Anmerkungen zur deutschen Literatur zum Ersten Weltkrieg

Die literarische Sinngebungsmaschine

von Thomas F. Schneider

Julius Bab, ab September 1914 mit seinen Rezensionen und Anthologien wohl der erste und bislang einzige Chronist der deutschen im Ersten Weltkrieg produzierten und publizierten Kriegslyrik, schätzte 1920 in Die deutsche Kriegslyrik 1914–1918 die allein im August 1914 in Deutschland anlässlich des Kriegsbeginns verfassten Gedichte auf 1,5 Millionen, von denen etwa 100 täglich zum Druck gelangt seien. Im Dezember 1916 resümierte er für das vergangene Jahr „eine ziemlich ernste Veränderung“, die darin bestanden habe, dass die „wenigen Zeugnisse einer menschlich und künstlerisch belangvollen Eigenart [...] immer düsterer, immer apokalyptischer“ geworden seien, während „die unerschöpfliche Schar der völlig unschuldigen Dilettanten, die jenseits von allem Gut und Böse der Ästhetik auf ihrem harmlosen Vergnügen bestehen, bei kleinen Gefühlsgelegenheiten hängengebliebene literarische Erinnerungen neu zu arrangieren. [...] Die Durchschnittsqualität sinkt ungeheuer.“

Bemerkenswert ist, dass Bab für 1916 die große Zäsur in der Darstellung des Krieges vom eher affirmativen, traditionellen ästhetischen Kategorien folgenden Gedicht hin zu einem vom Kriegsverlauf und insbesondere der Industrialisierung der Kriegführung beeinflussten, resignativen Dichten festlegt – ohne dass die Darstellungsmodi grundlegend verändert worden wären.

Die Neuartigkeit der Kriegführung, die den einzelnen Soldaten beiderseits der Fronten spätestens mit dem Beginn des Stellungskrieges im Herbst 1914 zunehmend entindividualisierte und mit den großen Schlachten an der Somme und vor Verdun 1916 zudem noch auf reines Material reduzierte, das gleichem Verschleiß in den Augen der Befehlenden unterlag wie die sonstige militärische Ausrüstung, erforderte sowohl von den Apologeten eines heroischen Kämpfens eine Umdeutung und Um-Schreibung des traditionellen Kriegsbildes und seiner literarischen und lyrischen Repräsentation wie auch von jenen wenigen kriegskritischen Autoren, die sich zuvor noch ebenfalls auf ein traditionelles Kriegsbild berufen konnten, wie es beispielsweise Bertha von Suttner 1893 in Die Waffen nieder! oder Wilhelm Lamszus 1912 in Das Menschenschlachthaus vermittelt hatten.

Hatte sich Bab im obigen Zitat unter Bezug auf die Lyrik noch über die mangelnde ästhetische Qualität beklagt, so ist für die Zeit unmittelbar nach Kriegsende von ihm und bei ihm ein klarer Paradigmenwechsel festzustellen. Im Nachwort zum zweiten Band seiner als „die innere Lebensgeschichte der Deutschen“ aufzuzeichnen intendierten Anthologie 1914. Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht (1919) bemerkte Bab unter dem Verdikt „auszusprechen was war und ist“:

„Daß also zum Beispiel alles bittere und schreckliche in der ersten Kriegszeit vielfach mit gutem, deutschem Humor angefaßt wurde, daß es ein „Soldatenlachen“ gab, dürfen wir jetzt nicht verschweigen, weil uns das Lachen so gründlich vergangen ist. [...] Wer aber die seit dem ersten Sammelband erschienenen sechs letzten Hefte gelesen hat, der weiß, wie in den späteren Jahren trotzalledem die Stimmen hörbarer wurden, aus denen nur noch der Schrecken, nicht mehr der Stolz des Krieges sprach.“

Bab verknüpfte diesen Anspruch des Authentischen – „aber nur das, was wahrhaft ist“ – mit dem „ästhetischen Maßstab“, der allerdings untergeordnet ist: „Was soll uns für die Echtheit einer Äußerung bürgen, wenn nicht jene Gefühlsstärke, die allein Worte mit dem rhythmisch-musikalischen Zauber der Dichtkunst rüstet?“ Und hierin liegt der Paradigmenwechsel: Die „Wahrheit“ des Kriegserlebnisses dominiert die „Ästhetik“, die jedoch weiterhin die Basis für die grundlegende Akzeptanz von Texten und damit ihrer kanonisierenden Aufnahme in Babs Anthologie ist. Festzuhalten bleibt: die deutsche Kriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg stand nicht in einem literarisch-ästhetischen, sondern in einem dokumentarischen, nach „Sinn“ und „Wahrheit“ des Krieges fragenden Diskurs.

