Das Wesen künftiger Konflikte

Die neue Herausforderung

von Reinhard Herden
Schwerpunkt
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(...) Die Analyse der veränderten globalen Situation hat erst begonnen, und schon drängt die Weltgemeinschaft das wiedervereinte Deutschland zur Übernahme von politischen und militärischen Lasten. Schneller als Antworten auf damit verbundene Fragen gefunden werden können, finden sich deutsche Soldaten in einem völlig ungewohnten Einsatz wieder - Befriedung ethnisch motivierter Konflikte in fremdartigen Umfeld.

Die für den herkömmlichen, konventionell geführten High Intensity Conflict gerüstete und ausgebildete Bundeswehr kann die neue Herausforderung nur dann erfolgreich meisten, wenn sie auf die unvermeidlich kommenden Low Intensity Conflicts vorbereitet wird, in die internationale Solidaritätsforderungen sie hineinziehen werden. Schwieriger als nur materielle Vorbereitung ist dabei die notwendige mentale Bewußtseinsänderung - bei Soldaten und anderen Bürgern. Beide müssen fern jeder Realitätsverdrängung verstehen, in welches politische und soziale Umfeld die Soldaten geschickt werden, und welcher Art die Situationen sind, die ihnen angemessene (militärische) Reaktionen abverlangen. Das Kriegsvölkerrecht westlich-humanitärer Prägung wird in den Low Intenstiv Conflicts der Dritten Welt weder Verhaltenssicherheit noch das Überleben garantieren. (...)

Unsere Soldaten werden sich in Gesellschaftsstrukturen und Konflikten wiederfinden, in denen schwerbewaffnete unberechenbare Kindersoldaten, die ein Bewußtsein der Endlichkeit ihrer körperlichen Existenz (und der anderer Menschen) noch nicht entwickeln konnten, die Waffen gegen sie richten und emotionslos einsetzen. (...)

Künftige Kriege und Konflikte werden in dem Unvermögen vieler Staaten zur gerechten Verteilung ihrer Ressourcen wurzeln, in der Unfähigkeit ganzer Völker, die Anforderungen der Postmoderne in Konkurrenz mit anderen bewältigen zu können. Die zunehmenden sozialen Gegensätze zwischen Kontinenten, Ländern und Menschen werden sich als unüberbrückbar erweisen. Vermutlich wird die explosionsartig wachsende Menschheit mit weiteren Erkenntnissen über die menschliche Natur konfrontiert werden, auf die sie selbst nach Holocaust, Ruanda und Bosnien-Herzegowina lieber verzichtet hätte.

Die stabilen Verhältnisse in Europa, Amerika und Ostasien beruhen darauf, daß die Staaten den Wohlstand ihrer Bürger mehren sowie auf einem stillschweigenden Konsens, der Kompromisse ermöglicht und auf kollektivem und individuellem Verantwortungsgefühl geründet. (...)

Die globale Konzentration des Wohlstands hat sich in den letzten Jahren wieder verstärkt, nachdem er etwa hundert Jahre etwas gleichmäßiger verteilt worden war. Die westlichen Länder und einige besonders anpassungsfähige Länder im Fernen Osten befinden sich in einem Zyklus der Wohlstandsmehrung, dessen Ende sich trotz gelegentlicher Handelskonflikte und Rezessionen nicht vorhersagen läßt. Die Besonderheiten des Wettbewerbs in der heutigen Zeit bringen es aber mit sich, daß in diesem Klub nicht mehr viele neue Mitglieder aufgenommen werden können. Einige Länder werden zwar möglicherweise noch aufgenommen, aber sie werden die Ausnahme bleiben. (...)

Diese Entwicklung könnte zur Entstehung eines Proletariats führen, das auf Dauer vom Fortschritt ausgeschlossen ist. Staaten, Völker und ganze Kontinente außerhalb des Westens würden dazu verurteilt sein, in ständiger Armut zu leben.

