Krieg soll nach dem Willen Gottes nicht sein?

Die Diskussion zum Thema Gewalt im Ökumenischen Rat der Kirchen

von Jens Dechow
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Die ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) operiert - im Sinne des gegenüber dem deutschen Begriff etwas differenzierteren "violence" - mit einem weiten Gewaltbegriff, der bewusst personale, strukturelle und kulturelle Aspekte einschließend. Es ist der Versuch, die nur miteinander zu erreichenden Ziele von Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung begrifflich zuzuspitzen und die Kirchen in einem umfassenden Sinne zu veränderndem Handeln herauszufordern.

Dieser breite Ansatz zeigt sich sowohl in den Zielformulierungen des Rahmenkonzeptes zur Ök. Dekade1 als auch in der Tatsache, dass die Vollversammlung 1998 in Harare/Simbabwe parallel zum Dekadenbeschluss die Mitgliedskirchen aufgefordert hat, sich an dem processus confessionis zu wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung zu beteiligen, den der Reformierte Weltbund bei seiner 23. Generalversammlung in Debrecen 1997 eingeleitet hat2.

Trotzdem konzentriert sich die Debatte um das Thema Gewalt zu Beginn der Dekade deutlich auf die Frage direkter Gewalt und bewaffneter Konflikte. Diese Debatte steht in einer Traditionslinie, die den ÖRK seit seiner Gründung durchzieht und ihren Ausgangspunkt nimmt bei dem 1948 formulierten Satz: "Krieg soll nach dem Willen Gottes nicht sein". Schon damals gab es unterhalb dieses Satzes deutliche Scheidelinien, die sich an drei Positionen festmachen lassen: 1. Ein moderner Krieg ist niemals ein Akt der Gerechtigkeit, allerdings werden Christen unter bestimmten Umständen in den Krieg ziehen müssen. 2. Ohne unparteiische, übernationale Instanzen ist der Krieg ein notwendiges letztes Mittel, um dem Recht Geltung zu verschaffen; es gibt eine Pflicht des Christen zum Kriegsdienst. 3. Gott verlangt, bedingungslos gegen den Krieg und für den Frieden Stellung zu beziehen.

