Die Unmöglichkeit, Deutschland zu „verteidigen“

Ein Plädoyer für die Abschaffung der Bundeswehr

von Otmar Steinbicker
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Würden wir eine Straßenumfrage machen, wozu die Bundeswehr da sein soll, dann würde wohl die überwiegende Mehrheit der Befragten der Aussage zustimmen: „Sie soll unser Land verteidigen“.

Das ist nun leichter gesagt als getan. Vermutlich haben die meisten der Befürworter*innen dabei Szenarien des Zweiten Weltkrieges vor Augen. Dessen Ende liegt allerdings 75 Jahre zurück, und seitdem hat sich die Welt einschließlich der Militärtechnik und der Möglichkeiten zur Kriegführung drastisch verändert. Das erfordert ein entsprechendes Umdenken!

Ein großer konventioneller Krieg in Europa ist nicht mehr führbar
Im Juni 1988, kurz vor dem Ende des Kalten Krieges, diskutierten auf einer Tagung der Ev. Akademie Loccum Politiker*innen, Diplomat*innen, Journalist*innen und erstaunlicherweise auch Militärs aus Ost und West über die Problematik von Friedenssicherung und Kriegsverhinderung. Dabei gab es seitens der Militärs den Konsens, dass nicht nur ein Atomkrieg nicht überlebbar, sondern auch ein großer, weiträumig geführter konventioneller Krieg in Europa nicht mehr führbar, weil nicht gewinnbar ist.

Der damalige Leiter der DDR-Delegation in Loccum, Wilfried Schreiber, erklärte 2015 in einem Interview für das „FriedensForum“: „Die Kriegsuntauglichkeit der europäischen Zivilisation für einen großen, raumgreifenden Krieg hat sich seit 1988 noch zugespitzt. Nehmen Sie die seitdem deutlich gestiegene Abhängigkeit von Computertechnologie und dem Internet. Die Risiken sind insgesamt vielfältiger und unberechenbarer geworden. Das betrifft insbesondere die sensible Stabilität unserer Stromnetze: Ohne Elektroenergie kein Licht, kein Wasser, keine digitale Kommunikation, keine stabile gesundheitliche Versorgung, keinen Bahntransport – letztlich der völlige Zusammenbruch der gesamten Zivilisation in allen von einem solchen Krieg betroffenen Ländern.“ (1)

Konflikte zwischen Staaten müssen ohne Krieg gelöst werden
In der Konsequenz heißt das: Die Bundeswehr ist angesichts einer solchen Perspektive nicht mehr zur Landesverteidigung in der Lage. Ihr militärischer Einsatz in einem solchen großen Krieg würde mit dazu führen, dass unser Land vernichtet und nicht „verteidigt“ würde. Gleiches gilt für andere an einem solchen Krieg beteiligte Armeen und Staaten.

Konflikte zwischen Staaten auf der Grundlage von Interessenunterschieden welcher Art und welcher Intensität auch immer wird es wohl immer geben. Wenn solche Konflikte nicht mehr durch Kriege gelöst werden können, wird man andere Wege finden müssen, diese Konflikte auszutragen und Lösungen zu finden. Das ist dann keine Frage von „Pazifismus“ oder „Bellizismus“ mehr, sondern eine Frage von schlichtem Realismus. Wenn es keine militärische Lösung mehr geben kann, dann kann es nur noch eine politische Lösung geben.

Wenn es aber keine militärische Lösung mehr geben kann, dann taugt auch die Bundeswehr als militärisches Instrument nicht mehr.

Bilanz der Auslandseinsätze
Als Einsatzfeld der Bundeswehr außerhalb der unmittelbaren Landesverteidigung galt vor allem bis 2014 die Teilnahme am Afghanistankrieg. Die Bilanz dieses personell und materiell aufwändigsten Einsatzes seit dem Zweiten Weltkrieg ist außerordentlich negativ. Keines der benannten Ziele Stabilisierung, Demokratie, Frauenbefreiung wurde erreicht. Zeitweise hochfliegende Pläne von einer „Armee im Einsatz“, von „Schnellen Eingreiftruppen“, die von Konfliktherd zu Konfliktherd und von Kontinent zu Kontinent eilen, erwiesen sich als illusorisch.

Das Friedensgutachten 2016 der wichtigsten deutschen Friedensforschungsinstitute kam bei einer Betrachtung, die über das Thema Bundeswehreinsätze hinaus auch Militäreinsätze bilanziert, an denen die Bundeswehr nicht beteiligt war, zu folgendem Schluss:

„Wenn autoritäre Regime sich nur mit Repression an der Macht halten oder Staatsapparate keine Leistungen für das Gemeinwesen erbringen, münden Konflikte leicht in Gewalt und beschleunigen den Zerfall staatlicher Strukturen. Auch eine ungerechte Welthandelsordnung kann dazu beitragen, die Akzeptanz politischer Institutionen zu untergraben. ‚Wir brauchen eine faire Welthandelsordnung, die allen nützt‘, fordert das Friedensgutachten 2016 (FGA). Es prangert deshalb die Kumpanei der Industrieländer mit raffgierigen Eliten autokratischer Länder an und warnt zugleich davor, den Erfolg externer Eingriffe in Gewaltkonflikte zu überschätzen. Die desaströsen Erfahrungen in Afghanistan, Irak und Libyen sollten eine Lehre sein.“ (2)

