Just Policing

Eine internationale Polizei als Element einer zivilen Sicherheitspolitik?

von Theodor Ziegler
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Der im Szenario „Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“ (Snd) als ein Element vorgeschlagene Aufbau einer internationalen Polizei auf kontinentaler und globaler Ebene ruft gegenteilige Reaktionen hervor: Menschen mit einem eher anarchistischen Selbstverständnis kritisieren dies als „Polizeipazifismus“. Sie verweisen auf schlechte Erfahrungen mit der Polizei bei innergesellschaftlichen Konflikten oder sehen gar die Gefahr eines Polizeistaates. Bei anderen Menschen hingegen, die bislang die militärische Sicherheitspolitik trotz erheblicher Bedenken mitgetragen haben, jedoch angesichts der Kontraproduktivität an deren Sinnhaftigkeit zweifeln, gewinnt das Konzept einer zivilen Sicherheitspolitik durch diese polizeiliche ultima-ratio-Komponente an Plausibilität.

In einer freiheitlichen-demokratischen Gesellschaft besteht unter der übergroßen Bevölkerungsmehrheit ein Regelkonsens. Weit über 95 Prozent der Bürger*innen verhalten sich gesetzeskonform. (1) Für die Wenigen, die das Recht brechen oder gar ihren Mitbürger*innen Schaden zufügen – und die wird es in jeder Gesellschaft geben –, bedarf es einer Polizei. Die Polizeistruktur in Deutschland gliedert sich in subsidiärer Weise in den Kommunalen Vollzugsdienst, die Landes- und die Bundespolizei sowie in Kontrollorgane wie den Wirtschaftskontrolldienst oder den Zoll. All diesen Behörden ist gemeinsam, dass sie beim jeweils übergeordneten Gemeinwesen angesiedelt sind. (2) Neben Regelungs-, Kontroll- und Schutzaufgaben haben sie den Auftrag, Rechtsbrecher*innen aufzuspüren, festzunehmen und der Justiz zu überstellen. Während man innerhalb von Rechtsstaaten – trotz aller Mängel – von der Stärke des Rechts sprechen kann, herrscht auf der internationalen Ebene das Recht des Stärkeren. Interessanterweise unterscheiden sich auf diesem Terrain liberale Demokratien kaum von Autokratien oder Diktaturen, sondern untergraben ihre Glaubwürdigkeit durch völkerrechtswidrige, kriegerische Aktivitäten, doppelte Standards und oft nur selektive Beachtung des eigenen Wertekatalogs. Sie liefern damit den gegnerischen Regimen die Rechtfertigung für eigene Aufrüstungsmaßnahmen und offensives Agieren. Doch, so wie durch die Bildung der Nationalstaaten die vormaligen, oft kriegerischen Streitigkeiten zwischen den einzelnen Fürstentümern einem übergeordneten Recht unterstellt wurden und damit der Landfriede möglich war, so bedarf es nun in dem globalen Gemeinwesen, wie Carl Friedrich von Weizsäcker es schon 1963 forderte, einer „Weltinnenpolitik“. Konfliktaustragungen, „auf eigene  - mit Massenvernichtungswaffen ausgestatteter - Faust“, hätten die Vernichtung der Menschheit zur Folge. Das UN-Gründungsziel, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, lässt sich nur mit einer globalen Demilitarisierung und einer Verpolizeilichung der internationalen Konfliktaustragung realisieren.