Die „Wahrheit“ des Kriegserlebnisses, die allein ausschlaggebend ist, mutierte dabei während des Fortgangs des Krieges, wie Bab zugibt, vom „Stolz des Krieges“ zu seinem „Schrecken“. Dieser Wandel in der Füllung der Vorstellung von der „Wahrheit“, der bei Bab einer hin zur Kriegskritik ist, zeigt jedoch, wie verfügbar die Kategorie dieser „Wahrheit“ geworden war, und dass Literatur letztlich nur als Sprachrohr dieser „Wahrheit“ akzeptiert wurde.

Die während des Krieges und in der Nachkriegszeit in der Weimarer Republik produzierte und publizierte Kriegsliteratur wurde unter diesen Voraussetzungen zum Austragungsort der Auseinandersetzung um die korrekte, „wahre“ Interpretation des Krieges – einer Auseinandersetzung, die angesichts der deutschen Niederlage, der ununterbrochen gestellten „Kriegsschuldfrage“ und der Prägung der Nachkriegsgesellschaft durch das „Diktat“ des Versailler Friedensvertrages zu dem vermutlich dominierenden Thema des Selbstverständnisses der Weimarer Republik wurde.

Kriegsbejahende Literatur
Dafür, dass nicht die kriegskritische Lesart konsensfähig wurde, hatte bereits die während des Krieges publizierte Literatur den Grundstein gelegt: Texte wie Walter Flex’ Wanderer zwischen beiden Welten (1917), Manfred von Richthofens Der rote Kampfflieger (1917) oder Gunther Plüschows Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau (1916) hatten im Gegensatz zu den wenigen kriegskritischen Texten eines Andreas Latzko mit Menschen im Krieg (1917) oder eines Leonhard Frank mit Der Mensch ist gut (1917) eine derart weite Verbreitung (mit Auflagen über 500.000 Exemplaren) gefunden, dass sie auch in der Weimarer Republik erst von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928/29) wieder erreicht werden konnte. Die kriegsbefürwortende Lesart hatte damit ein heroisierendes Kriegsbild im öffentlichen Bewusstsein zementiert, gegen das die pazifistischen und kriegskritischen Autoren nunmehr anzuschreiben hatten. Dabei waren die während des Krieges massenhaft verbreiteten und prägenden Texte auch nach der vermeintlich desillusionierenden Niederlage nahezu umstandslos wieder- und weiterverwendbar. Dem einsamen Helden der Lüfte und Beherrscher der neuen Technik Flugzeug Manfred von Richthofen wurde in der Nachkriegsausgabe Ein Heldenleben (1920) ein Schulterschluss mit dem einfachen Frontsoldaten hinzugedichtet oder Flex zum Grabenkämpfer stilisiert, die somit beide schon frühzeitig das neue (Nachkriegs-)Symbol des Weltkrieges, den stahlhelmbewehrten Frontkämpfer, literarisch vorausgeahnt hatten.

Die Stereotypen der Kriegsdarstellung etablierten sich in den Nachkriegstexten dabei erstaunlich schnell: Der Protagonist des jeweiligen Textes ist weitestgehend nicht eine einzelne Figur, sondern eine Gruppe. Zwar werden die Ereignisse durch die Perspektive eines Erzählers gefiltert, der aber mehr von „wir“ als von „ich“ spricht. Die Gruppe ist sozial repräsentativ zusammengesetzt und wird als Folge der Kriegserlebnisse zum Familienersatz, ihr sozialer Zusammenhalt als „Kameradschaft“ deklariert, die das „wertvollste“ sei, was der Krieg hervorgebracht habe. Die früheren sozialen Bindungen und kulturellen Werte sind durch den Krieg weitestgehend obsolet geworden.

