Konventionelle Waffen

Entwicklung der konventionellen Rüstungskontrolle seit dem Ende des Kalten Krieges und aktuelle Perspektiven für ihre Revitalisierung

von Wolfgang Richter

Gemeinsam mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag über die Herstellung der deutschen Einheit, der KSZE-Charta von Paris für ein Neues Europa und dem Vertrag über die Zerstörung landgestützter ballistischer Raketen und Marschflugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite (INF-Vertrag) gehörte die konventionelle Rüstungskontrolle zu den wesentlichen Eckpfeilern, auf denen die europäische Sicherheitsordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs ruhte. Im Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) vom 19.11.1990 ging es nicht nur darum, einen numerischen Gleichstand der beiden Militärblöcke zu erzielen. Vielmehr galt es, die Bündnisfähigkeiten zu großangelegten Angriffsoperationen oder regionalen Überraschungsangriffen zu eliminieren. Dies sollte durch geographische und quantitative Begrenzungen offensivfähiger Waffensysteme auf niedrigerem Niveau erreicht werden.

Mit dem KSE-Vertrag gelang es, die Bedrohungsperzeptionen beider Seiten zu überwinden, die künftige Sicherheitskooperation in ganz Europa auf ein festes Fundament der strategischen Zurückhaltung zu stellen und die bisher größte kooperativ gesteuerte Abrüstung in Friedenszeiten in Gang zu setzen. Sie umfasste nicht nur die Reduzierung von mehr als 60.000 – überwiegend russischen und deutschen – durch den Vertrag begrenzten Großwaffensystemen (TLE) im KSE-Anwendungsgebiet zwischen dem Atlantik und dem Ural, sondern ermöglichte auch den gesichtswahrenden Abzug von einer halben Million sowjetischer (seit 1992 russischer) Stationierungstruppen aus Deutschland und seinen ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten. Zusätzlich zerstörte Russland 14.500 Großwaffensysteme jenseits des Ural, die vor dem Inkrafttreten des KSE-Vertrags nach Sibirien verlegt worden waren. Die verbesserte Sicherheitslage in Europa erlaubte es den Vertragsstaaten nach der Jahrtausendwende, die Streitkräfte um weitere 40.000 TLE zu reduzieren und für neue Aufgaben zu transformieren.

Das KSE-Konzept entsprach dem Blockdenken der Zeit und folgte einem operativen Rational:

Erstens ging es davon aus, dass raumgreifende Offensiven nur im „Gefecht verbundener Waffen“ möglich waren. Daher begrenzte es fünf Schlüsselkategorien von Waffen und Ausrüstungen im gesamten Anwendungsraum: Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Angriffshubschrauber. Zudem unterlagen Brückenlegepanzer in den aktiven Verbänden Sonderbegrenzungen.

Zweitens begrenzte der KSE-Vertrag das offensivfähige Arsenal der Landstreitkräfte geographisch in Mitteleuropa und in zwei weiteren, jeweils östlich und westlich angrenzenden Zonen, in denen die Verstärkungskräfte und Reserven beider Blöcke stationiert waren. Dies bezweckte, die Truppenkonzentration in und um Deutschland zu entflechten, ein etwaiges Zurückfließen der Kräfte an die alten Konfrontationslinien zu verzögern und regionale Überraschungsangriffe zu verhindern. Die übrigen Berührungszonen zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO in Nordeuropa, auf dem Balkan und im Südkaukasus wurden zum Gebiet der „Flanke“ zusammengefasst. Es erhielt eine eigenständige Obergrenze.

Noch bevor der KSE-Vertrag in Kraft trat, löste sich der Warschauer Pakt auf und die Sowjetunion zerbrach. Dennoch hielten der Westen und Russland am KSE-Konzept fest. Während der Westen jedoch die fragmentierten Nachfolgestaaten der Sowjetunion aus Gründen der Stabilität zum KSE-Beitritt drängte, wollte Russland weiterhin die Streitkräfte der NATO beschränken und geographisch auf Distanz halten. Erst nach der Verteilung der militärischen Erbmasse der Sowjetunion traten acht postsowjetische Staaten, nicht aber die baltischen Staaten, dem KSE-Vertrag bei. So konnte der Vertrag Anfang November 1992 in Kraft treten.

NATO-Osterweiterung
Die erste NATO-Osterweiterung nach der deutschen Einheit stellte das KSE-Konzept des militärischen Gleichgewichts und der geographischen Begrenzung in Frage, denn die vier Beitrittskandidaten Mittelosteuropas gehörten zur „östlichen Gruppe“ der KSE-Vertragsstaaten.  Das Bündnisgebiet dehnte sich um 700 km nach Osten aus und grenzte fortan an die russische Exklave Kaliningrad. Der zentralen KSE-Begrenzungszone in Mitteleuropa gehörten nun ausschließlich NATO-Staaten an; ein militärisches Gleichgewicht zwischen ihnen war politisch und militärisch obsolet.

