Eine Struktur für die Freiheit

von Jan Stehn
Schwerpunkt
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Der Utopiegesprächskreis im gewaltfreien Aktionsbündnis Hamburg ist der Frage nachgegangen, wie die Strukturen einer freien Gesellschaft aussehen könnten. Ausführlich kann der "Entwurf einer freien Gesell­schaft" in der Utopie-Broschüre nachgelesen werden.*

1. Freiheit bedeutet nach eigenen Wün­schen und Bedürfnissen leben zu können. Daraus folgt unmittelbar, daß Regelungen und Vereinbarungen zwischen Menschen nur gelten, wenn sie auf freier Zustimmung der Betei­ligten beruhen. Ein freiheitlicher Utopieentwurf muß offen sein für die unterschiedlichsten Lebensweisen und Kulturen. (Daher findet sich in unserem Utopieentwurf - im Gegen­satz zu anderen Utopien - ganz bewusst keine Beschreibung einer be­stimmten Lebensweise.) Dieses Frei­heitsrecht hat seine Grenzen in der gleichberechtigten Freiheit aller an­deren Menschen. Wie bestimmt sich diese Grenze? Darauf versucht unser Utopieentwurf eine Antwort zu ge­ben.

2. Das Menschenbild unserer Utopie be­rücksichtigt den Menschen mit seinen vielfältigen Seiten, so wie wir ihn kennen. Von daher beschreibt die Utopie keinen "Idealzustand", son­dern auch in ihr ist das Recht auf Selbstbestimmung bedroht von Kon­flikten, ungleicher Machtverteilung und von Gewalt. Ich sehe folgende Gefahren für die Freiheit, für die eine Utopie Lösungen finden muß:

- Konflikte: Zur Freiheit gehört, daß Interessen un Bedürfnisse von Men­schen gegeneinander stehen können. Die Fähigkeit, solche Konflikte im Konsens zu lösen, ist wichtig für eine freie Gesellschaft. Aber nicht alles kann und sollte im Konsens gelöst werden. Nicht weniger wichtig ist die individuelle und kollektive Autono­mie. Unterschiedliche Lebensweisen können am besten in Frieden mitein­ander leben, wenn sie ihre eigenen Bereiche haben. Es muß also Rege­lungen geben, wie Individuen und Gruppen ihre jeweils selbstbestimm­ten Bereiche voneinander abgrenzen können.

- Gewalt: Ich meine, daß der Mensch überwiegend gewaltfrei ist. Unbe­stritten hat der Mensch aber auch die Möglichkeit, seine Interessen gewalt­sam durchzusetzen. Das Fatale ist, daß dies meist zu einem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt führt. Nichts aber verletzt die Freiheit mehr als Gewalt gegen Menschen. Eine freie Gesellschaft muß in der Lage sein, auf Gewalt wirksam gewaltfrei reagieren zu können.

- Armut bedeutet, Menschen die in der Gesellschaft vorhandenen Mittel zum Leben und für die Gestaltung ih­rer Freiheit vorzuenthalten. Zu einer freien Gesellschaft gehört auch ein gewisses Maß an Ungleichheit. Sie muß aber in der Lage sein, diese zu begrenzen, um Unfreiheit durch Ar­mut zu verhindern.

- Die Zerstörung der Umwelt ver­nichtet Lebens- und Freiheitsmög­lichkeiten. Alle unsere Handlungen haben Auswirkungen auf die Um­welt, die uns alle miteinander verbin­det. Deshalb ist es eine große Heraus­forderung für eine freie Gesellschaft, einen Konsens der gewünschten Umweltqualität zu entwickeln. Um­weltzerstörung entsteht aus der Summe vieler (für sich gesehen harmloser) Einzelhandlungen (z.B. Auto fahren). Notwendig ist deshalb eine Struktur, die das gemeinschaftli­che Interesse an der Umwelt den In­dividuen wirksam vermittelt.

- Selbstbestimmung setzt das Wissen über Möglichkeiten voraus. Unwis­senheit und Wissensmonopole sind freiheitsfeindlich. Eine freie Gesell­schaft muß daher den Zugang zu Wissen und Bildung für jeden Men­schen sichern.

- Krankheit, Behinderung und Kind­sein gehören zum menschlichen Le­ben, schränken aber die Lebensmög­lichkeiten erheblich ein. Eine freie Gesellschaft muß einen solidarischen Ausgleich dafür schaffen.

