"Eine Stimme der Gewalt"

von Hajo Funke

Der Politologe Hajo Funke erklärt in dem folgenden Interview, das wir nachfolgend dokumentieren, warum Nationalismus und Ausländerhass gerade in Ostdeutschland so stark gewachsen sind.

Frage: Herr Professor Funke, mit Überfällen auf Ausländer, Brandan­schläge auf Asylantenheime und De­monstrationen machen Rechtsradikale wieder von sich reden, in den neuen Bundesländern stärker als in den alten. Erstmals hat jetzt der Verfassungs­schutzbericht des Bundesinnenministers konstatiert, daß es mehr Rechtsextreme als Linksextreme in unserem Land gibt. Sie selbst haben soeben eine Studie über das nationalistische Potential in der Ex-DDR verfasst. Können Sie den Befund der Verfassungsschützer bestätigen?

Hajo Funke: Ja, denn nach der Aus­wertung meiner Quellen steht für mich fest: erstens ist der Anteil der rechtsex­tremistisch Organisierten beträchtlich. Zweitens liegt die Bereitschaft der Ju­gendlichen in den fünf neuen Bundes­ländern, solch rechtsextremistisch Bünde sympathisch zu finden, je nach Umfrage zwischen fünf bis vierzehn Prozent. Drittens halten schon ein Vier­tel der Jugendlichen Aktionen gegen Ausländer für gerechtfertigt. Rund vier­zig Prozent empfinden Ausländer als störend, anmaßend, unangenehm.

Frage: Welche Ursachen für den recht­sextremistischen Trend im Osten sieht denn die Wissenschaft?

Hajo Funke: Grob vereinfacht sind es zwei Motivketten. Die eine hängt mit der Erfahrung zusammen, die das auto­ritäre SED-Regime der jungen Genera­tion verpasste. Sie hat es als ein System der Verordnung von oben, der Ein­mauerung erfahren. Von Nischen und kleinen alternativen Gruppen abgese­hen, hat dieses System der Jugend nicht erlaubt, im Konflikt mit der Ge­sellschaft, sozusagen rebellisch, die ei­genen Lebensentwürfe auszuprobieren oder gar durchzusetzen. Und jetzt spie­len die Jugendlichen mit den Auslän­dern dasselbe Spiel, das man mit ihnen gespielt hat. Es heißt: Der Stärkere ist immer im Recht. Der Stärkere, der SED-Staat hatte den Kommunismus wie den Antifaschismus auf autoritäre Weise verordnet. Nun werden die Enttäu­schung, die Ohnmachtserfahrung aus dieser Zeit gleichsam kompensiert. Die Jugendlichen sehen offenbar keine an­dere Möglichkeit, als dies in der Ag­gression gegen Ausländer zu tun.

Frage: Aber der SED-Staat hat doch immer die internationale Solidarität hochgehalten...

Hajo Funke: Davon wurde geredet. Tatsächlich sind die Ausländer in der DDR gettoisiert und ausgebeutet wor­den.

Frage: Und was ist die zweite Ursache?

Hajo Funke: Die betrifft eine gegen­wärtige Erfahrung der Jugend in den neuen Bundesländern. Sie macht näm­lich eine neuerliche Enttäuschung durch. Von den zwei Versprechungen, die mit der Wende verbunden waren, nämlich nationale Einheit und Wohlstand, er­weist sich die zweite als zumindest leichtfertig. Der schnelle Wohlstand ist ausgeblieben. Aus dem Frust darüber erwächst nun das, was man einen Ab­wehrnationalismus nennen kann. Man gibt den Fremden Schuld an der Misere, will sie als lästige Konkurrenten um Ar­beit und Sozialhilfe wegbeißen.

Frage: Ist diese Einstellung unter west­deutschen Jugendlichen weniger ver­breitet?

Hajo Funke: Der Anteil derjenigen, die in Ostdeutschland ausländerfeindlichen Einstellungen folgen, ist beträchtlich höher. Gegenüber den Westdeutschen ist es ein Verhältnis von 40 zu 25. Das gilt übrigens auch für West-Berlin. Wichtiger als der quantitative ist jedoch der qualitative Unterschied. Es gibt un­ter den ostdeutschen Jugendlichen eine viel höhere Bereitschaft zur Brutalität. Man kann sogar von einer stärkeren Enttabuisierung des Tötungsverbots in Ostdeutschland sprechen.

Frage: Wohin kann das führen?

Hajo Funke: Wenn es keine Korrektur gegenüber dieser neuen Erfahrung von Ohnmacht gibt - die Hälfte der Jugend­lichen wusste vor ein paar Wochen noch nicht, ob sie einen Ausbildungsplatz be­kommt -, dann spricht alles dafür, daß es zu einer Radikalisierung kommt.