Die Gruppe durchläuft im Fortgang des Textes alle denkbaren Standardsituationen des Krieges: die Kriegsbegeisterung, den zunächst als Schikane erscheinenden Drill der militärischen Ausbildung, den ersten Fronteinsatz, den Verlust von Freunden, die Entfremdung von der Heimat, das dem Zufall Ausgeliefert-sein im Trommelfeuer, die Degradierung zum Material, die Maschine Krieg, die Differenz zwischen Front und Etappe, eventuell erste sexuelle Abenteuer, das Lazarett, den Verlust von Körperteilen und damit auch die physische Entfremdung, die Erkenntnis der Leiden des „Feindes“ und schließlich die (recht banale) Erkenntnis, dass die Kriegserlebnisse zu einer fundamentalen Veränderung des Lebens führen und sich nicht einfach aus dem Gedächtnis werden streichen lassen.

Der Krieg ist in der Regel ein von einer unbekannten Macht provoziertes und unbeeinflussbares „Schicksal“, bei linken und kriegskritischen Autoren in Einzelfällen von Menschen „gemacht“. Aber letztlich ändert dies an den Einflussmöglichkeiten des einfachen Soldaten auf den Fortgang des Krieges und auf seine Rolle und Handlungsspielräume in diesem Krieg nichts.

Krieg als „Schicksal“
Das Bild des modernen Krieges in diesen Texten ist daher letztlich ein phlegmatisches: Der Krieg ist ein vom einzelnen nicht zu überschauendes und nicht von ihm zu beeinflussendes Ereignis, in dem er vielmehr seine Kultur, seine Werte, seine Lebensperspektive und schließlich seine physische Existenz verliert. Die Soldaten liegen sich auf kurzem Abstand unter katastrophalen Lebensbedingungen gegenüber, führen Angriffe durch oder sehen sich Angriffen gegenüber, deren militärische Ziele sie nicht durchschauen und deren Erfolge oder Misserfolge sie nicht ermessen können. Die im traditionellen Kriegsbild gegebene Kongruenz zwischen individuellem Einsatz und übergeordneter militärischer Zielsetzung ist unwiderruflich zerstört. Und diese Erkenntnis gilt für beide Seiten der Front, was zu einer Verschiebung des Feindbildes von „gegenüber“ nach „oben“ in die militärische Hierarchie führt, ohne dass dieses Feindbild damit qualitativ verändert wird: Es bleibt nebulös und von Simplifizierungen und Vorurteilen geprägt. Eine explizite Aufforderung zum Handeln oder eine wenn auch utopische Perspektive für die Nachkriegszeit enthalten die Texte nicht.

Die Unterscheidung in kriegskritisch oder pazifistisch einerseits und bellizistisch andererseits ist eine von aktuellen Kriterien dominierte und ergibt sich aus einer Interpretation dieser stereotypen Kriegsdarstellung und nicht aus dem Ereignis Krieg: welches Ergebnis, welchen „Sinn“ hatte das große Gemetzel? War es die Geburt eines „neuen Menschen“ mit dem Frontkämpfer als Paradigma wie in Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920)? War die Kleingruppe der Frontkämpfer die Keimzelle eines neuen, nationalsozialistischen Gesellschaftsmodells wie in Werner Beumelburgs Gruppe Bosemüller (1929)? Diente das Fronterlebnis als Solidaritätserkenntnis der kommunistischen Arbeiterschaft wie in Adam Scharrers Vaterlandslose Gesellen (1930)? War die Weltkriegsetappe nur Spiegelbild einer durch und durch korrumpierten und daher abzuschaffenden, durch sozialistische Kader zu ersetzenden militaristischen Kaste wie in Heinrich Wandts Etappe Gent (1920)? War der Weltkrieg lediglich Zeichen der endlich zum Ausbruch gekommenen Grundkonstante und daher irreparablen Bestialität des Menschen wie in Ernst Johannsens Vier von der Infanterie (1929)? War aufgrund dieser Bestialität lediglich ein anarchistisches Gesellschaftsmodell denkbar wie in Bruno Vogels Es lebe der Krieg! (1926)? Oder bleibt am Ende nur desillusionierte Resignation und die Feststellung, dass etwas zerstört wurde, ohne eine Antwort auf die Frage zu geben, was auf den Trümmern aufzubauen wäre, wie in Remarques Im Westen nichts Neues (1928/29)? Die letztgenannte Interpretation des Krieges setzte sich letztlich unter den heute als kriegskritisch gewerteten Autoren durch (wobei dies wiederum ein Nachkriegsphänomen ist – und zwar des Zweiten Weltkrieges). War diese Interpretation es doch, die, weil folgenlos und ohne appellativen Charakter bei einem „Nie wieder“ stehen bleibend, von breiten Leserkreisen unterschiedlichster politischer Überzeugung zumindest akzeptiert werden konnte. Ludwig Renns Krieg (1928), Edlef Köppens Heeresbericht (1930), Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927), Ernst Glaesers Jahrgang 1902 (1928) und andere, heute zum Kanon der Weltkriegsliteratur zählende Texte wären hierunter zu subsumieren.