- Diskriminierungen schränken be­nachteiligte Gesellschaftsgruppen in ihren Freiheitsmöglichkeiten ein und machen abhängig. Toleranz ist das Fundament einer freien Gesellschaft. Dort wo Gruppen sich diskriminiert fühlen, müssen sie soweit möglich das Recht haben, sich eigene Struktu­ren mit eigenen Ressourcen parallel zu den Mehrheitsstrukturen zu schaf­fen (z.B. Frauen-Kapitalrat s.u.).

- Nicht zuletzt ist Freiheit bedroht durch Bürokratie und Herrschaft, die zum "Schutze der Freiheit" errichtet wird. Z.B. Staatliches Gewaltmono­pol gegen Gewalt, Sozialstaat gegen Armut, Umweltbürokratie, Staats­schulden usw.

Eine freie Gesellschaft ist eine Grat­wanderung zwischen der Gefahr der Zerstörung durch fehlende soziale Strukturen (Stichwort: Ellbogenge­sellschaft) und dem Ersticken der Freiheit durch ein Netz von "Sicherheitsstrukturen".

3. In unserer Utopie trennen wir zwi­schen dem "privaten" und dem politi­schen Bereich.

Zum privaten Bereich gehört alles, was von jedem Menschen selbst nach seinen Interessen und Bedürfnissen entschieden wird. Festgelegte Nut­zungsrechte, z.B. über Grund und Boden, Gebäude, Produktionsmittel und über das Ergebnis der eigenen Arbeit grenzen die Selbstbestimmung der Individuen voneinander ab. Durch freie Vereinbarungen können Menschen beliebige Strukturen bilden. Dieser Bereich individueller Selbst­bestimmung soll möglichst groß sein. Er umfasst in unserer Utopie daher alle wirtschaftlichen Aktivitäten und viele heute staatlich geregelten Be­reiche (z.B. Verkehr, Schulwesen).

Der politische Bereich umfasst alle Fragen, die von den Menschen, die sich zu einer freien Gesellschaft zu­sammengeschlossen haben ("Gesellschaftsvertrag"), gemein­schaftlich geregelt werden. In unserer Utopie gehört dazu u.a. die Frage der Vergabe von Nutzungsrechten, der Nutzung der Umwelt, sozialer Aus­gleich und Konfliktlösung.

4. Die bestehenden Besitzrechte sind durch Gewalt und Ungerechtigkeit entstanden. Sie können nicht Grund­lage für die Nutzungsrechte einer freien Gesellschaft sein. Ich unter­scheide: Jeder Mensch hat das Recht, über sich und die Ergebnisse seiner Arbeit zu verfügen. Die natürlichen und gesellschaftlichen Reichtümer aber haben als gemeinsames Erbe aller Menschen zu gelten.

Aber: Die Vergesellschaftung von Boden, Häusern und Produktions­mitteln führt zu Herrschaft durch Planungsbürokratie. Auch die De­zentralisierung (Übernahme der Fa­briken durch die ArbeiterInnen, der Häuser durch die MieterInnen usw.) löst das Problem nicht. Bestehende Ungleichheiten bleiben bestehen und die Dynamik von Kapitalgewinn auf der einen und Kapitalverlust auf der anderen Seite wird dadurch nicht aufgehoben.

Vorschlag unseres Utopieentwurfes: Produktionsmittel, Gebäude, Land stehen den Individuen zur dezentra­len Nutzung als Kredit zur Verfü­gung.

5. Wie funktioniert der Kapitalkredit?

- Jedes Projekt (Arbeit, Wohnen) hat grundsätzlich Anspruch auf einen Kapitalkredit zur Finanzierung von Häusern und Produktionsmitteln und kann freigegebene Grundstücke pachten.

