Geschichte der Ostermärsche

Die längste Ostermarschstrecke: von Marathon nach Athen

von Herbert Stubenrauch

Da ich Griechenland etwas kannte und Freunde in Athen hatte, wurde ich vom Zentralen Ausschuss des Ostermarsches ausgewählt, nach Athen zu reisen, um dort die Grüße der deutschen Ostermarschbewegung zu überbringen. In Griechenland fand nämlich zum ersten Mal im Mai 1964 eine von der neuen Regierung (die des alten Papandreou) genehmigte Demonstration anlässlich des griechischen Osterfestes statt.

 

Mit Lambrakis, dem Promotor der Anti-Kriegsbewegung in Griechenland, hatte ich zwei Jahre zuvor in Oxford beim Gründungstreffen der Europäischen Konföderation Kontakt aufgenommen. Ein Jahr später war Lambrakis auf heimtückische Art ermordet worden. (Vgl. den Film „Z“, der dessen Schicksal zum Inhalt hat). Die Wut war groß in Griechenland, und so sollte im Rahmen der europäischen Bewegung gegen die Atomrüstung ein erster, legaler Protestmarsch stattfinden, und zwar auf der Strecke von Marathon nach Athen.

Ich flog von Düsseldorf nach Athen, quartierte mich bei den Freunden ein und kontaktierte das zentrale Organisationsbüro. Man begrüßte mich sehr herzlich und wies mich an, mich am Tag des Marsches am Treffpunkt der internationalen Delegierten am Omonia-Platz einzufinden, und zwar um vier Uhr in der Früh’.

Das klappte auch alles, wir fuhren mit dem Bus etwa eine Stunde in die Provinz, und zwar zum historischen Ort Marathon, einem kleinen Kaff. Das war aber nicht so leicht, denn tausende Busse und zehntausende Menschen fuhren am frühen Morgen dieselbe Strecke. Überall, wo wir warten mussten, herrschte eine ausgelassene Stimmung, die Menschen sangen, Ouzo-Flaschen kreisten von Mund zu Mund und irgendwie gegen sieben Uhr setzte sich der Marsch in Bewegung. Aber es war eben zu meiner großen Freude kein Marsch, sondern ein Tanz der Anarchie, ein Fest des Wiedersehens und der Befreiung.

Die kleine Landstraße war viel zu eng, um die zigtausend Menschen aufzunehmen, der Zug verbreiterte sich auf die umliegenden Felder und Olivenhaine, es war ein nicht abreißender Strom von singenden,fröhlichen Menschen, die sich mit dem Peace-Symbol und Transparenten, von denen ich viele nicht lesen konnte, auf den Weg in Richtung Athen aufmachten. Stundenlang ließ ich mich im Gewoge dieses Menschenmeeres treiben, längst hatte ich die mir zugeordnete Dolmetscherin verloren, überall gab es in den Dörfern etwas zu essen, spielten Musikgruppen auf.

Nach Mittag, die Vororte von Athen waren in Sicht, suchte ich doch in dieser unvorstellbar großen Menschenmenge nach Orientierung. Ich stellte mich an den Rand der Strecke und rief laut: „ Anybody speaks English?“ Die Leute liefen vorbei, winkten mir freundlich zu, bis endlich eine Gruppe fröhlicher junger Frauen mich in ihre Mitte nahm und mit ihrem Pidgin-English behilflich waren. Bald stellte ich fest, dass es sich bei diesen freundlichen Helferinnen um die Belegschaft eines Bordells in Piräus handelte, die heute einen Betriebsausflug zum Ostermarsch machte.

Am Abend erreichten wir Athen. Mikis Theodorakis, der große Musiker und Komponist, hatte sich dem Zug angeschlossen. Unvorstellbar, wie er gefeiert wurde! Ein Dutzend junger Männer schützten ihn mit einem Cordon vor der aufdringlichen Zuneigung und Verehrung, die ihm entgegengebracht wurde. Alte Frauen liefen aus den Häusern mit Blumen in den Händen, die sie ihm zuwarfen. Kinder skandierten: „Mikis, Mikis!“ – da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben begriffen, dass ein Volksheld nicht unbedingt ein Krieger, sondern auch ein Sänger und Musiker sein kann.

Und dann diese Abschlusskundgebung in Athen. Unvorstellbar für meine Erfahrungen vom Ostermarsch der Minderheiten in der BRD! Ich konnte gar  nicht glauben, dass hier in Athen mehr als 300.000 Menschen zusammenkamen, um ihren Willen nach Frieden und einem Leben in Freiheit Ausdruck zu geben. Irgendwie drängte ich mich bis zur Rednertribüne vor, traf meine Dolmetscherin und wurde bald gebeten, als Gast der deutschen Ostermarschbewegung dieser unübersehbar bis in die Boulevards hinein stehenden Menschenmenge etwas zu sagen. Meine Knie waren wie Nudeln, ich überbrachte die Grüße, bezeugte meine Überwältigung vor so viel Aufbruch und Bewegung und die Dolmetscherin übersetzte. Ein gewaltiger Jubel schallte über den Platz.

Noch immer betäubt von diesem Erlebnis traf ich danach, am Abend, zusammen mit den anderen ausländischen Delegierten in einem Lokal in der Plaka ein. Dort war für uns eine festliche Tafel gerichtet, wir plauderten, Theodorakis sang, es gab reichlich Ouzo und Wein und ich erinnere mich nur noch daran, dass ich mit der amerikanischen Abgesandten, der Frau des Nobelpreisträgers Linus Pauling, einen Sirtarki getanzt habe.

 

Erstveröffentlichung: Komitee für Grundrechte und Demokratie / Andreas Buro (Hg.), Geschichten aus der Friedensbewegung, Köln 2005

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Herbert Stubenrauch († 2010) lebte als Pädagoge in Frankfurt und war aktiv in der Friedensbewegung. Er war 1968 Mitbegründer des Sozialistischen Lehrerbundes.