Trotz anfänglicher russischer Bedenken gelang es, diese Bündniserweiterung abermals in einen kooperativen Rahmen einzubinden. So wurde 1997 in der NATO-Russland-Grundakte vereinbart, die OSZE als den gemeinsamen Sicherheitsrahmen zu stärken, die Sicherheitskooperation zwischen der NATO und Russland zu vertiefen und den KSE-Vertrag anzupassen. In der Zwischenzeit sollten keine zusätzlichen substantiellen Kampftruppen dauerhaft stationiert werden. Bei der Unterzeichnung des KSE-Anpassungsabkommens (AKSE) in Istanbul im November 1999 sagte Russland zu, diese Formel auch auf die Grenzgebiete zu den baltischen Staaten und Polen – Kaliningrad und Pskov – anzuwenden. Mit Norwegen traf Moskau eine ähnliche Vereinbarung für Nordeuropa.

Der AKSE ersetzte die obsoleten KSE-Blockbegrenzungen durch individuelle nationale und territoriale Obergrenzen für jeden Vertragsstaat. Zugleich ermöglichte er den Beitritt aller OSZE-Staaten zwischen dem Atlantik und dem Ural. Damit diente er dem Ziel der Europäischen Sicherheitscharta der OSZE, einen gemeinsamen Sicherheitsraum ohne Trennlinien zu schaffen. In ihm galt zwar weiterhin das Prinzip der freien Bündniswahl der Staaten; jedoch sollte kein Bündnis und kein Staat seine Sicherheit zu Lasten der Partner erhöhen oder eine Vorrangstellung für die Gestaltung der europäischen Sicherheit oder privilegierte Einflusszonen beanspruchen.

Politische Widerstände
Die Anpassung der konventionellen Rüstungskontrolle stieß jedoch auf politische Widerstän­de, als die USA unter Präsident George W. Bush seit 2001 ihren Kurs änderten. So kündigten sie das Abkommen über die Begrenzung strategischer Abwehrraketen (ABM), um – auch in Europa – eine strategische Raketenabwehr aufzubauen, und blockierten die Ratifizierung des AKSE. Die NATO folgte der amerikanischen Begründung, Russland habe seine Istanbuler Verpflichtungen nicht erfüllt, Stationierungstruppen aus Georgien und Moldau abzuziehen. Die Westeuropäer taten dies auch, um Spaltungstendenzen im Bündnis nicht erneut anzufachen. Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld hatten bei der Suche nach Unterstützung für die Intervention im Irak 2003 auf das „neue (Ost-)Europa“ – im Unterschied zum „alten (West-)Europa“ – gesetzt und eine „Koalition der Willigen“ geschmiedet.

Die Haltung der NATO zur Ratifizierung des AKSE änderte sich auch dann nicht, als Russland seine KSE-begrenzte Waffen aus Transnistrien (2002) und seine Stationierungstruppen aus Georgien (2006-07) abgezogen hatte. Letztlich blieben nur ein halb geräumtes Munitionslager in Transnistrien und die russischen Peacekeeper in den Konfliktgebieten Moldaus und Georgiens Gegenstand des Disputs. Letztere fielen jedoch nicht in die Abzugsverpflichtungen, weil ihre Präsenz durch die Waffenstillstände von 1992/94 mandatiert und von den VN und der OSZE gebilligt worden war, die zudem internationale Beobachter entsandt hatten. Im Dezember 2007 suspendierte Russland den „alten“ KSE-Vertrag, nachdem es 2004 den AKSE ratifiziert hatte.

Hintergrund der US-Blockade des AKSE war die „Freiheitsagenda“ von Präsident George W. Bush, die nicht nur die Demokratieentwicklung in den Transitionsländern Osteuropas und im Nahen Osten fördern sollte, sondern auch geopolitisch motiviert war. Das russische Interesse am Inkrafttreten des AKSE sollte als politischer Hebel genutzt werden. Im Krisenjahr 2008 wurde der neue Konflikt offenkundig: Als westliche Staaten die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannten, die NATO auf amerikanisch-osteuropäischen Wunsch der Ukraine und Georgien den Bündnisbeitritt in Aussicht stellte und Georgien südossetische Milizen und russische Peacekeeper angriff, sah Russland „rote Linien“ überschritten und ging auf Konfrontationskurs. Während Moskau militärisch intervenierte, drohte der ukrainische Präsident Jusch­tschenko, die Stationierungsrechte der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim einzuschränken. Dem kurzen Krieg und der Anerkennung der Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens durch Moskau folgte eine Eiszeit zwischen der NATO und Russland. Ihr fielen auch die Gespräche über die Ratifizierung des AKSE zum Opfer.

