Von der Ukraine verhöhnt und vom Westen ignoriert

Ein Friedensvorschlag aus Lateinamerika

von Raina Zimmering
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Auf der 77. Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York trat am 22. September 2022 der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard mit einem Friedensvorschlag zur Beendigung des Ukrainekrieges auf, der von weiteren lateinamerikanischen Ländern unterstützt wurde. Es geht um die die sofortige Beendigung des Krieges durch Verhandlungen und einen Waffenstillstand.
Der mexikanische Präsident Lopez Obrador hatte auf den Feierlichkeiten zum mexikanischen Unabhängigkeitstag diesen Vorschlag das erste Mal bekannt gegeben: „Die Friedensmission muss unverzüglich die Einstellung der Feindseligkeiten in der Ukraine und den Beginn direkter Gespräche mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und dem russischen Präsidenten Putin anstreben.“ (1) Verhandlungsorganisatoren sollten der Papst, der UN-Generalsekretär und der indische Ministerpräsident sein, die einen sofortigen Waffenstillstand von fünf Jahren durchsetzen sollten.
Prompt kam die Antwort durch einen Mitarbeiter von Selenskyj, der Obrador vorwarf, dieser wolle den Krieg nur benutzen, um Publicity zu machen. Außerdem twitterte er: „Ihr ‚Plan‘ ist also ein russischer Plan“. (2)
Vom Westen wurde der Vorschlag mit Nichtbeachtung honoriert. Die westlichen Staatschefs und in zu vernachlässigender Weise die offizielle westliche Öffentlichkeit ignorierten diesen Vorschlag, der durchaus einen durch eigene Erfahrungen geprägten und deshalb möglichen Weg zum Frieden in dem Ukraine-Krieg aufzeigen könnte. Nichtsdestotrotz rief der mexikanische Außenminister auf dem Gipfel der G-20 und der UN-Umweltkonferenz COP27 im November 2022 wiederum dazu auf, „sofort Gespräche auf(zu)nehmen, die zum Frieden führen“ und die Mittel, die für den Krieg eingesetzt werden, für Entwicklung und Umwelt umzuleiten. (3) Auch dieses Statement aus Lateinamerika wurde mehr oder minder überhört.

Grundlage sind die Erfahrungen Lateinamerikas
Was die ukrainische Regierung zusammen mit ihren westlichen Partnern vollkommen unterschätzt ist, dass sich der Vorschlag des mexikanischen Präsidenten seit Beginn des Ukrainekrieges in einer Kontinuitätslinie mit der Haltung der meisten lateinamerikanischen Staatsoberhäupter und lateinamerikanischer Intellektueller und sozialer Bewegungen befindet. Mehrfach beklagten Obrador und eine Reihe lateinamerikanischer Staats- und Regierungschef*innen wie z.B. Alberto Fernandez und Cristina Kirchner aus Argentinien, der Präsident Boliviens Luis Arce und der dreifache brasilianische Präsident Brasiliens Luiz Ignacio Lula da Silva, dass der Krieg in der Ukraine wegen mangelnder Verhandlungsbereitschaft nicht verhindert wurde. Sie geben sowohl Russland als auch den USA, der NATO sowie der Ukraine gleichermaßen die Schuld an dem Krieg in der Ukraine. Anfang Mai 2022 sagte Lula gegenüber dem Time Magazine, Selenskyj habe den „Krieg gegen Russland gewollt“, warf ihm vor, nicht genug mit Putin verhandelt zu haben und aus dem Krieg eine „Show“ zu machen. (4) Er sagte: „Politiker ernten, was sie säen. Wenn ich Brüderlichkeit, Solidarität, Harmonie säe, werde ich Gutes ernten. Wenn ich Zwietracht säe, werde ich Kämpfe ernten. Putin hätte nicht in die Ukraine einmarschieren sollen. Aber nicht nur Putin ist schuldig. Auch die Vereinigten Staaten und die Europäische Union sind schuldig. Was war der Grund für den Einmarsch in die Ukraine? Die Nato, die USA und Europa hätten also sagen sollen: Die Ukraine wird der NATO nicht beitreten. Das hätte das Problem gelöst. „Biden hätte es verhindern, nicht anstacheln sollen. Er hätte mehr reden, mehr kooperieren können. Biden hätte ein Flugzeug nach Moskau nehmen können, um mit Putin zu sprechen.“
Da gerade die lateinamerikanischen Staaten in ihrer Geschichte besonders oft Opfer von gewalttätigen Interventionen westlicher Staaten und der USA, von ihrer kolonialen Vergangenheit bis zu militärischen Interventionen und Installation von Militärregimen im Namen der US-amerikanischen Monroe-Doktrin waren, (5) lehnen sie Gewalt in den internationalen Beziehungen, die Verletzung der Souveränität und Integrität anderer Staaten vehement ab und treten für die Einhaltung des Völkerrechts ein. Und gerade deshalb hat kein lateinamerikanischer Staat in der UNO gegen die Verurteilung Russlands wegen seiner Intervention in die Ukraine gestimmt. Aus dieser Position lehnen die lateinamerikanischen Staaten nicht nur die russische Intervention in der Ukraine ab, sondern alle Interventionen, auch die der USA in Lateinamerika und anderswo wie in Vietnam, in Afghanistan, im Irak, in Jugoslawien und in Syrien mit tausenden Toten, ab. Und die Lateinamerikaner*innen lehnen auch die Provokation von Kriegen durch die Einmischung in innere Angelegenheiten und die Verletzung von Sicherheitsinteressen von Staaten ab. In der lateinamerikanischen Welt entstanden außenpolitische Theorien, von der mexikanischen Estrada-Doktrin (6) bis zur heutigen Theorie des „absoluten Friedens“ des kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro, die einen wertvollen Beitrag zur Theorie der Friedensforschung darstellen, die aber von der westlichen Welt, ebenso wie der mexikanische Friedensplan, weitgehend ignoriert werden.

