Vorläufige Bemerkungen über Krieg und Medien am Beispiel der bosnischen Tragödie

Die deutsche Lesart

von Peter Glotz
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Warum gibt es in der deutschen Öffentlichkeit kaum systematische Auswertungen der (meist wöchentlich abgegebenen) Berichte des Ge­neralsekretärs der UNO zum bosnischen Krieg? Warum werden die Do­kumente des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IRK) nur so selten nüchtern zitiert? Man würde dann über die Untaten der Söldner des kroatischen Nationalistenführers Paraga genauso berichten müs­sen wie über die Verbrechen, die die Leute des bosnischen Serbenfüh­rers Radovan Karadzic auf sich geladen haben.

Man müßte dann nicht nur über die La­ger der Serben schreiben - man müßte der deutschen Öffentlichkeit auch sagen, daß es Tausende Muslime gibt, die sich vor kroatischer Verfolgung nach Ser­bi­en geflüchtet haben. Das Ergebnis wäre vermutlich eine ganz andere Ton­art.

Die Meldungen über serbische "Kon­zentrationslager" - es gibt kaum Zwei­fel, daß es sowohl in serbischen wie kroatischen Lagern Aufseher vom Typ bestimmter KZ-Wächter und brutalen Hunger gibt - könnten dann so über­schrieben werden wie am 8. August in der Neuen Zürcher Zeitung: "Wenig er­härtete Fakten über Gefangenenlager in Jugoslawien". Entsprechende Über­schriften in Deutschland heißen aber eher: "Unterhalten Serben Vernich­tungslager?" (Welt, 6.8.) und zitieren dann breit "Augenzeugenberichte" von Zeugen mit Namen, ohne Namen und abgekürzten Decknamen.

Natürlich kann man historische, reli­giöse und politische Gründe für eine prinzipiell prokroatische und antiserbi­sche Haltung von Deutschen, Österrei­chern und Ungarn finden. Das katholi­sche Kroatien war über Jahrhunderte Teil der "Mittelmächte", während der Nationalismus der orthodoxen Großser­ben sich direkt gegen diese Mittel­mächte richtete, seit 1903 auch mit ter­roristischen Methoden. Auch im Zwei­ten Weltkrieg standen die Kroaten auf der "richtigen" Seite; Hitler schuf sich sogar einen faschistischen Satrapen-Staat in Kroatien. Man muß nur fragen: Sind wir schon wieder so weit, daß die Orientierungsmuster aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Bündnispo­litik der zweiten Hälfte verdrängen? Ist die Tatsache, daß das Frankreich des Präsidenten Poincaré und das England von Lloyd George als Schutzmächte Serbiens wirken, schon wieder gegen­wärtiger als die Accolade zwischen Adenauer und de Gaulle im Dom von Reims?

Oder wie ist es sonst zu erklären, daß ein Mann wie Peter Carrington, bis vor kurzem ein hoch angesehener britischer Außenminister und Generalsekretär der Nato, von vielen deutschen Blättern in­zwischen behandelt wird wie ein seniler Trottel? Wie kommt es, daß die Deut­schen den autoritären Nationalismus des Serben Slobodan Milosevicz (zu Recht) scharf kritisieren, während sie den auto­ritären Nationalismus des Kroaten Franjo Tudjman in mildem Licht weich­zeichnen? Tudjman hat die Oppositi­onsparteien bei der letzten Wahl mit skandalösen Fristen geschurigelt und das Wahlrecht der (häufig rechtsradika­len) Emigration in einer Weise über­dehnt, daß man mit gutem Grund von manipulierten Wahlen sprechen kann; im Europäischen Parlament ist das Not­wendige dazu gesagt worden.

Lohnendes Thema für junge Löwen des Journalismus

Aber wo standen diese Fakten in der deut­schen Presse? An welcher Stelle erfährt man, wenn heute vom Bündnis der Kroaten mit den Muslimen die Rede ist, von der Tatsache, daß Tudjman und Milosewicz eine Zeitlang kurz davor waren, Bosnien untereinander aufzutei­len? Und wieso hat sich der berühmte "investigative" Journalismus unseres Landes noch nicht der Frage angenom­men, über welche Kanäle Waffen (zum Beispiel Waffen aus der ehemaligen DDR) in die Hände kroatischer Frei­schärler gelangt sind? Neben der umfas­senden Information über die Reiseab­rechnungen Lothar Späths und die Ge­haltszettel Oskar Lafontaines wäre das doch auch einmal ein lohnendes Thema für die jungen Löwen des deutschen Journalismus.