Diese Grundpositionen haben sich in unterschiedlicher Gestalt durch die Geschichte der ökumenischen Bewegung hindurchgezogen, jeweils verknüpft mit unterschiedlichen Themen, wie der Frage nach atomarer Bewaffnung, nach revolutionärer Gewalt in Unterdrückungssituationen oder nach bewaffneten Interventionen in gewaltsamen Konflikten. Um letzteren Punkt dreht sich die aktuelle Debatte des ÖRK, zusammengefasst in einem Papier mit dem Titel "Zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt". Dieses Papier wurde dem Anfang des Jahres tagenden Zentralausschuss (ZA) des ÖRK vorgelegt. Es konnte weder einen Konsens der Kirchen formulieren noch vom ZA verabschiedet werden, wurde jedoch als Grundlagenpapier für die weitere Debatte an die Mitgliedskirchen mit Bitte um Stellungnahme weitergereicht. Als solches beschreibt es die aktuellen Konfliktlinien in der ökumenischen Bewegung.
Die Grundparameter der Diskussion sind - man vergleiche das Schwerpunktthema der letzten Nummer dieser Zeitschrift - dieselben wie insgesamt in der Debatte um "humanitäre Intervention": Anerkannt wird "das legitime Recht der Staaten, keine unzulässige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zu dulden" und "die moralische Pflicht der internationalen Gemeinschaft ..., in Fällen einzugreifen, in den Staaten nicht bereit oder nicht in der Lage sind, auf ihrem Hoheitsgebiet die Achtung der Menschenrechte oder den Frieden zu gewährleisten".3 In Bezug auf die dabei entstehenden völkerrechtlichen Fragen wird das Spannungsfeld in der bekannten Weise ausgeleuchtet: Hier die Charta der Vereinten Nationen, die dem Eingreifen in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten enge Grenzen setzt; dort der Grundsatz der Universalität der Menschenrechte; und "mittendrin" der Prozesscharakter, dem auch das Völkerrecht unterworfen sei. "Die Frage der Intervention steht also im Spannungsfeld zwischen nationaler Souveränität und einem sich entwickelnden Bewusstsein für die Universalität der Menschenrechte."4 Um erst gar nicht schwierige Entscheidungen in diesem Spannungsfeld notwendig werden zu lassen, wird die christliche Verantwortung in der Schaffung eines gerechten Friedens gesehen und als Teil dieses gerechten Friedens ein umfassendes Konzept präventiver, friedensschaffender und versöhnender Maßnahmen eingefordert. Für den Fall des Scheiterns von Prävention wird deutlich auf das System der Sanktionen gesetzt: "Bei konsequenter Anwendung müsste dieses Spektrum gewaltloser Aktionen, die von leichten bis starken Zwangsmaßnahmen reichen, in den meisten Situationen, in denen das Leben oder das Wohlergehen der Zivilbevölkerung bedroht ist, eigentlich ausreichen."5 Da allerdings in der Realität gerade die Konsequenz der Anwendung fehle und es u.a. deshalb immer wieder zum Ausbruch von Gewalt komme, müssten auch die Kirchen die Frage beantworten, wie in solch einer Situation der Gewalt der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten ist. "In solchen Fällen hat die Weltgemeinschaft das Recht - oder sogar die Pflicht -, entscheidende Maßnahmen zu ergreifen, um die gefährdete Bevölkerung zu schützen und ihr zu helfen."6 Damit aber stehen ChristInnen schließlich vor demselben "Dilemma", wie es besonders im Kontext des Kosovokrieges immer wieder in Geltung gebracht wurde: Manche sagen "Nein" zum Einsatz von Waffen, "denn sie sind der Überzeugung, dass Jesus uns lehrt, jede Waffengewalt abzulehnen. Andere sagen "Ja", weil sie der Meinung sind, dass der Schutz des menschlichen Lebens im Notfall den Einsatz von Waffen rechtfertigt, wobei sie jedoch anerkennen, dass jegliche diesbezügliche Entscheidung mit großer Demut zu treffen ist. Die Verantwortung für unbeabsichtigte Folgen muss sowohl von jenen akzeptiert werden, die sich für Waffengewalt entscheiden, als auch von jenen, die dies nicht tun."7
Einen "prophetische Note" bringt dieses Diskussionspapier in die Frage um Humanitäre Intervention nicht ein, und die Konfliktlinien verlaufen entlang ähnlicher Grenzen, die schon seit 1948 die ökumenische Debatte in unterschiedlicher Gestalt prägen. Darf man also sagen: Seit 1948 - nichts gewesen außer Spesen? Etwas mehr als "Nichts" vermag ich zu erkennen, auch wenn Kirchen nicht Vorreiter, sondern Teil - allerdings aktiver Teil! - von gesamtgesellschaftlichen und internationalen Denk- und Veränderungsprozessen waren.

Veränderungen und Weiterentwicklungen sind abzulesen darin, dass für 1948 noch erwähnte Position der "Pflicht zum Kriegsdienst" so nicht mehr zur Diskussion steht, außerdem die Aufgabe der Kirchen und ihre Reflexion eindeutig positioniert wird im Bereich der Schaffung eines gerechten Frieden statt der Beantwortung der Frage nach einem gerechten Krieg.

Hinzu kommt, dass die Scheidelinie nicht mehr beschrieben werden kann als ein Gegenüber von "Realo-ChristInnen" auf der einen und "Fundamentalisten" auf der anderen Seite, sondern dass die pazifistische Position Ideen und ein anwendbares Handwerkszeug der Durchsetzung von Gerechtigkeit ohne die Mittel von Gewalt entwickelt hat und mit jedem Versuch bewaffneter Intervention neu das empirische Argument zur Geltung bringen kann, dass 1. diese Mittel noch nicht konsequent ausgebaut und angewandt wurden und 2. der Weg der Gewalt immer wieder nur zu einem Zustand neuer Gewalt und Unterdrückung geführt hat und damit seine eigenen Intentionen verfehlt. Der Spielraum, auf den die VertreterInnen beider Seiten bereit sind, die "Dilemmata - Situation" zu beziehen, wird dadurch zunehmend kleiner.

