Eine Woche vor Ostern rufen wir mit unserem Aufruf "Kriege stoppen - Frieden und Abrüstung jetzt! " in mehreren Zeitungen zur Teilnahme an den Ostermärschen 2025 auf. Hilf auch du mit bei der Mobiliserung!
Vorläufige Bemerkungen über Krieg und Medien am Beispiel der bosnischen Tragödie
Die deutsche Lesart
von
Warum gibt es in der deutschen Öffentlichkeit kaum systematische Auswertungen der (meist wöchentlich abgegebenen) Berichte des Generalsekretärs der UNO zum bosnischen Krieg? Warum werden die Dokumente des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IRK) nur so selten nüchtern zitiert? Man würde dann über die Untaten der Söldner des kroatischen Nationalistenführers Paraga genauso berichten müssen wie über die Verbrechen, die die Leute des bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic auf sich geladen haben.
Man müßte dann nicht nur über die Lager der Serben schreiben - man müßte der deutschen Öffentlichkeit auch sagen, daß es Tausende Muslime gibt, die sich vor kroatischer Verfolgung nach Serbien geflüchtet haben. Das Ergebnis wäre vermutlich eine ganz andere Tonart.
Die Meldungen über serbische "Konzentrationslager" - es gibt kaum Zweifel, daß es sowohl in serbischen wie kroatischen Lagern Aufseher vom Typ bestimmter KZ-Wächter und brutalen Hunger gibt - könnten dann so überschrieben werden wie am 8. August in der Neuen Zürcher Zeitung: "Wenig erhärtete Fakten über Gefangenenlager in Jugoslawien". Entsprechende Überschriften in Deutschland heißen aber eher: "Unterhalten Serben Vernichtungslager?" (Welt, 6.8.) und zitieren dann breit "Augenzeugenberichte" von Zeugen mit Namen, ohne Namen und abgekürzten Decknamen.
Natürlich kann man historische, religiöse und politische Gründe für eine prinzipiell prokroatische und antiserbische Haltung von Deutschen, Österreichern und Ungarn finden. Das katholische Kroatien war über Jahrhunderte Teil der "Mittelmächte", während der Nationalismus der orthodoxen Großserben sich direkt gegen diese Mittelmächte richtete, seit 1903 auch mit terroristischen Methoden. Auch im Zweiten Weltkrieg standen die Kroaten auf der "richtigen" Seite; Hitler schuf sich sogar einen faschistischen Satrapen-Staat in Kroatien. Man muß nur fragen: Sind wir schon wieder so weit, daß die Orientierungsmuster aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Bündnispolitik der zweiten Hälfte verdrängen? Ist die Tatsache, daß das Frankreich des Präsidenten Poincaré und das England von Lloyd George als Schutzmächte Serbiens wirken, schon wieder gegenwärtiger als die Accolade zwischen Adenauer und de Gaulle im Dom von Reims?
Oder wie ist es sonst zu erklären, daß ein Mann wie Peter Carrington, bis vor kurzem ein hoch angesehener britischer Außenminister und Generalsekretär der Nato, von vielen deutschen Blättern inzwischen behandelt wird wie ein seniler Trottel? Wie kommt es, daß die Deutschen den autoritären Nationalismus des Serben Slobodan Milosevicz (zu Recht) scharf kritisieren, während sie den autoritären Nationalismus des Kroaten Franjo Tudjman in mildem Licht weichzeichnen? Tudjman hat die Oppositionsparteien bei der letzten Wahl mit skandalösen Fristen geschurigelt und das Wahlrecht der (häufig rechtsradikalen) Emigration in einer Weise überdehnt, daß man mit gutem Grund von manipulierten Wahlen sprechen kann; im Europäischen Parlament ist das Notwendige dazu gesagt worden.
Lohnendes Thema für junge Löwen des Journalismus
Aber wo standen diese Fakten in der deutschen Presse? An welcher Stelle erfährt man, wenn heute vom Bündnis der Kroaten mit den Muslimen die Rede ist, von der Tatsache, daß Tudjman und Milosewicz eine Zeitlang kurz davor waren, Bosnien untereinander aufzuteilen? Und wieso hat sich der berühmte "investigative" Journalismus unseres Landes noch nicht der Frage angenommen, über welche Kanäle Waffen (zum Beispiel Waffen aus der ehemaligen DDR) in die Hände kroatischer Freischärler gelangt sind? Neben der umfassenden Information über die Reiseabrechnungen Lothar Späths und die Gehaltszettel Oskar Lafontaines wäre das doch auch einmal ein lohnendes Thema für die jungen Löwen des deutschen Journalismus.