Auch unter Präsident Obama, der die Beziehungen zu Russland verbessern wollte („reset“), gelang es nicht, die konventionelle Rüstungskontrolle – jenseits des AKSE – von Grund auf zu erneuern. Informelle Gespräche scheiterten Anfang 2011 vor allem an der Frage der Souveränität Georgiens über die abtrünnigen Konfliktgebiete, vor allem im Hinblick auf russische Truppenstationierungen.

Russlands Annexion der Krim und seine verdeckte Unterstützung der Rebellen im Donbas haben die schwerste Sicherheitskrise Europas seit dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst. Der Prinzipienbruch und die Begründung, bedrohte Landsleute schützen zu müssen, haben bei Russlands Nachbarn neue Ängste ausgelöst, vor allem dort, wo große russischsprachige Minderheiten leben wie in Estland und Lettland. Die NATO hat auf die Bedrohungsperzeptionen mit einer Politik der Rückversicherung reagiert und auf ihrem Gipfel in Warschau im Juli 2016 die Erhöhung der militärischen Vornepräsenz in den baltischen Staaten und Polen beschlossen. Dabei war Deutschland auf Moderation bedacht, um die Verpflichtung der NATO-Russland Grundakte einzuhalten, keine zusätzlichen substantiellen Kampftruppen dauerhaft zu stationieren. Vielmehr ging es um das strategische Signal, das die Schutzgarantie des Bündnisses unteilbar ist. Die USA haben bilateral eine weitere mechanisierte Brigade nach Europa verlegt, die in den vier betroffenen Ländern sowie Rumänien und Bulgarien „rotierend“ üben soll.

Viele militärische Aktivitäten
Mittlerweile hat die Dichte der militärischen Aktivitäten auch in grenznahen Gebieten sowie in und über internationalen Gewässern in den europäischen Randmeeren erheblich zugenommen – unangekündigte Alarmübungen Russlands, nahtlose Übungsketten der NATO, großangelegte Manöver und gewagte Aufklärungsflüge beider Seiten. Sie bergen das Risiko militärischer Zwischenfälle, möglicherweise mit eskalatorischen Folgen. Die Dauerkrise seit 2014 zeigt, wie sehr konventionelle Rüstungskontrolle und wirksame Vertrauens- und Sicherheitsbilden­de Maßnahmen (VSBM) fehlen.

Vor diesem Hintergrund hat der frühere deutsche Außenminister Stein­meier 2016 als amtierender Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) das Ziel formuliert, den Dialog zu erneuern, verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen und die europäische Sicherheit wiederherzustellen. Im August 2016 schlug er vor, einen „strukturierten Dialog“ darüber zu führen, wie die konventionelle Rüstungskontrolle revitalisiert werden kann, um die militärische Stabilität wieder herzustellen. Neue Vereinbarungen sollten fünf Bereiche betreffen:

  1. Regionale Obergrenzen, Mindestabstände und Transparenzmaßnahmen in militärisch sensiblen Regionen wie im Baltikum;
  2. Neue militärische Fähigkeiten (z.B. Transport) und Strategien;
  3. Neue Waffensysteme (z.B. Drohnen);
  4. Flexible und krisenfeste Verifikation;
  5. Anwendbarkeit in umstrittenen Territorien.

Die Initiative wird von einer Gruppe von derzeit sechzehn gleich­gesinnten europäischen Bündnispartnern und neutralen Staaten unterstützt.

Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle?
Am 9. Dezember 2016 hat der Ministerrat der OSZE in Hamburg beschlossen, einen „strukturierten Dialog“ einzuleiten, um die Voraussetzungen für die Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle zu erörtern. Der österreichische OSZE-Vorsitz 2017 hat dies aufgegriffen, eine informelle Arbeitsgruppe unter deutschem Vorsitz gebildet und flankierend eine Reihe weiterer OSZE-Workshops initiiert, die sich mit Bedrohungsperzeptionen, Militärdoktrinen, Streitkräftedispositiven, militärischen Aktivitäten und VSBM befassen.

Der Prozess dürfte nicht kurzfristig zum Erfolg führen, sondern verlangt einen langen Atem. Viele Hürden müssen überwunden wurden, die sich in den letzten Jahren aufgetürmt haben. Dazu gehören die Umsetzung der Minsker Waffenstillstandsabkommen und die Rückkehr zu einer Europäischen Sicherheitsordnung, die den Normen des Völkerrechts und den OSZE-Prinzipen der umfassenden und ungeteilten Sicherheit sowie der strategischen Zurückhaltung verpflichtet ist. Neue konventionelle Rüstungskontrollvereinbarungen könnten dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Zunächst müssen allerdings klare und konsensfähige konzeptionelle Vorstellungen entwickelt werden, welche Regelungen sie enthalten sollen. Noch zeichnet sich keine eindeutige Haltung der USA ab und auch Russland bleibt angesichts seiner Fixierung auf Washington zögerlich. So kommt vor allem den Europäern die Aufgabe des konzeptionellen und politischen Taktgebers zu.

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