Just Policing
Den Begriff Just Policing gilt es in seiner doppelten Bedeutung zu verwirklichen: Wir brauchen keine nationalen Armeen, sondern nur eine internationale Polizei. Und diese muss gerechte, d.h. rechtsstaatliche Polizeiarbeit leisten. Sie muss, sollte die vorrangige zivile Konfliktbearbeitung scheitern, zum Schutz von Menschen präsent sein. Dazu braucht sie deeskalative Fähigkeiten und übt, wenn es unausweichlich werden sollte, Zwangsgewalt nach polizeilichen Kriterien – Verhältnismäßigkeit, Schutz Unbeteiligter und unter gerichtlicher Kontrolle – aus. Die Zuordnung dieser internationalen Polizeien bei der UNO bzw. bei den kontinentalen Kooperationsstrukturen (ASEAN, AU, OAS und OSZE) und ihre personelle Zusammensetzung aus Polizeikräften aller jeweiligen Mitgliedsstaaten ermöglichen eine neutrale, allein dem übergeordneten gemeinsamen Recht verantwortliche Polizeiarbeit. Die Beamt*innen brauchen für diese internationale Polizeitätigkeit neben einer ausreichenden Berufserfahrung eine spezielle Ausbildung für ein kultur- und konfliktsensibles und möglichst gewaltarmes Agieren. Weil diese Polizeiarbeit auf Verständnis und Verständigung ausgerichtet ist, spielen menschliche Beziehungen eine wichtige Rolle. Dies erfordert personelle Einsätze von mindestens mehrjähriger Dauer.

Möglicher Realisierungsweg
Angesichts der atomar bewaffneten und profitabel im Rüstungsgeschäft tätigen Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat scheint es illusionär, dass diese ihre militärische Macht zugunsten einer internationalen Polizeistruktur aufgäben. Doch auch andere Innovationen wie die inzwischen weitgehend verwirklichten Verbote der Sklaverei und der Todesstrafe schienen lange Zeit unrealisierbar. Diese wurde jedoch nicht top-down, sondern bottom-up durchgesetzt. Ebenso könnte ein kontinental beginnendes Szenario aussichtsreicher sein:

Während und nach der Corona-Pandemie nimmt in vielen europäischen Ländern der öffentliche Druck auf ihre Regierungen zu, die finanziellen Ressourcen zum Schutz vor den faktischen, alle Völker gemeinsam betreffenden Bedrohungen (neben Pandemien auch die Klimakatastrophe) einzusetzen und die bisherigen enormen Investitionen in vermeintliche militärische Bedrohungen zu beenden. Auch die Kulturschaffenden, Kirchen, Unternehmerverbände und Gewerkschaften fordern für das Verhältnis der Europäischen Union zu Russland eine neue Verständigungspolitik. Nach Beendigung der westlichen Wirtschaftssanktionen werden zwischen Nato und Russland Demilitarisierungsschritte (Abbau der Offensivwaffen, Manöververzichte, Bildung entmilitarisierter Zonen) sowie im Rahmen der OSZE eine Konferenz zur völkerrechtlichen Klärung der Zugehörigkeit der Krim sowie der umstrittenen Gebiete in der Ostukraine vereinbart. Zu deren Überwachung wird eine aus allen OSZE-Mitgliedsstaaten rekrutierte internationale Polizei aufgebaut. Diese Entwicklung fängt somit nicht bei einem Punkt Null an, sondern setzt im aktuellen politischen Prozess, korrespondierend mit dem Rückbau der militärischen Strukturen und Kapazitäten, ein.

Die militärischen War-on-Terror-Auslandseinsätze der vergangenen zwei Jahrzehnte wurden zwar zunächst als quasi-polizeiliche Maßnahmen gerechtfertigt. Doch weder von der Strategie noch von der Bewaffnung her waren sie gerechtfertigt und ihre mangelnde Zielführung ist offenkundig.Mit dieser Kritik könnte das Bemühen von Friedensforschung und -bewegung um eine an den Kriegsursachen ansetzende zivile Sicherheitspolitik mit dem ultima-ratio-Instrumentarium einer wirklichen internationalen Polizei in der Öffentlichkeit auf Interesse stoßen.

Anmerkungen
1 Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik 2019 des Bundesinnenministeriums gibt es für die ca.  5,3 Mio. gemeldeten Straftaten in Deutschland ca. 2 Mio. Tatverdächtige. Im Justizjahrbuch 2017 werden 716.000 Strafurteile genannt, davon 104.000 Freiheitsstrafen, wovon 67 % auf Bewährung ausgesetzt sind. Im Gefängnis saßen im März 2018 ca. 50.000 Strafgefangene.
2 griech. polis = Stadt/Staat

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Theodor Ziegler, M.A. ist Religionslehrer im Kirchenbezirk Breisgau-Hochschwarzwald und Mitinitiator der Eingabe an die Landessynode.