Kein Zweifel: Die Nachrichtenlage im zerfallenen Jugoslawien ist kompliziert. Spätestens seit der dramatischen Wende, die die deutsche Außenpolitik bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vollzogen hat, sind serbische Quellen für Deutsche nicht leicht zu erschließen. Die Berichterstattung in einem Krieg, in dem neben regulären Truppen Freischärler und Banden einen gnadenlosen Kampf kämpfen, ist gefährlich; das hat schon früh der Tod Egon Scotlands, eines Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung", gezeigt. Inzwischen sind in den jugoslawischen Kriegen 37 Journalisten umgekommen. Auch arbeiten alle Seiten mit klassischer Greuelpropaganda über den jeweiligen Gegner.
Nur: Wieso hat diese Situation den deutschen Journalismus so wenig herausgefordert? Wo war in diesem schrecklichen Krieg der Peter Arnett der Deutschen, der auch einmal die Konter-Informationen ans Tageslicht bringt? Wo waren die großen Haudegen, die mit allen Wassern gewaschenen Kriegskorrespondenten, die sonst doch ganz gern vor dem Fly away im Fernsehbild auftauchen?
Eine Art Kriegsstimmung in Deutschland
Man darf nicht ungerecht sein? Da und dort wird die große Erzählung von den kroatischen Engeln und den serbischen Teufeln durchaus durchbrochen. Gelegentlich gibt es eine Eigenrecherche in der Frankfurter Rundschau, einen mazedonischen oder serbischen Querschläger oder einen Korrespondentenbericht in der taz, eine merkwürdig aus dem Rahmen fallende Einzelinformation bei den Auslandsnachrichten der Süddeutschen. Im großen und ganzen aber dominiert die deutsche Lesart: Auf dem Balkan geht es nicht um die mörderische Auseinandersetzung von Nationalisten, die alte Rechnungen miteinander begleichen; auf dem Balkan findet der Befreiungskampf unterdrückter (und im Fall von Slowenen und Kroaten zu unserem Kulturkreis gehörender) Völker gegen den großserbischen (slawischen) Chauvinismus statt. Nur die Prägekraft dieser Formel erklärt die geradezu atemberaubende Geschwindigkeit, in der in Deutschland erstmals seit 1945 wieder eine Art Kriegsstimmung erzeugt werden konnte; nicht im Volk, wohl aber in einem Teil der politischen Klasse.
Die deutsche Publizistik muß lernen
Das Fazit? Die deutsche Publizistik muß aus dem jugoslawische Exempel lernen. Europa dürfte vor einer Fülle "kleiner Kriege" stehen - einer häßlichen Abfolge grausamer ethnischer Konflikte, bei denen immer wieder innerstaatliche Deportationen, Vertreibungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar Völkermord vorkommen werden. Die Parteien in diesen Kriegen werden mit systematischen Desinformationen arbeiten; die Zeit der (kleinen) Goebbels und Münzenbergs ist leider nicht vorbei, sie ist 1989 wieder angebrochen. Ein schreckliches Beispiel bietet schon heute der Machtkampf zwischen Schewardnadse und Gamsachurdia in Georgien.
Wenn Deutschland politisch gut beraten ist, strebt es bei der Behandlung dieser unvermeidlichen Verwicklungen keine "Führungsrolle" an, sondern agiert als gesprächsfähiger Partner in der Europäischen Gemeinschaft. Die Voraussetzung für eine solche Politik ist eine skrupulöse, möglichst umfassende, vollständige, vorsichtige und faire Berichterstattung. Die Vorbilder wären die BBC oder die NZZ. Nur ein kommunikatives Selbstverständnis des deutschen Journalismus - und nicht schneidige Gesinnungspublizistik - können Deutschland davor bewahren, in die Rolle der überanstrengten, mißtrauisch beäugten, von Neurosen geplagten und gefürchteten Mittelmacht zurückzufallen. Die Verantwortung der "Merker" ist nicht viel geringer als die der "Täter".
Quelle: taz vom 22.8.1992, gekürzt