Atomwaffenverbotsvertrag

Ein langer Weg liegt hinter und noch vor uns

von Noah Onuralp
Schwerpunkt
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Am 22. Januar 2021 ist der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Kraft getreten, nachdem er am 24. Oktober 2020, also genau 90 Tage zuvor, von Honduras als 50. Staat ratifiziert worden war. Damit ist der AVV zu bindendem Völkerrecht geworden. (1) Er ist ein Meilenstein in dem weltweiten Kampf für Global Zero, einer Welt ohne Atomwaffen.

Dieser Kampf dauert seit dem ersten und bislang einzigen Einsatz von Nuklearwaffen, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs gegen die japanischen Städte Hiroshima, an. Der neue Atomwaffenverbotsvertrag untersagt den Vertragsstaaten, Nuklearwaffen zu entwickeln, zu produzieren, zu besitzen, zu testen und/oder einzusetzen bzw. mit einem Einsatz von Nuklearwaffen zu drohen. (2) Doch der AVV verbietet nicht nur alle Nuklearwaffen. In der Präambel erkennt er auch das „inakzeptable Leid“ der Opfer vergangener Atomwaffeneinsätze an. Dies bezieht sich sowohl auf die Hibakusha, die Opfer der Atomwaffenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, als auch auf die Opfer von Atomwaffentests. (3) Weiterhin formuliert der AVV aus der Anerkennung des Leidens der Opfer von Atomwaffen heraus positive Verpflichtungen (positive obligations) in Form von Unterstützung für die Opfer von Atomwaffen. (4)

Der Entstehungs- und Umsetzungsprozess des AVV folgte dabei dem Vorbild früherer humanitärer Kampagnen, konkret denen der Verträge über ein Verbot von Antipersonenminen (beschlossen 1997) sowie von Streumunition (beschlossen 2008). Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Ausformulierung klarer Ziele sowie die Etablierung einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Regierungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Ein wichtiger Schritt für den AVV war das Resultat der Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) im Jahr 2010. In der Abschlusserklärung wird eine „tiefe Besorgnis über die katastrophalen humanitären Folgen eines jeden Einsatzes von Nuklearwaffen [ausgedrückt] und bekräftigt, dass alle Staaten jederzeit das geltende Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, einhalten müssen“. Bereits ein Jahr zuvor hatte der damalige US-Präsident Barack Obama in seiner „Prager Rede“ auf die existenzielle Gefahr, die von Nuklearwaffen ausgeht, hingewiesen und das Ziel einer atomwaffenfreien Welt betont.

Mehrere Regierungen nutzten den Schwung aus diesen (rhetorischen) Bekenntnissen und kamen zu drei humanitären Konferenzen (2013 von Norwegen sowie 2014 jeweils von Mexiko und Österreich einberufen) zusammen. Diese humanitären Konferenzen setzten – im Zusammenspiel mit Resolutionen der UN-Generalversammlung sowie des Scheiterns der NVV-Überprüfungskonferenz im Jahr 2015 – eine Dynamik in Richtung eines Verbotsvertrags für Nuklearwaffen in Gang. Entscheidend in diesem Zeitraum war das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure für einen Verbotsvertrag. Angeführt wurde dieses zivilgesellschaftliche Bestreben von der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) sowie der Internationalen. Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Dem gegenüber standen die fünf vom NVV anerkannten Atomwaffenstaaten. Sie lehnten die humanitären Konferenzen geschlossen ab (auch wenn das Vereinigte Königreich und die USA an einer Konferenz teilnahmen) und boykottierten die zuständige Arbeitsgruppe der UN. Trotz dieser Boykotthaltung der Atomwaffenstaaten und einiger ihrer Verbündeter, konnte der Abschlussbericht der UN-Arbeitsgruppe mit einer großen Mehrheit verabschiedet werden. Der Abschlussbericht empfahl die Aufnahme von Verhandlungen über einem Verbot von Atomwaffen. Ende 2016 stimmte der Erste Ausschuss der Generalversammlung der Vereinten Nationen dem Bericht zu und gab somit der Verhandlung über ein Verbot von Atomwaffen das nötige Mandat.