Daneben verbirgt die gegenwärtige Debatte im ÖRK zumindest zwei Gesichtspunkte, die zumindest erwähnenswert sind:

Wie anderen Ortes auch werden die Begriffe "humanitär" und "Intervention" besonders in ihrer Zusammenstellung hinterfragt.8 Das Papier geht zugleich einen entscheidenden Schritt weiter, indem es eine neue Formulierung anbietet, die dann auch dem ganzen Papier seinen Titel verleiht: "Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt".9 Diese Formulierung bietet die Chance, über eine Sprachregelung auch die Denkrichtung zu verändern. Wird diese Formulierung zum kirchlichen Konsens, dann muss sich jedes Eingreifen in einen Konflikt von außen in erster Linie an der Frage messen lassen: Welchen unmittelbaren Schutz bietet dieses Handeln für die gefährdeten Menschen. Und diese Messlatte wirft etwa die Frage auf (siehe Kosovo), ob Waffengewalt zu Erzwingung einer Unterschrift unter einen Vertrag - der zwar abgeleitet der Schutzpflicht dienen soll, dessen versuchte Durchsetzung zunächst aber zu wachsender Schutzlosigkeit und Repression einer Bevölkerungsgruppe führt - im Kontext einer solchen Schutzpflicht überhaupt verankert werden kann.
 

Das verbindet sich unmittelbar mit einem zweiten weiterführenden Aspekt, den der ÖRK in Anbindung an den Brahimi-Report betont, der bei der Millenniumssitzung der Generalversammlung der UNO beraten wurde: Geht es um den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen - und eben nicht um die Durchsetzung eines "abstrakten Prinzips" von Menschenrechten oder von "Humanität" - dann muss die Frage auch bewaffneten Handelns eigentlich eher früher als später gestellt werden, allerdings im Sinne des verstärkten Einsatzes von ziviler Polizei und unter Beachtung rechtsstaatlicher Elemente, "die den Teamgedanken für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und die Achtung der Menschenrechte hervorheben und den Gemeinschaften helfen sollen, Konflikte zu überwinden und zu nationaler Versöhnung zu finden".10 In der Abwägung von Souveränität der Einzelstaaten versus Allgemeingültigkeit der Menschenrechte wird hier darauf gesetzt, das Souveränitätsrecht der Staaten gerade darin ernst zu nehmen, möglichst frühzeitig auf ein Eingreifen von außen hinzuarbeiten, das auch Elemente gewaltsamer Durchsetzungsfähigkeit enthält, zugleich aber weitgehend eingebunden bleibt in die vor Ort noch funktionierenden Ordnungssysteme.

Das Entscheidende dieser Debatte um den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt sehe ich allerdings nicht in den benennbaren Einzelaspekten, sondern auf grundsätzlicherer Ebene: Sie macht zu Beginn der Dekade noch einmal neu die unerträgliche Spannung deutlich zwischen den theoretischen Erkenntnissen, in denen sich diese Debatte bewegt, und der Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht:

Denn auf der einen Seite zeigt sich: Auch wenn die seit den Anfangszeigen bestehende Scheidelinie bezüglich der Möglichkeit bewaffneten Handelns weiterhin bestehen bleibt - in der theoretischen Debatte ist der Spielraum für bewaffnete Interventionen auch für die VertreterInnen der befürwortenden Positionen sehr schmal geworden. Auf der anderen Seite aber ist die Praxis internationaler und nationaler Politik dieser theoretischen "Spielraumverengung" nicht in gleichem Tempo nachgekommen, bleibt vielmehr fixiert auf die Ausgestaltung und Modernisierung von Handlungsmöglichkeiten in dem - nach der "reinen Lehre" doch nur noch als Grenzbereich zu verstehenden - militärischen Handeln. Hier liegt der eigentliche Ansatzpunkt der Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt: Sie stellt das Verb "overcoming" in den Mittelpunkt und bringt in einem positiven Sinne die Macht der Kirchen ins Spiel, weltweit sowohl international als auch innergesellschaftlich notwendige Veränderungsprozesse voranzutreiben in Richtung auf die Schaffung eines gerechten Friedens, der das wohl einzig wirklich erfolgversprechende Konzept von Prävention darstellt.
 

1 Veröffentlicht u.a. in epd-Dokumentation 38/99, S.29ff.

2 Vgl. epd-Dokumentation 9/99, S.30.

3 Vgl. Dokument Nr. Pl 2rev des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen, Potsdam, 29.1.-6.2.2001: Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt, S.5.

4 A.a.O. S.13.

5 A.a.O. S.10.

6 Ebd.

7 A.a.O. S.15.

8 Vgl. a.a.O. S.6f.

9 A.a.O. S.1.7.

10 Vgl. a.a.O. S.7 mit Zitat.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Dr. Jens Dechow ist Pfarrer in der Arbeitsstelle für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der Ev. Kirche von Westfalen (MÖWe).