Frage: Könnten solche Stimmungen ei­nes Tages nach Westen überschwappen, wenn dort vor allem bei den wirtschaft­lich und sozial Schwächeren das Gefühl aufkäme, die Kosten für die deutsche Einheit werden zu hoch?

Hajo Funke: Ich denke schon, daß die Erfahrung einer möglicherweise unab­sehbaren Steigerung der Kosten für die deutsche Einheit gerade bei den wirt­schaftlich und sozial Schwachen weitere Frustrationen und Aggressionen auslö­sen wird.

Frage: Haben die Ostdeutschen denn einen anderen politischen Charakter als die Westdeutschen? Sind sie autoritä­rer?

Hajo Funke: Es handelt sich eher um eine Reaktion auf die gesellschaftliche Krise. Diese Reaktion ist freilich auto­ritär, sie ist der Versuch, die erfahrene Ohnmacht dadurch auszugleichen, daß man sich Stärke leiht - eben durch das Ausleben der Aggressionen gegen sozial noch Schwächere.

Frage: Aber glauben die Rechtsextre­men denn, sie könnten dadurch etwas erreichen?

Hajo Funke: Die Untersuchungen zei­gen, daß man tatsächlich annimmt, es genüge, die Zahl der Ausländer dra­stisch zu reduzieren. Dann hätte man keine Probleme mehr mit Arbeitsplät­zen, keine Probleme mehr mit Wirt­schaftskriminalität und keine Probleme mehr mit der Geilheit der Ausländer. Das ist natürlich irrational. Es ist auto­ritär- der klassische Rückgriff auf den Sündenbock. Und der geht dann gegen alle, die sozial schwächer oder - nach nationalistischen und rassistischen Vor­stellungen - anders sind.

Frage: Wird die noch wachsende Ar­beitslosigkeit im Osten die Rechtsradi­kalisierung verstärken?

Hajo Funke: Die amerikanische Bera­tungsfirma McKinsey spricht von einer Reduktion der Arbeitsplätze von 9,7 Millionen im Jahre 1989 auf etwa 4,5 bis 5,1 Millionen. Wenn diese Daten stimmen, dann haben wir für einen be­trächtlichen Zeitraum keinen massenbe­schäftigungswirksamen wirtschaftlichen Aufschwung. Das heißt: Wenn die ge­genwärtig noch immer hochgehaltene Hoffnung vieler Bürger auf Arbeit noch einmal zwei Jahre hingehalten und dann erneut enttäuscht wird, dann sehe ich in der Tat das Maß an ungerichteter Radi­kalisierung, die sich besonders des Abwehrnationalismus bedient, wachsen.

Frage: Welches Gegengift empfiehlt der Politikwissenschaftler?

Hajo Funke: Ich glaube, daß die Ideen eines einfach geschnittenen Wirt­schaftsliberalismus korrigiert werden müssen. Man muß also eine aktive staatliche und regionale Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs-und Jugendpolitik wollen und durchsetzen. Zur Kurskor­rektur gehört aber zugleich, daß man dem nationalistischen Druck mit seiner kurzfristigen Scheinentlastung entge­genwirkt.

Frage: Wie denn?

Hajo Funke: Stellen Sie sich vor, daß Bischof Lehmann und Bi­schof Kruse zu einer Massende­monstration vor dem Reichstag aufrufen und dort für die strikte Verteidigung des Asylartikels un­seres Grundgesetzes und gegen die Jagd jugendlicher Banden auf Ausländer eintreten würden. Stellen Sie sich weiter vor, sie tä­ten dies zusammen mit Roma und Sinti, mit Türken, Schwarzafrikanern und auch Polen und all den Grup­pen, die gegenwärtig von solchen Jagden bedroht werden. Dann würden Herr Diepgen und Herr Momper, Herr Schäuble und Herr Vogel, lüde man sie ein, die Teilnahme an dieser Demon­stration gewiß nicht verweigern. Und das hätte unzweifelhaft eine große moralisch-politische Wirkung.

Hajo Funke ist Professor für German Studies an der University of California in Berkeley, USA und Privatdozent für politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sein Buch "'Jetzt sind wir dran'- Nationalismus im geeinten Deutschland" erschient bei Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste, Königslutter. Das Interview entnahmen wir dem Deutschen Allgemeinen Sonn­tagsblatt vom 30. August 1991.

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Hajo Funke ist Professor für German Studies an der University of California in Berkeley, USA und Privatdozent für politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sein Buch "'Jetzt sind wir dran'- Nationalismus im geeinten Deutschland" erschient bei Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste, Königslutter. Das Interview entnahmen wir dem Deutschen Allgemeinen Sonn¬tagsblatt vom 30. August 1991.