Obwohl der zeitliche Rahmen und die Ressourcen für die Verhandlung des AVV sehr eingeschränkt waren, stimmten am 7. Juli 2017 die diplomatischen Delegationen von 122 Ländern für die Annahme des AVV. Bei der Verabschiedung des historischen Vertrags waren eine große Zahl von Expert*innen, zivilgesellschaftliche Akteure sowie Überlebende der Atombombenabwürfe und -tests anwesend. Nicht anwesend waren jedoch die neun Atomwaffenstaaten sowie deren Verbündete der nuklearen Abschreckung (mit Ausnahme der Niederlande). Für ihren herausragenden Einsatz im Bestreben für den AVV erhielt ICAN noch im selben Jahr den Friedensnobelpreis.

Kritik am AVV
Einer der Hauptkritikpunkte vieler Kritiker*innen des AVV ist, dass dieser angeblich nicht mit dem NVV vereinbar sei. Immer wieder wird gesagt, der AVV stehe in Konkurrenz zu dem knapp 50 Jahre zuvor beschlossenen NVV und unterminiere somit Konsensbildung und Fortschritte unter dem älteren Vertragswerk. (5) Dieser Kritikpunkt erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als haltlos. Der bereits seit 1968 bestehende NVV enthält nur ein informelles Tabu gegen Atomwaffeneinsätze. Der AVV verstärkt dieses Tabu nicht nur, sondern schafft auch eine legalistische, völkerrechtliche Grundlage für diese Tabuisierung und darüber hinaus. Die Kompatibilität von AVV und NVV wird auch bei Betrachtung von Artikel VI des NVV deutlich. Dieser (sehr kurz gehaltene) Artikel verpflichtet die NVV-Vertragsstaaten, das allgemein formulierte Ziel der nuklearen Abrüstung zu verfolgen. Allerdings sieht der NVV vor, dass weitere ergänzende legalistisch-bindende Instrumente zum Erreichen dieses Ziels abgeschlossen werden. Kurz gesagt wird zur erfolgreichen Implementierung von Artikel 6 des NVV – der vollständigen nuklearen Abrüstung – eine völkerrechtlich-bindende Norm benötigt. Bis vor kurzem war eine solche Norm, mit Ausnahme weniger bilateraler Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge, wie dem mittlerweile außer Kraft aufgekündigten INF-Vertrag, nicht vorhanden. Erst der Anfang 2021 in Kraft getretene AVV hat diese legalistische Lücke gefüllt. Somit ist das Argument, der AVV würde den NVV unterminieren, haltlos. Vielmehr muss der AVV als wichtige und dringend notwendige Vervollständigung des Bestrebens für eine atomwaffenfreie Welt gesehen werden. In diesem Bestreben hat der NVV zweifelsohne eine wichtige Rolle gespielt. Er wies jedoch an entscheidenden Stellen Defizite vor, deren Korrektur nun vom AVV angestrebt wird. (6) Anfang 2021 veröffentlichte auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestags eine Publikation, welche die rechtliche Kompatibilität zwischen AVV und NVV bestätigte. (7)