Doch hatten diese Texte ein Manko: Sie vermittelten keinen „Sinn“ des Krieges, statteten das Leiden und Sterben der Millionen nicht nachträglich mit einer Perspektive für die Gegenwart oder Zukunft aus, und waren damit wiederum verfügbar für Sinngebungszuschreibungen jeglicher Art. Nicht zufällig konnte daher Ludwig Renns Krieg nach dem 30. Januar 1933 unverändert in deutschen Bibliotheken verbleiben, während sein explizit eine kommunistische Position vertretendes Nachkrieg (1930) auf den nationalsozialistischen Scheiterhaufen landete.

Gewinner dieser Auseinandersetzung um die Deutungshoheit des Ersten Weltkrieges im Medium Literatur waren letztlich am Ende der Weimarer Republik die bellizistischen Texte. Wie bereits während des Krieges erzielten sie in Verbreitung und Anzahl der gedruckten Texte die eindeutige Mehrheit: Tausenden Titeln der kriegsverherrlichenden Literatur standen vielleicht hundert Titel pazifistischer und kriegskritischer Zielrichtung gegenüber. Die Mitte der 20er Jahre von staatlichen Organen geleiteten Zensurbestrebungen gegen radikal-pazifistische Texte wie Heinrich Wandts Etappe Gent oder Bruno Vogels Es lebe der Krieg! sind in der Retrospektive als zu vernachlässigende Episoden zu charakterisieren. Autoren der „konservativen Revolution“ wie Beumelburg, Dwinger, Ettighoffer, Zöberlein, Seldte legten in ihren Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre publizierten Texten den Grundstein für einen bruchlosen Übergang der deutschen Weltkriegsliteratur von der wankelmütigen, nie gefestigten Demokratie in eine neue kriegsfreundliche Diktatur. Und die neuen Machthaber versäumten es nicht, diese Kontinuität bis in den Ersten Weltkrieg auszudehnen durch Neuauflagen von Texten wie Richthofens Der rote Kampfflieger, Plüschows Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau und zahlreichen anderen.

Der von Julius Bab unmittelbar nach Kriegsende von ihm konstatierte Wandel vom „Stolz des Krieges“ zu seinem „Schrecken“ war Anfang der 30er Jahre erfolgreich wieder in sein Gegenteil verkehrt worden. Der „Schrecken“ war zum „Stolz“ geworden, und die deutsche Literatur zum Ersten Weltkrieg hatte hierzu mit verschwindend wenigen Ausnahmen einen herausragenden interpretatorischen, „Sinn“ stiftenden Beitrag geleistet.

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Schwerpunkt
PD Dr. habil. Thomas F. Schneider, Literaturwissenschaftler, geboren 1960 in Osnabrück. Studium Kommunikation/Ästhetik mit den Schwerpunkten Literatur-, Kunstwissenschaft und Philosophie. 2001 Habilitation mit einer Arbeit zur Entstehung und Rezeption von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Thomas Schneider ist Leiter des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums/Universität Osnabrück und lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Osnabrück. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Repräsentation des modernen Krieges in den Medien; mit Claudia Glunz Herausgeber des Periodikums Krieg und Literatur/War and Literature.