Kein Zweifel: Die Nachrichtenlage im zerfallenen Jugoslawien ist kompliziert. Spätestens seit der dramatischen Wende, die die deutsche Außenpolitik bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vollzogen hat, sind serbische Quellen für Deutsche nicht leicht zu erschließen. Die Berichterstattung in einem Krieg, in dem neben regulären Truppen Frei­schärler und Banden einen gnadenlosen Kampf kämpfen, ist gefährlich; das hat schon früh der Tod Egon Scotlands, ei­nes Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung", gezeigt. Inzwischen sind in den jugoslawischen Kriegen 37 Journa­listen umgekommen. Auch arbeiten alle Seiten mit klassischer Greuelpropa­ganda über den jeweiligen Gegner.

Nur: Wieso hat diese Situation den deutschen Journalismus so wenig her­ausgefordert? Wo war in diesem schrecklichen Krieg der Peter Arnett der Deutschen, der auch einmal die Konter-Informationen ans Tageslicht bringt? Wo waren die großen Haudegen, die mit allen Wassern gewaschenen Kriegskor­respondenten, die sonst doch ganz gern vor dem Fly away im Fernsehbild auf­tauchen?

Eine Art Kriegsstimmung in Deutschland

Man darf nicht ungerecht sein? Da und dort wird die große Erzählung von den kroatischen Engeln und den serbischen Teufeln durchaus durchbrochen. Gele­gentlich gibt es eine Eigenrecherche in der Frankfurter Rundschau, einen maze­donischen oder serbischen Querschläger oder einen Korrespondentenbericht in der taz, eine merkwürdig aus dem Rah­men fallende Einzelinformation bei den Auslandsnachrichten der Süddeutschen. Im großen und ganzen aber dominiert die deutsche Lesart: Auf dem Balkan geht es nicht um die mörderische Aus­einandersetzung von Nationalisten, die alte Rechnungen miteinander beglei­chen; auf dem Balkan findet der Befrei­ungskampf unterdrückter (und im Fall von Slowenen und Kroaten zu unserem Kulturkreis gehörender) Völker gegen den großserbischen (slawischen) Chau­vinismus statt. Nur die Prägekraft dieser Formel erklärt die geradezu atemberau­bende Geschwindigkeit, in der in Deutschland erstmals seit 1945 wieder eine Art Kriegsstimmung erzeugt wer­den konnte; nicht im Volk, wohl aber in einem Teil der politischen Klasse.

Die deutsche Publizistik muß lernen

Das Fazit? Die deutsche Publizistik muß aus dem jugoslawische Exempel lernen. Europa dürfte vor einer Fülle "kleiner Kriege" stehen - einer häßlichen Abfol­ge grausamer ethnischer Konflikte, bei denen immer wieder innerstaatliche De­portationen, Vertreibungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar Völkermord vorkommen werden. Die Parteien in diesen Kriegen werden mit systematischen Desinformationen ar­beiten; die Zeit der (kleinen) Goebbels und Münzenbergs ist leider nicht vorbei, sie ist 1989 wieder angebrochen. Ein schreckliches Beispiel bietet schon heute der Machtkampf zwischen Sche­wardnadse und Gamsachurdia in Geor­gien.

Wenn Deutschland politisch gut beraten ist, strebt es bei der Behandlung dieser unvermeidlichen Verwicklungen keine "Führungsrolle" an, sondern agiert als gesprächsfähiger Partner in der Europäi­schen Gemeinschaft. Die Voraussetzung für eine solche Politik ist eine skrupu­löse, möglichst umfassende, vollstän­dige, vorsichtige und faire Berichter­stattung. Die Vorbilder wären die BBC oder die NZZ. Nur ein kommunikatives Selbstverständnis des deutschen Journa­lismus - und nicht schneidige Gesin­nungspublizistik - können Deutschland davor bewahren, in die Rolle der über­anstrengten, mißtrauisch beäugten, von Neurosen geplagten und gefürchteten Mittelmacht zurückzufallen. Die Ver­antwortung der "Merker" ist nicht viel geringer als die der "Täter".

Quelle: taz vom 22.8.1992, gekürzt

 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Peter Glotz ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages für die SPD.