Die Splitter sitzen tief

EIRENE-Friedensarbeit im ehemaligen Jugoslawien

von Ingrid Halbritter

Es sind vor allem adrett gekleidete LehrerInnen und DozentInnen, die in einem Seminarraum in Sarajevo im Kreis sitzen. Sie kommen aus Pula, Podgorica, Belgrad, Sarajevo und Zagreb. Ein so genanntes "regionales Seminar" mit Teilnehmern aus Ex-Jugoslawien. Geleitet wird das Seminar von einer jungen Israelin, Galit Goldsovel, die beim Adam Institute for Democracy in Jerusalem als Moderatorin und Trainerin arbeitet. Das Programm heißt auf Hebräisch "Betzavta", was soviel wie "Miteinander" bedeutet. Das Miteinander mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, ist das grundlegendste Prinzip der Demokratie, aus der sich alle Chancen und Schwierigkeiten dieser Staatsform ergeben.

Die NRO D@dalos, zu der ich seit Mai 2004 als Friedensfachkraft entsandt bin, ist Trägerorganisation des Betzavta-Programms, das in drei Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien durchgeführt wird. Das Adam Institute hat dieses Programm mit einer erfahrungspädagogischen Lernmethode entwickelt und führt es landesweit an Schulen durch. Für Deutschland hat der Bertelsmann-Verlag und das Centrum für Angewandte Politikforschung München (CAP) Betzavta entdeckt, adaptiert und bildet über verschiedene Bildungsstätten fortlaufend Moderatoren aus (im Internet: www.betzavta.de). Dort habe ich diese Methode als Teilnehmerin kennen gelernt und war überzeugt, dass sie für den Balkan eine ausgezeichnete Methode zum Demokratielernen und zur Friedenserziehung sein kann. Seit 2004 finanziert das Auswärtige Amt in Berlin die Adaptierung von Betzavta, die Ausbildung von Multiplikatoren und die Entwicklung eines Trainerhandbuchs.

Die TeilnehmerInnen, die an diesem heißen Sommertag im Seminarraum sitzen, gehören zur pädagogischen Vorhut: Sie wirken aufgeklärt und modern und haben schon unzählige Fortbildungen besucht, die von einheimischen und ausländischen Organisationen angeboten werden. Die Stimmung ist gut, es wird gelacht und gescherzt, heiß diskutiert, geflirtet und geplaudert. Man spricht ja schließlich eine Sprache, die alle verstehen, auch wenn sie unterschiedlich bezeichnet wird. Die einen sagen bosnisch, die anderen kroatisch, die dritten serbisch. Ein harmonisches Miteinander, würde der Außenstehende sagen. Und er wäre der Überzeugung: Die ethnischen Konflikte in Bosnien und Ex-Jugoslawien gibt es doch gar nicht, sie sind konstruiert, künstlich. Gerade das multikulturelle Miteinander im Vorkriegsbosnien mit seinen vielen gemischten Ehen und Menschen, denen eine Zuordnung zu einer nationalen Gruppe beim besten Willen nicht mehr gelingen kann, dient dafür immer wieder als historischer Beleg.

Die Moderatorin beginnt die nächste Übung. Es geht um Menschenrechte. Sie bittet die Teilnehmer, sich eine tatsächliche Begebenheit zu überlegen, bei der ihre Menschenrechte entweder verletzt oder gewährt wurden.

Eine zierliche blonde Grundschullehrerin aus Sarajevo beginnt und sagt mit bebender Stimme: Als ich im Krieg in Sarajevo im Keller saß, ohne Strom und Wasser und Nahrung, bedroht von Scharfschützen und Kanonen, wurden meine Menschenrechte verletzt. Die Gruppe hört zu, eine fast unmerkliche Spannung entsteht. Die Lehrerin entschuldigt sich, dieses Thema angeschnitten zu haben. Es ist ein diffuses Unwohlsein, das plötzlich den Raum beherrscht. Niemand sagt etwas dazu. Die Nächste kommt an die Reihe.

Eine Stunde später beim Mittagessen ist dieser Moment vergessen, es wird wieder geplaudert, in einer scheinbar unbeschwerten Stimmung.

Die Wunden des letzten Krieges in Bosnien sind an der Oberfläche meistens nicht mehr sichtbar, aber sie schmerzen wie ein Holzsplitter unter der Haut, wenn man versehentlich auf die Stelle drückt. Die Menschen wissen, dass ein Miteinander in Unschuld nicht mehr möglich ist. Jeder spürt, dass hohe unsichtbare Mauern aufgerichtet sind, die keiner will, die aber zwischen ihnen stehen. Diese Mauern richten sich zwischen denjenigen auf, die sich und andere zwanghaft und unausweichlich zuordnen. In Kategorien stecken. Da ist nicht mehr der Einzelne in seinem ganz individuellen Menschsein, sondern der Einzelne, der zu etwas gehört. Zu einem Land, zu einer Gegend, zu einer politischen Haltung, zu einer Kirche, zu einer Partei, zu einem Täterkreis, zu einer Opfergruppe, zu den Hiergebliebenen, zu den Weggegangenen, zu den Verlierern, zu den Gewinnern.