Oft falsch verstandene westliche Verhaltensweisen und die Zurschaustellung von Wohlstands (auch über die modernen Medien) verursachen kulturelle Identitätskrisen und wecken Erwartungen, die die jeweilige Regierung und auch westliche Hilfe nicht erfühlen können. Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat die Wut über die ungerechte Verteilung des Wohlstands lange gedämpft. Die Gegensätze zwischen arm und reich werden jedoch immer größer und immer bewusster. Noch lassen die kurz Gekommenen ihre dumpfe Wut nur an den am nächsten Zielen aus - an rivalisierenden Clans oder Stämmen. Angehörigen einer religiösen oder ethnischen Minderheit oder ihrer eigenen schwachen Regierung. Die großen Kriege des 20. Jahrhunderts fanden zwischen wohlhabenden Staaten statt. Im nächsten Jahrhundert werden die jetzt in Frieden miteinander lebenden wohlhabenden Staaten gegen die Völker der armen Staaten und Regionen ihren Wohlstand verteidigen müssen.

Der Menschheit steht ein Jahrhundert des Mangels bevor. Um Dinge, die man einmal kaufen konnte, wird man Krieg führen müssen. Der Kampf um überlebenswichtige Ressourcen wird lokale und regionale Konflikte auslösen. Heute verbindet man im Westen Kriege und Ressourcen sofort mit Öl. Aber zunehmend droht die Wasserfrage zum Kriegsfall zu werden. (...)

Wie wird die Welt im 21. Jahrhundert aussehen?

Das 21. Jahrhundert wird die Ära eines neuen Kolonialismus sein. Regionale politische, militärische und wirtschaftliche Hegemonie tritt an die Stelle von großen Okkupationsstreitkräften, Kolonisation und teuren Verwaltungstungen. Dem Wettbewerb nicht gewachsene Regionen werden untergehen. Die Kolonien der Zukunft werden vor allem Ressourcenlieferanten und Absatzmärkte für die Kolonialmächte sein. Die politische Führung und danach das Militär der reichen Länder treten nur dann in Aktion, wenn ihre wirtschaftlichen Interessen durch illegale Praktiken oder die Ausübung von Gewalt beeinträchtigt werden - nationale Interessen sind heutzutage in erster Linie wirtschaftliche Interessen. Die Regierungen der reichen Staaten werden physische und digitale Sicherheitskorridore für den Abtransport von Bodenschätzen und den Handel sowie zu Informationszwecken einrichten und überwachen. Sich verschärfende weltweite soziale Gegensätze werden dazu führen, daß die Instrumente Diplomatie, wirtschaftliche Hilfe und humane Interventionen immer selektiver eingesetzt werden.

Dem Westen sehen die unterprivilegierten Länder gegenüber. Menschen aus diesen Ländern, für die ein Leben in Frieden das am wenigsten erstrebenswerte Dasein ist, werden gegen die industrialisierte Welt führen. Große konventionelle Kriege können vor allem durch Streitigkeiten um Ressourcen und interkulturelle Konflikte ausgelöst werden - oder durch beides (z.B. im Großraum Persischer Golf/Kapisches Meer). Die NATO-Initiative einer Theater Ballistic Missile Defence ist nur ein erster Reflex auf eine neuartige Bedrohung, die schneller als heute geschätzt mehr als nur passive Schutzmaßnahmen und Abwarten verlangen könnte.

Von Kolumbien bis Russland entstehen neben den staatlichen neue Machtstrukturen, die in einem gespannten Verhältnis nebeneinanderexistieren - von mit moderner Technik ausgerüsteten Verbrechersyndiakten bis hin zu den macheteschwingenden Clans afrikanischer Warlords. In China werden möglicherweise Verhältnisse wie im Griechenland der Antike entstehen - es wird rivalisierende Städte, Blutfehden und einen Konflikt zwischen militärischen und ökonomischen Interessen geben.