Äquidistanz-Position
Der Regierung von Selenskyj ist offensichtlich auch entgangen, dass sich Lateinamerika aus seinem Hinterhof- und Stellvertreter-Dasein gegenüber den USA im Sinne der Monroe-Doktrin gelöst und eine eigenständige, stabilisierende und Frieden bringende Position in der Welt erlangt hat. Das Streben nach Atomwaffen wird strikt abgelehnt. Erst vor kurzem hat der Kontinent beim Zustandekommen des Atomwaffenverbotsvertrages von 2021 eine Initialrolle gespielt. Dabei bauten die lateinamerikanischen Länder auf ihren Erfahrungen im Vertrag von Tlatelolco über eine Kernwaffenfreie Zone in Lateinamerika von 1967 auf, der alle lateinamerikanischen und karibischen Staaten und alle Atomwaffenstaaten der Welt angehören.
Aufgrund der Äquidistanz-Position Lateinamerikas zwischen den Großmächten, der Vertiefung der regionalen Integration im Mercosur (Markt des Südens) und der CELAC (Vereinigung Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten mit Kuba, Venezuela und Nicaragua, aber ohne die USA und Kanada) und durch die Diversifizierung seiner Außenbeziehungen – Handelsbeziehungen zu Russland und China – konnte Lateinamerika einen erheblichen politischen Freiraum erringen, der die Abhängigkeit von den USA und von Europa verringerte.
Lateinamerika baute in den letzten Jahrzehnten ein vielschichtiges Netz von Beziehungen zu China (Belt & Road-Initiative) und Russland auf. Aber auch das Agieren Lateinamerikas in der Gruppe der G20 und den BRICS gehören zu der erfolgreichen Diversifizierungsstrategie. Der wachsende Freiraum zeigte sich auch in auf Gleichberechtigung ausgerichteten selbstbewussten Position gegenüber den USA und der EU, wofür die Weigerung mehrerer Staatschef*innen, an einem Gipfeltreffen  der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im Juni 2022 teilzunehmen, ein Beispiel ist. Grund war der Ausschluss Kubas, Venezuelas und Nicaraguas durch die USA vom „Summit of the Americas“ Auch die „Zweite Rote Welle“, der Sieg von Mitte-Links-Regierungen in einer Reihe von lateinamerikanischen Ländern (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Mexiko, Honduras), selbst in dem „NATO-Vorposten-Land“ Kolumbien, und der Ausbruch riesiger Protestwellen in Ecuador und Peru gegen neoliberale mit den USA befreundeten Regierungen ist Ausdruck dafür, dass die lateinamerikanischen Staaten nach eigenen Wegen suchen, die nicht mehr nur den Interessen und Transitions-Vorstellungen der USA oder der EU folgen. Diese Entwicklung kommt außenpolitisch auch im eigenständigen und unabhängigen Agieren der Lateinamerikaner im Zuge des Ukrainekriegs zum Ausdruck.

