dynamics of Hegemonic Orders. Security Studies, Bd. 28, Nr. 3, S. 395-421.
5 Raymond Hinnebusch (2013): Failed regional hegemons: the case of the Middle East’s regional powers. Seton Journal of Diplomacy and International Relations, Bd. 14, Nr. 2, S. 77; F. Gregory Gause (2019): “Hegemony” compared: Great Britain and the United States in the Middle East. Security Studies, Bd. 28, Nr. 3, S. 565-587.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Dr. Jens Heibach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg.