Angelegenheiten von Krieg und Frieden

Die Rolle der Vereinten Nationen

von Rolf C. Carriere

Seit der Gründung der Vereinten Nationen (VN) am Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, bei der die Entschlossenheit ausgedrückt wurde, “nachfolgende Generationen von der Geißel des Krieges zu erretten’, haben mehr als 200 Kriege stattgefunden und mindestens 22 Millionen Menschen wurden getötet – die meisten waren ZivilistInnen.[i] Ist dies nicht, in einem Satz, ein vernichtendes Urteil über die VN: Ihr Versagen, ihr fundamentalstes Versprechen einzulösen?

Vielleicht nicht ganz, aus drei Gründen:
Erstens: Von welchen VN sprechen wir? Es gibt mindestens zwei – die Arena der Mitgliedsstaaten und der Generalsekretär mit den verschiedenen Sekretariaten der VN-Organisationen und Agenturen (UNICEF, UNHCR, UNESCO, WHO usw.), obwohl auch diese letztlich von den Mitgliedsstaaten kontrolliert werden. Direkt von Anfang an gab es ein wesentliches Problem bei der Gestaltung der globalen Politik, nämlich dass sie den Sonderinteressen ihrer Mitgliedsstaaten unterliegt, besonders jener fünf mächtigsten Länder, die einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat einnehmen. Während des Kalten Krieges verhinderte ihr Veto oftmals kollektives Sicherheitshandeln und das erlaubte die Entfaltung vieler Kriege (z. B. Korea, Vietnam, Israel-arabische Staaten, Irak-Iran und viele andere in Afrika, Asien und Lateinamerika). So konnte der Sicherheitsrat sich auch nie darauf einigen, ein eigenes Militär aufzubauen, wie es Artikel 47 der UN Charta vorsah.

Zum zweiten sind Krieg und Gewalt ‘die Norm’ in der Menschheitsgeschichte gewesen. Zwischen 1500 v. Chr. und 1860 n. Chr. gab es in der bekannten Welt einen Schnitt von 13 Jahren Krieg gegenüber einem Jahr Frieden. [ii] Seitdem hat sich die Situation verschlechtert zu einem Jahr Frieden auf zwanzig Jahre Krieg. In diesem Zeitraum von 3.360 Jahren wurden mehr als 8.000 Friedensverträge geschlossen. Jeder von ihnen sollte für die Ewigkeit gelten – im Schnitt hielten sie zwei Jahre. So sollte es uns vielleicht nicht überraschen, dass selbst mit ehrgeizigen VN sich Krieg und Gewalt fortsetzen. Das soll nicht heißen, dass sie unvermeidbar sind, doch die Menschheit ist extrem langsam, wenn es um die Lehre der Geschichte geht: Si vis pacem, para pacem… nicht: para bellum!

Zum dritten wurde ein Dritter Weltkrieg verhindert. Und es scheint, dass die Welt sicherer wird, denn seit 1989 nimmt die Zahl der Kriege und der Kriegstoten ab.[iii] Diese gute Nachricht wird glaubhaft einer durchsetzungsfähigeren Diplomatie, Mediation und Peacekeeping zugeschrieben. Doch ob sich der Trend fortsetzen wird, hängt wesentlich davon ab, ob die Mitgliedsstaaten zulassen werden, dass die VN sich reformieren, um effektiv mit den neuen Bedrohungen (wachsende ethnische Spannungen, Ressourcenkonflikte, Bevölkerungswachstum, wachsende Einkommensunterschiede) umzugehen. Die Welt des 21. Jahrhunderts wird sich wahrscheinlich mehr, nicht weniger Gefahren als das vergangene Jahrhundert gegenüber sehen.

Aus diesen Gründen muss das Urteil über den Erfolg oder das Versagen der VN differenziert werden. Die VN hatten ursprünglich vier große Ideen: Frieden, Unabhängigkeit, Entwicklung und Menschenrechte. Beim Frieden waren sie am wenigsten erfolgreich. Doch die spektakulären, (wenngleich ungleichgewichtigen) Fortschritte in wirtschaftlichen und sozialen Fragen, der historische Prozess der Dekolonialisierung und die globale Akzeptanz der machtvollen Idee, dass universelle Menschenrechte für jedes menschliche Wesen zu jeder Zeit und überall gelten, verdanken viel den unermüdlichen Anstrengungen der VN-Familie.

Schaffung einer ‘Kultur der Prävention’
Ein Meilenstein der Amtszeit des früheren VN-Generalsekretärs Kofi Annan war seine Betonung der Verhinderung von gewaltsamem Konflikt. Er wollte die VN von einer ‘Kultur der Reaktion’ zu einer ‘Kultur der Prävention’ bringen und berief sich dabei auf Artikel 1 der VN-Charta, die von ‘effektiven kollektiven Maßnahmen der Prävention und der Beseitigung von Bedrohungen des Friedens’ spricht. Obwohl die Bewahrung des Friedens die primäre Verantwortung nationaler Regierungen bleibt, können sie sich wenn nötig auf die Unterstützung der VN verlassen. Die fünf wichtigsten Körperschaften der VN -  der Sicherheitsrat, die Generalversammlung, der Generalsekretär, der Internationale Gerichtshof und ECOSOC – sind alle auf die eine oder andere Weise mit Konfliktfragen befasst. Während der Sicherheitsrat und der Generalsekretär eine proaktive operationale Rolle bei der Beseitigung von Bedrohungen des Friedens spielen, wurde die Rolle der anderen Organe in jüngster Zeit im Hinblick darauf gestärkt, die strukturellen Ursachen gewaltsamen Konfliktes anzugehen. Die Generalversammlung hat eine Vorreiterrolle bei dem Setzen von neuen Normen und Standards gespielt. Dazu gehört z. B. die globale Kampagne zur Beendigung der Apartheit in den achtziger Jahren, die Resolution von 1998 über die ‘Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit’ und im Gipfel von 2005 die Annahme der historischen Norm der ‘Schutzverantwortung’ (Responsibility to Protect).

Die Brille der Konfliktprävention erlaubt uns, viele der vielschichtigen Aktivitäten und Themen der VN zu erfassen und das Potential einer kohärenteren Strategie von Frieden – Entwicklung- Recht zu erkennen.

Operationale Prävention
Operationale Prävention besteht aus Maßnahmen, die eine Eskalation einer deutlich erkennbaren Krise verhindern oder rückgängig machen sollen. Dies ist oft die offensichtlichere Seite der Arbeit der VN, die ihr Mandat aus der Charta bezieht, vor allem aus Kapitel VI (Friedliche Beilegung von Streit) und VII (Bedrohung und Bruch von Frieden und Akte der Aggression). Um ein paar Beispiele zu geben:

Der Sicherheitsrat kann Untersuchungen von Konflikten anordnen, Anreize anbieten oder Sanktionen oder Embargos verhängen. Als letztes Mittel kann er sogar militärische Gewalt beschließen, inkl. Blockaden, präventiver Entwaffnung und der Stationierung von UN-Peacekeepern oder Beobachtern.

Der Generalsekretär hat ein großes Repertoire präventiver diplomatischer Mittel zu seiner Verfügung. Dazu gehören Frühwarnung, Fact-Finding – und vertrauensbildende Missionen, Entsendung von Sondergesandten, Vermittlungsdienste und Hilfe bei der Rechtsreform. Eine Koordinierung der VN mit Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union oder ECOWAS kann auch beim Abbau von Spannungen helfen. Der Internationale Gerichtshof kann einen Streit (z. B. territorialer Art) schlichten. Und andere Teile des VN-Systems können diese Maßnahmen stärken, indem sie ihren eigenen Einfluss geltend machen, Schuldenerlass anbieten, Flüchtlingen und Vertriebenen helfen usw.

Strukturelle Prävention
Strukturelle Prävention konzentriert sich auf die Transformation sozialer, wirtschaftlicher, kultureller oder politischer Ursachen eines Konfliktes innerhalb eines Landes, um die Gefahr eines gewaltsamen Konfliktes zu reduzieren. Sie reflektiert die in jüngerer Zeit gewonnene Einsicht, dass Sicherheit und Entwicklung zusammenhängen. [iv] Dazu gehören z. B. konflikt-sensible und auf Menschenrechten basierende Programmgestaltung in den Bereichen von Nahrung (WFP und FAO), Gesundheit (WHO), Kindern (UNICEF), Bildung (UNESCO), Arbeit (ILO) und Flüchtlingen (UNHCR). Auf diesem Weg können langzeitige Ungleichheiten überwunden und Spaltungen überbrückt werden. Ebenso helfen die Stärkung von nationalen ‘Infrastrukturen des Friedens’ einschließlich von Rechts- und Sicherheitssektorreform, Bewusstseinsbildung, Unterstützung bei politischen Wahlen und die Entsendung von Menschenrechts- und EntwicklungsberaterInnen in den UN-Büros vor Ort (UNDP) bei der innergesellschaftlichen Versöhnung.

Außerdem wurden neue Institutionen geschaffen, z. B. die UN Peacebuilding Kommission, die gegründet wurde, um ausgewählten Ländern[v] zu helfen, sich von gewaltsamem Konflikt zu erholen.