Kriegsfolgen
Die lateinamerikanischen Staaten tragen nicht die Auffassung des Westens mit, Russland durch Sanktionen und Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte zu „besiegen“ (Austin) oder gar zu „ruinieren“ (Baerbock) und damit auf einen langen Krieg hinzuarbeiten. Denn unter der Länge des Krieges, seiner Eskalation und unter den Sanktionen leiden nicht nur die ukrainischen und russischen Menschen, sondern die Menschen der ganzen Welt und besonders auch diejenigen im „Globalen Süden“, wozu Lateinamerika gehört. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften haben auf die eine oder andere Weise bereits hohe Verluste hinnehmen müssen, die Hunger, Elend und Hyperinflation steigern. Sei es, dass Hauptexporte, wie in Ecuador, Argentinien und Uruguay, zum Erliegen kamen oder sei es, dass die Düngemittelimporte in Brasilien, Argentinien und Mexiko zusammenbrachen und somit den Außenhandelsvorteil der Getreideproduktion zunichtemachten. Auf die Volkswirtschaften und das Leben der Menschen in Lateinamerika hat das verheerende Auswirkungen, so dass wiederum der Handlungsspielräume für eine selbst gewählte und eigenständige Entwicklung bedroht sind.
Die Initiative des mexikanischen Präsidenten, die sich mit der Mehrheit der anderen lateinamerikanischen Staatsoberhäupter und der Mehrzahl der Menschen in Lateinamerika deckt, ist daher kein billiger Publicity-Trick, sondern spiegelt das neue Selbstbewusstsein Lateinamerikas wider, das durch seine Erfahrungen mit der Monroe-Doktrin, seinen Kampf um Multipolarität und Völkerrecht, sein Äquidistanzverhalten zwischen den Weltzentren und innerhalb der sich neu sortierenden Kräftekonstellation im internationalen System ein eigenes Gewicht als Frieden bringender und stabilisierender internationaler Akteur gewonnen hat. Es kann dazu beitragen, dem Völkerrecht und der Diplomatie in der Welt wieder zum Durchbruch zu verhelfen, um Kriege zu beenden und Konflikte nachhaltig einzugrenzen. Man kann das Agieren Lateinamerikas im Gefolge des Ukrainekrieges auch als „Zeitenwende auf lateinamerikanisch“ bezeichnen.

Anmerkungen
1 Infobae: Asesor de Volodímir Zelenski reaccionó al plan de AMLO para pacificar Ucrania: “Usan la guerra para sus relaciones públicas” In: infobae, 17. September 2022, vgl. https://www.infobae.com/america/mexico/2022/09/17/asesor-de-zelenski-reacciono-al-plan-amlo-para-pacificar-ucrania-usan-la-guerra-para-sus-relaciones-publicas/.
2 ebda
3 Mexiko fordert von den G20 erneut einen Dialog mit Russland und der Ukraine für die „Einstellung der Feindseligkeiten“. In: Infobae, 15.11.2022. https://www.infobae.com/america/mexico/2022/11/15/mexico-volvio-a-llamar-al-dialogo-a-rusia-y-ucrania-para-el-cese-de-hostilidades-desde-el-g20/.
4 Nugent, Ciara: Lula Talks to TIME About Ukraine, Bolsonaro, and Brazil's Fragile Democracy. In: Times. 04.05.2022. https://time.com/6173232/lula-da-silva-transcript/

5 Die Monroe-Doktrin geht auf die „Rede an die Nation“ des US-Präsidenten James. Monroe von 1823 zurück und betont die Rolle der USA als Schutzmacht für den amerikanischen Kontinent. Die Doktrin entwickelte sich in der Folge (Roosevelt-Corollary)zu einer völkerrechtswidrigen Hegemonialtheorie, nach der die USA für sich in Anspruch nahmen, in Lateinamerika militärisch zu intervenieren und in die Politik souveräner Staaten einzugreifen, was ca. 30 Mal passiert ist. Seit einem neuen Gesetzesentwurf vom Februar 2022 und dem „Summit of the Americas“ (Juni 2022) versuchen die USA, diese Doktrin neu zu beleben und Lateinamerika wie im Kalten Krieg als „strategische Reserve“ gegen Russland und China zu nutzen
6 Die Estrada-Doktrin besagt, dass jede Nicht-Anerkennung einer Regierung eine völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates ist. Sie wurde von dem mexikanischen Außenminister Genaro Estrada Félix (1887–1937) formuliert.

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Univ.-Prof. Dr. habil. Raina Zimmering ist Historikerin, Politologin, Soziologin, Lateinamerikanistin und Senior Research Fellow am Institut für Internationale Politik (IIP).