Die Möglichkeit traditioneller, konventioneller Formen des Krieges wird vor allem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Asien weiterbestehen. Aber neue Konfliktformen werden hinzutreten.

Die meisten bewaffneten Konflikte werden asymmetrisch sein, traditionelle, reguläre Macht gegen diffuse, irreguläre Mächte. Für westliche Staaten und Militärs ein Problem, weil sie rechtlich, strukturell und gedanklich nur auf einen Krieg gegen ihresgleichen, gegen andere Staaten vorbereitet sind in seiner Zeit, in der Macht und die Bedeutung des Staates weltweit abnehmen.

Kriege zwischen verschiedenen Zivilisationen sind wegen ihrer grenzlosen Brutalität die Schreckensvision des nächsten Jahrhunderts. Ihnen kann sich der Westen auf Dauer kaum entziehen, da er durch antiwestliche Gruppen in sie hineingezogen wird (siehe Frankreichs Rolle in Algerien!). Wenn die heute noch latenten Konflikte in offene Gewalt einmünden, dann werden Zivilisationskriege die vorherrschende Konfliktform des nächsten Jahrhunderts sein, so wie der ideologische Wettstreit die vorherrschende Konfliktform des 20. Jahrhunderts war. Zur Zeit deutet vieles darauf hin, daß das Militär des Westens in Zukunft vorzugsweise in solche Kriege verwickelt werden wird - und sei es nur, weil sich bestimmte Gruppen oder Personen (á la Saddam Hussein) nicht von ihrer Überzeugung abbringen lassen, die Industrienationen bestrafen oder vernichten zu müssen. Wenn es eine Kraft gibt, die der Westen unterschätzt, dann ist es die Kraft des kollektiven Hasses.

Die Zahl der zumindest sehr grausamen Bürgerkriege wird ständig steigen, vor allem in den tribalistischen Staaten Schwarzafrikas. Zugrundegehende Staaten werden Gewalt gegen ihre eigenen Bevölkerung anwenden, um ihren Untergang im letzten Augenblick zu verhindern. Für viele gescheiterte Kulturen und Gesellschaften ist der Bürgerkrieg ein Mittel, ihre bedrohte Identität zu wahren. Diese Bürgerkriege werden durch militärische Interventionen von außen nicht beendet werden können. Eine Massive Einmischung des Auslands vergrößert oft nur das Ungleichgewicht der Kräfte und verursacht nach dem Abzug der intervenierenden Macht noch mehr Blutvergießen. (...)

Auch die Bewältigung von Katastrophen wird in Zukunft eine Beteiligung des Militärs notwendig machen. Gewöhnliche Naturkatastrophen, mit Ausnahme von Seuchen, lassen sich bewältigen ohne daß größere militärische Ressourcen eingesetzt werden müssen. Bei von Menschen verursachten Katastrophen verhält es sich anders. Auch VN-Fridenseinsätze sind eine (sehr kostspielige) Form der Bewältigung von Katastrophen. Wenn man außerdem den desolten Zustand vieler Atomanlagen vor allem in ehenm. kommunistischen Machtbereich berücksichtigt, dann nimmt sich Tschernobyl wie die Regel und nicht wie die Ausnahme von der Regel aus. Katastrophen und Konflikte werden sich gegenseitig zunehmend beeinflussen. Früher verursachten Kriege häufig Hungersnöte oder Seuchen. Möglicherweise, steht der Menschheit eine Phase bevor, in der Zahl der Beutekriege oder gar Vernichtungskriege zunehmen wird. Von Kuwait bis Ruanda haben sich die Grenzen zwischen vom Menschen verursachten Katastrophen und Naturkatastrophen bereits verwischt.