Ausblick
Ob der AVV seinen bislang erfolgreichen normativen Prozess fortsetzen und den Weg von einer Welt, in der die gegenwärtige Sicherheitspolitik der gefährlichen und veralteten Logik der nuklearen Abschreckung obliegt, zu einer Welt frei von Atomwaffen ebnen kann, hängt auch von dem ersten Treffen der AVV-Vertragsstaaten (Meeting of State Parties – MSP) ab. Diese ist für den 22. bis 24. März 2022 in Wien (Österreich) angesetzt und soll somit knapp zwei Monate nach der für Januar 2022 geplanten NVV-Überprüfungskonferenz stattfinden. Bei der MSP werden die Vertragsstaaten zusammenkommen, um die Universalisierung und Umsetzung des AVV zu besprechen. Daneben wird ein weiterer Fokus auf der Opferhilfe für die Betroffenen von Atomwaffeneinsätzen liegen sowie auf der Sanierung der Umwelt, die unter dem Einsatz von Atomwaffen massiv gelitten hat. Neben den Regierungen der 86 Unterzeichnerstaaten, von denen 56 Staaten den AVV ratifiziert haben, können Regierungen von Nichtvertragsstaaten als Beobachter an der Konferenz teilnehmen. Bislang haben Finnland, Schweden, die Schweiz und Norwegen angekündigt, als Beobachter an der MSP teilzunehmen. Vor allem die Ankündigung Norwegens, als bisher erstes und einziges NATO-Mitglied teilzunehmen, macht Hoffnung, dass weitere NATO-Mitglieder ihre Blockadehaltung gegenüber dem AVV aufgeben und an der Konferenz als Beobachter teilnehmen könnten.

Bislang hält Deutschland, das als Land der nuklearen Teilhabe einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem AVV aus dem Weg gegangen ist bzw. durch eine engstirnige Boykotthaltung diesbezüglich aufgefallen ist, weiterhin an dem sicherheitspolitischen Dogma der nuklearen Abschreckung fest. In den Koalitionsverhandlungen wird nun auch über einen Beobachterstatus Deutschlands verhandelt. Es bleibt zu hoffen, dass eine neue Bundesregierung unter Federführung der SPD und mit Beteiligung der Grünen – immerhin beides Parteien, die in ihren Wahlprogrammen zur Bundestagswahl Unterstützung für den AVV signalisiert haben – ihren sozialdemokratischen Kolleg*innen der norwegischen Regierung folgen wird. Es wäre ein bedeutsames Signal für die anderen NATO- und EU-Länder, wenn die Bundesrepublik als wichtiges Mitglied beider Staatengemeinschaften an der MSP als Beobachter teilnehmen würde. Langfristig wird ein Beitritt der Bundesrepublik in den AVV unabdingbar sein, wenn die Gefahr eines Atomkriegs abgewendet werden soll. Die Bevölkerung scheint in dieser weiter zu sein als die Bundesregierung: 92 Prozent der Deutschen unterstützen den deutschen Beitritt zum Atomwaffenverbot laut einer repräsentativen Umfrage. (8)

Anmerkungen
1 Hall & Hoffman-Axthelm (2020): ICAN Hintergrund: Der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) tritt in Kraft: Auswirkungen und Hintergrund.
2 John Borrie (2021) An Introduction to Implementing the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, Journal for Peace and Nuclear Disarmament, 4:1, 1-12, DOI: 10.1080/25751654.2021.1947460
3 Atomwaffenverbotsvertrag Vorwort
4 J. Baldus, C. Fehl, S. Hoch: PRIF Report 4/2001. Beyond the Ban: A Global Agenda for Nuclear Justice.
5 CSS Analysen zur Sicherheitspolitik (2021): Europa und der Atomwaffenverbotsvertrag (Ausgabe Nr. 286)
6 Thomas Hajnoczi (2020) The Relationship between the NPT and the TPNW, Journal for Peace and Nuclear Disarmament, 3:1, 87-91, DOI: 10.1080/25751654.2020.1738815
7 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags (2021). Zum rechtlichen Verhältnis zwischen Atomwaffenverbotsvertrag und Nichtverbreitungsvertrag. Aufrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/814856/28b27e2d04faabd4a4bc0bfd05...
8 siehe 1.

Noah Onuralp, 25,  studiert Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und ist seit diesem Jahr Mitglied bei ICAN Deutschland.

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Noah Onuralp, 25, studiert Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und ist seit diesem Jahr Mitglied bei ICAN Deutschland.