- Selbstbestimmung für Projekte im Rahmen ihrer Produktbeschreibung

- Aber Kapitalrat prüft, ob das Kapi­tal werterhaltend genutzt wird

- Aber: Kein "Betriebsgeheimnis". "Abgucken" und voneinander lernen ist erlaubt und erwünscht

- Projekte zahlen Zinsen bzw. Pacht für die Nutzung des Kapitals und des Bodens. Die Einnahmen dienen der sozialen Umverteilung (Kinder, alte Menschen, Kranke)

- Überschüsse können nicht in das Projekt investiert werden, keine pri­vate Kapitalakkumulationen

- Verluste im Falle des Konkurses trägt der Kapitalrat

- Unterschiedlich hohe Zinsen sorgen für eine gleichmäßige, regionale Verteilung des Kapitals

6 Warum Geldwirtschaft?

- Zum Recht, frei über den Ertrag der eigenen Arbeit zu verfügen, gehört auch das Recht, sich mit anderen auszutauschen. Geld ist ein ideales Instrument, mit dem Menschen ihre Austauschverhältnisse zueinander selbstbestimmt und unkompliziert gestalten können. Die Prinzipien und Regelungen, nach denen Menschen sich selbst austauschen, sind offen und selbstbestimmt.

- Geld ermöglicht, Menschen Res­sourcen zur Verfügung zu stellen, ohne daß der Verwendungszweck festgelegt ist.

7. Der politische Bereich - vier regio­nale Räte:

- Der Kapitalrat vergibt den gesell­schaftlichen Reichtum als Kredit.

- Der Ökologierat setzt die ökologi­schen Rahmenbedingungen. Natur­schutzgebiete begrenzen die Boden­haltung. Umweltauswirkungen der Betriebe und Projekte werden erfaßt und über Ökosteuern ein finanzieller Anreiz gegeben, negative Umwelt­folgen zu reduzieren.

- Der Sozialrat finanziert ein Ge­sundheitswesen, das kostenlos ge­nutzt werden kann.

- Der Konfliktrat ist den anderen Rä­ten übergeordnet und wird aktiv, wenn er angerufen wird, von Men­schen, die sich in ihrer Freiheit unge­rechtfertigt beschränkt oder geschä­digt sehen. Der Konfliktrat gibt den Beteiligten Hilfestellung, den Kon­flikt selbst zu lösen. Es gibt kein Ge­setzwerk, sondern das Gerechtig­keitsverständnis entwickelt sich an jedem Konflikt weiter. Ziel ist die Wiedergutmachung (und ev. Versöh­nung), keine Strafjustiz.

Der Konfliktrat mobilisiert die gesell­schaftliche Selbstverteidigung gegen Menschen, die (wiederholt) sich der Bearbeitung eines Konfliktes verwei­gern: Öffentliche Nennung des Kon­fliktes und des "Konfliktverweigerers", sozialer und ökonomischer Boykott, Beschlag­nahmung u.ä. Diese Maßnahmen die­nen nicht der Bestrafung, sondern sollen Druck erzeugen, daß der Be­troffene sich einer Konfliktbearbei­tung stellt.

8. Libertäre Demokratie:

- Gerechte Verteilung der gesell­schaftlichen Ressourcen mit einem Minimum an inhaltlichen Vorgaben. Beispiel Bildungsgeld: Statt eines staatlichen Bildungswesen steht je­dem Menschen ein Bildungsgeld zur Verfügung, mit dem er selbstbestimmt über seine Ausbildung und Weiterbildung entscheiden kann.

- Entpolitisierung und Privatisierung

Beispiel Gemeinschaftsgeld: Statt ei­nes staatlichen Subventi­ons(un)wesens steht jedem Menschen ein Gemeinschaftsgeld zur Verfü­gung, mit dem er selbst entscheidet, welche gemeinnützigen Einrichtun­gen er fördern möchte.

- Anstelle von Regierungen und Par­lamenten, die über fast alles ent­scheiden dürfen, treten Fachräte (z.B. Ökorat) mit klar begrenzten Aufga­benbereichen.

- Dezentralisierung der politischen Strukturen, z.B. Konflikträte auf kommunaler Ebene, Kapitalräte auf Ebene von heutigen Bundesländern.

- Machtteilung durch Parallelstruktu­ren, Minderheiten können eigenen Konfliktrat, eigenen Kapitalrat wäh­len.

- Nicht nur Personen, sondern auch ihr Programm wird gewählt und ist verbindliche Grundlage für die Arbeit der Räte.

- Die Opposition ist mit Mitteln der effektiven Kontrolle und Gegenöf­fentlichkeit ausgestattet.

- Kein Gewaltmonopol, sondern ge­waltfreie, soziale Machtausübung.

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Jan Stehn ist der Koordinator des Programms.