Folgerungen für den Einsatz von Streitkräften

Die militär-strategischen Folgen sind eindeutig - zumindest zum Teil. Es ist allerdings leichter, über sie zu reden als zu versuchen, ihnen zu begegnen. Zunächst wird der Westen Expeditionsstreitkräfte einsetzen, weil er seine Interessen in fernen Gebieten wahren will (oder er sich moralisch verpflichtet fühlt). Angesichts begrenzter Ressourcen und oft geringer Erfolgsaussichten werden nationale Interessen gegen die Interessen der betroffenen Menschen immer öfter abgewogen werden. Dabei wird man sich vermehrt fragen, ob humanitäre Gründe eine Intervention rechtfertigen (oder lohnen). Eine bestimmt nicht einfache Gewissensfrage, die aber im Zuge des zwangsläufig sich einstellenden westlichen Desillusionierungsprozeßes unausweichlich gestellt werden wird.

In einer Ära nicht zu gewinnender Kriege und Konflikte wird man das Wort Sieg wohl neu definieren müssen. Manchmal wird man sich in dem Dilemma befinden, entscheiden zu müssen, ob eine Intervention gerechtfertigt ist, die eine Lösung des Konfliktes nur verzögert. Möglicherweise wird man dem Militär bei der Bekämpfung von Verbrechen oder Korruption, die völlig außer Kontrolle geraten sind und deshalb nationale (internationale) Interessen bedrohen, neue Handlungsspielräume und Aufträge geben müssen. Die Versuchung aber, durch menschliche Verhaltensweisen verursachte Probleme ausschließlich mit militärischen Mittel lösen zu wollen, wird groß sein. Ein Regulativ werden hier jedoch vor allem die enormen Kosten ständig präsenter Power Projection Forces bilden. Der mögliche Ausweg liegt in der Stärke des Westens, Technik und Menschen intelliegent einzusetzen und miteinander zu verbinden.

An diesem Punkt setzen praktische militärische Überlegungen ein. High-Tech-Forces werden nicht immer die passende Antwort auf Konflikte sein. So wird der Bedarf an gut ausgebildeter Infanterie und Spezialkräfte sicher weiter bestehen, wegen der Art der vorrangigen Bedrohungen eher sogar steigen. (...)

Es werden Kriege gegen Menschen geführt werden, die anderes aussehen, denken und handeln als Menschen im Westen.

Nichtkombattanten werden in noch nie dagewesener Zahl zwischen die Fronten geraten. Die Kriege werden sich in Städten abspielen. Bei dieser brutalen, verlustreichen und schmutzigen Art der Kriegsführung werden viele technische Vorteile des Westens nichts nutzen; die beteiligten Soldaten werden einer harten physischen und psychischen Belastungsprobe ausgesetzt sein. (...)

Die sensible Armee der zivilisierten bundesdeutschen Wirklichkeit kann bislang in einer jeder Hinsicht feindlichen Umwelt nur in aseptischen künstlichen Inseln hinter mitgebrachtem Stacheldraht überleben. Für Beteiligung an erfolgreicher Power Projection und Konfliktkontrolle werden diese begrenzten Fähigkeiten nicht ausreichen. (...)

Sind Deutschland und die Bundeswehr wirklich mit aller Konsequenz bereit, sich auf Gegner einzulassen, die nichts zu verlieren haben? Sie werden auf Gegner Treffen, der Gefallen am Töten gefunden hat, der sich nicht rational verhält (sein Verhalten entspricht zumindest nicht dem westlichen Verständnis von Ratiobalität), der zu unbeschreiblichen Greueltaten fähig ist und seine Landsleute opfert, um zu überleben. Verrat ist ihm zur zweiten Natur geworden. Von halbherzigen Demonstrationen der Stärke mit restriktiven Verhaltensregeln läßt er sich nicht beeindrucken. Ist die Bundeswehr bereit und legitimiert, dieser Bedrohung notfalls auch mit brutaler Gewalt zu begegnen? Nicht immer wird man die Schmutzarbeit den Partnerländern überlassen können.

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Oberstleutnant i.G. Reinhard Herden ist Angehöriger des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr und dort als Bereitsleiter für Analysen und Risikoprognosen verantwortlich.