Systemische Prävention
Systemische Prävention will das ‘Hintergrundgeräusch’ eines internationalen Systems verringern, das oft gewaltsamen Konflikt erleichtert, fördert oder provoziert. Beispiele sind kollektive Maßnahmen gegen illegalen Kleinwaffenhandel, Drogen oder ‘Blutdiamanten’, Aktionen gegen die Herstellung und Anwendung von Landminen, Maßnahmen gegen Geldwäsche und Institutionen, um die Straffreiheit zu beenden (Internationaler Strafgerichtshof -ICC). Obwohl NROs, führende Persönlichkeiten und die globale Zivilgesellschaft die wichtigsten treibenden Kräfte bei diesen Themen waren, kam systemische Prävention vor kurzem auch auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen.

Trotz der schwerwiegenden Probleme, die z. B. daraus resultieren, dass die permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates für über 80% des Welt-Waffenhandels verantwortlich sind oder den Vorbehalten, die viele mächtige Staaten immer noch gegenüber dem ICC haben, werden langsame Fortschritte gemacht. Manchmal spielt hier die Generalversammlung eine führende Rolle, z. B. bei der Initiierung von multilateralen Verhandlungen und der Schaffung des ICC, aber auch bei Kleinwaffen (UNDP), Atomwaffen (IAEA) und anderen. Stein für Stein werden die Lücken in der globalen Friedensarchitektur geschlossen.

Was wird die Rolle der VN in der Zukunft sein?
Angelegenheiten von Krieg und Frieden kann niemand allein regeln. Es scheint sich derzeit ein neues globales Lenkungssystem herauszubilden, in dem staatliche und nichtstaatliche Akteure sich in einer endlosen und grenzfreien Interaktion befinden. Die VN ist ein Akteur, vielleicht der primus inter pares, unter mehreren: Regierungen, internationalen Organisationen, privaten Unternehmen, NROs, Märkten, Eliten und der breiten öffentliche Masse.

Aber diese Entwicklung mag nicht schnell genug angesichts der Dringlichkeit der Probleme der Menschheit sein. Die Welt mag schlicht nicht den Luxus des Langfristigen und Langsamen haben. Mit wachsender weltweiter öffentlicher Ungeduld über so viel Gewalt, unzugängliche Fragen und Zusammenbrüche mag die Menschheit als Ganze vielleicht eine neue philosophische und spirituelle Basis finden. Vielleicht wird sie beginnen, das vorherrschende (aber irrtümliche) Prinzip der Trennung zu verwerfen und das Bewusstsein einer inhärenten Einheit zu entwickeln, das die Realität und wahre Natur aller persönlichen, kulturellen und natürlichen Existenz ist – und dann diesem neuen Bewusstsein entsprechend handeln. [vi] Ob die VN an der Spitze eines solchen Paradigmenwechsels stehen werden, hängt von der Bereitschaft aller ihrer Teile ab, ausschließlich im besten Interesse der Menschheit – und der Welt als Ganzen – zu handeln.

 

Anmerkungen
[i] Thomas Weiss & Sam Daws, The Oxford Handbook on the United Nations, OUP, 2007, S. 11; Helen Yanacopulos & Joseph Hanlon, Civil War, Civil Peace, The Open University, UK, 2006, S.18.

[ii] Anthony Stevens, The Roots of War—A Jungian Perspective, 1989, S.5-6

[iii] Siehe zum Beispiel den Human Security Report 2005; Human Security Brief 2007; Dan Smith, The Penguin State of the World Atlas (8th ed.) 2008, S.58. 

[iv]Kofi Annan, Prevention of Armed Conflict, Report of the Secretary General, UN, New York, 2002, S.ix, S.37

[v] Burundi, Sierra Leone, Guinea-Bissau, Central African Republic

[vi] Siehe Adi Da, Not-Two Is Peace—The Ordinary People’s Way of Global Cooperative Order, 3rd ed., Clearlake, Cal. 2009.  Eine deutsche Ausgabe wird im September 2009 beim Nietsch Verlag unter dem Titel “Nicht-Zwei Ist Frieden” erscheinen.

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Rolf Carriere arbeitete zwischen 1971 und 2005 für die Vereinten Nationen, hauptsächlich mit UNICEF in Asien, u. a. als Länderrepräsentant in Burma, Bangladesh und Indonesien. Seit seiner Pensionierung ist er Senior Advisor der NRO Nonviolent Peaceforce. Er kann unter r_carriere@hotmail.com erreicht werden.