Die schmerzhaften Holzsplitter der jüngsten Kriege sind die Unmöglichkeit, sich und die anderen nicht einzuordnen, nicht mit dem unsichtbaren Schriftzug auf der Stirn zu versehen. Diese Freiheit ist verloren. Man findet nur noch Freiheit innerhalb der Gruppe der Seinesgleichen, denn dort ist das eigene Menschsein noch am ehesten möglich.

Diese Büchse der Pandora geht auf, als die Lehrerin aus Sarajevo über ihr Erleben bei der vierjährigen Belagerung und Beschießung von Sarajevo spricht. Was sich aus dieser Büchse auf die Gruppe ergießt, ist viel zu komplex und kompliziert, um zu reagieren. Die Gruppe verstummt, die Menschen schweigen, es gibt nichts zu sagen, außer dass alles eine große Verwirrung ist.

So ist das Nebeneinander innerhalb von Bosnien-Herzegowina im Kleinen und zwischen den betroffenen Ländern in Ex-Jugoslawien (Kroatien, Bosnien und Serbien-Montenegro) im Größeren.

Die Betzavta-Gruppe ist sich stillschweigend darin einig, dass niemand über die Kriege und Konflikte sprechen möchte. Das kann diese Methode auch nicht leisten, denn es geht eher darum, die Sprache der Demokratie zu lernen. Die vorsichtige Annäherung zwischen den Menschen aus der Region findet eher im privaten Zweiergespräch statt, zu dem man am Rande solcher Seminare Gelegenheit hat. Ein Teilnehmer sagte mir kürzlich, wie wichtig dies sei: "Man weiß ja nicht, was die Teilnehmerin aus Serbien wirklich denkt! Vielleicht ist sie ja auch der Meinung, dass es gerechtfertigt war, Sarajevo zu beschießen." Diese Unsicherheit, auf welcher Seite der andere steht, lässt sich nur langsam und mühevoll beseitigen. Die Holzsplitter lassen sich nicht einfach ziehen. Es ist eine komplizierte und schmerzhafte Operation.

Das unmittelbare Ziel unserer Arbeit ist es nicht, das zerstörte Vertrauen zwischen den Menschen unterschiedlicher Religionen (oder sagen wir Nationen? Oder Volksgruppen? Oder Ethnien? Oder Konfliktparteien? Oder ...?) durch Maßnahmen wiederherzustellen. Denn das ist nicht möglich.

Wir versuchen eher mit unseren Programmen, ein zusätzliches und in gewisser Weise alternatives Identifikationsschema anzubieten: das des Bürgers einer Demokratie.

Die grundlegendste Idee, die dem Konzept der Demokratie zugrunde liegt, ist die der Gleichheit. Jeder hat das gleiche Recht auf Freiheit! Wenn es den Menschen in Bosnien in ein oder zwei Generationen gelingt, sich in erster Linie als Bürger des Staates Bosnien-Herzegowina zu sehen, dann können wir berechtigte Hoffnung schöpfen, dass die Mauern, die der letzte Krieg mit großer Macht wieder hat aufstehen lassen, weit genug verschwunden sind. Dann ist ein großes Stück Freiheit gewonnen, und ein Stück Frieden ohne den Schmerz, der unter der Haut schlummert. Daher verstehen wir Friedensarbeit in erster Linie als Demokratie-Bildung.

Mit Betzavta versuchen wir, unsere Teilnehmer die Grundwerte und Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft und eines demokratischen politischen Systems erspüren zu lassen; mit dem Bildungsprogramm "Politik unterrichten in Südosteuropa" zeigen wir jungen Multiplikatoren, dass man sehr wohl im Bildungswesen über Politik sprechen und es als Fach unterrichten kann, ohne sich parteipolitisch verdächtig zu machen. Journalisten bringen wir bei, wie die EU funktioniert, damit die Medienberichterstattung professioneller wird, und Jugendliche erreichen wir beispielsweise bei einem Sommercamp an der bulgarischen Schwarzmeerküste, wo sie zu ihrer Überraschung feststellen, dass Jugendliche aus den Nachbarländern des ehemaligen Jugoslawien ihnen viel ähnlicher sind als sie dachten.

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Die Politologin Ingrid Halbritter arbeitet seit Mai 2004 als EIRENE-Friedensfachkraft bei der Organisation D@dalos in Sarajewo. Auf der Internetseite www.dadalos.org stehen Materialien zur politischen Bildung, zur Friedenserziehung und über das Lernen von Demokratie zur Verfügung - mittlerweile in allen Sprachen Südosteuropas sowie auf Englisch und Deutsch.