Derzeit geraten diese Lehren leider wieder etwas in Vergessenheit. Da wird von Medien wie der FAZ allen Ernstes der Aufbau einer deutschen Kriegsflotte für den Einsatz im indo-pazifischen Raum empfohlen. Eine solche Kriegsflotte würde auf jeden Fall Unmengen an Geld in die Kassen der Rüstungsindustrie spülen, mehr Sicherheit brächte sie aber nicht.

Wer oder was bedroht unser Land?
Wenn wir die ernsthaften Bedrohungen untersuchen, dann dürfte neben der Gefahr einer militärischen Eskalation wie zu Zeiten des Kalten Krieges, der nur durch Deeskalation zu begegnen ist, vor allem ein zentrales Thema im Raum stehen: die absehbaren Folgen des Klimawandels. Dass dieser Bedrohung mit militärischen Maßnahmen nicht zu begegnen ist, versteht sich von selbst.

So konstatiert eine Studie vom 24. Februar 2020 des National Security, Military and Intelligence Panel (NSMIP), in dem Experten aus Militär, Geheimdiensten und der Sicherheitsforschung zusammenarbeiten:

„Auf der Grundlage unserer Forschung haben wir festgestellt, dass selbst bei Szenarien mit geringer Erwärmung jede Region der Welt in den nächsten drei Jahrzehnten ernsthafte Risiken für die nationale und globale Sicherheit aufweisen wird. Eine stärkere Erwärmung wird im Laufe des 21. Jahrhunderts katastrophale und wahrscheinlich irreversible globale Sicherheitsrisiken mit sich bringen. ... Die Welt befindet sich derzeit auf dem Weg zu einer hohen globalen Durchschnittserwärmung, und unser Emissionspfad geht weiter. Selbst vorgeschlagene internationale Verpflichtungen, wie die im Rahmen des Pariser Klimaabkommens, sind nicht annähernd angemessen, um die Bedrohung einzudämmen.“ (3)

Angesichts des steigenden Meeresspiegels sieht die US-Marine schon jetzt das Problem, dass ihre Häfen von Überschwemmung bedroht sind. Gelingt es nicht bald, diesen Anstieg zu stoppen, wird die US-Marine in absehbarer Zeit kaum noch einsatzfähig sein.

Den schon heute absehbaren Folgen des Klimawandels angemessen zu begegnen, erfordert den Einsatz immenser Summen, zum Beispiel für den Küstenschutz. Auch der zivile Katastrophenschutz muss deutlich ausgebaut werden. Hier besteht mit dem Technischen Hilfswerk bereits ein taugliches Gerüst, auf dem personell und mit geeignetem Gerät erheblich ausgebaut werden kann. Gerne wird seit einigen Jahren auf die Hilfe der Bundeswehr bei Überschwemmungen usw. hingewiesen. Diese besteht vielfach jedoch aus schlichten Hilfsarbeiten, da kein speziell für diese Katastrophen ausgebildetes Personal zur Verfügung steht. Ein gut ausgebautes Technisches Hilfswerk kann gerne auch sinnvolle Auslandseinsätze durchführen, um schnell und umfangreich Hilfe zu leisten.

Brauchen wir die Bundeswehr noch oder kann die weg?
Wenn die Bundeswehr nicht mehr in der Lage ist, unser Land zu verteidigen, dann wird sie für diesen Zweck auch nicht mehr gebraucht. Dann sind wir in einer vergleichbaren Situation wie am Ende des Dreißigjährigen Krieges, als nach 1648 in vielen deutschen Städten die Stadtmauern abgerissen wurden, von denen sich die Bürger*innen über Jahrhunderte Schutz versprochen hatten. Die Mauern wurden abgerissen, weil sie keinen Schutz mehr boten und angesichts der Entwicklung der Waffentechnik keine Verteidigung der Städte mehr ermöglichten.

Dass bisher kaum in eine solche Richtung nachgedacht wird, dürfte vor allem daran liegen, dass die Rüstungsindustrie ein enormer Exportzweig ist. Die Bundeswehr abzuschaffen oder in ihren Fähigkeiten enorm einzuschränken, dürfte sich als nicht werbewirksam für potenzielle Kunden von Kriegswaffen erweisen. So liegt derzeit womöglich der größte Wert der Bundeswehr darin, ein PR-Faktor für die Rüstungsindustrie zu sein.

Anmerkungen
1 https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/die-europaeisch...
https://www.friedensgutachten.de/user/pages/04.archiv/2016/FGA%202016_In...
3 https://climateandsecurity.org/2020/02/release-future-climate-change-pre...

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de