Spaziergang durch Auschwitz

Erfahrungen eines "Freiwilligen"

von Knut Dethlefsen
Schwerpunkt
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Ein wichtiger Bereich der Arbeit von Aktion Sühnezeichen / Friedens­dienste ist der Arbeitsaufenthalt von Gruppen in Gedenk­stätten wie Auschwitz. Freiwillige sind in den Gedenkstätten dabei zur Betreuung der Gruppen tätig. Einer von ihnen berichtet hier über einen Spazier­gang mit einer solchen Gruppe durch die Stadt Auschwitz.

"Vielleicht gebe ich Euch erst einmal eine kleine Orientierungshilfe." Passan­ten betrachten uns mit interessierten und neugierigen Blicken, während wir vor dem auf Blech gemalten Stadtplan ste­hen - so ist es immer, wenn ich mit einer deutschen Gruppe durch die Stadt gehe.

"Dort fließt die Sola, die fünf Kilometer nördlich in die Wisla (Weichsel) mün­det. Östlich der Sola liegt die Vorstadt, Zasole, westlich die Altstadt, gefolgt von der chemischen Siedlung. Wir be­finden uns direkt vor den chemischen Werken von Oswiecim." Oswiecim - eine ganz "normale" kleine Industrie­stadt mit 55.000 Einwohnern im nord­westlichen Zipfel von Galizien.

Sie kann auf eine lange Geschichte zu­rückblicken: 1179 erste urkundliche Erwähnung - 1272 Stadtrecht, gleich­zeitig mit Magdeburg* - viele Jahre un­ter der tschechischen Krone - sie wird Fürstensitz der polnischen Königsfami­lie, Piasten, die hier eine kleine Burg er­richtet - im 14. und 15. Jahrhundert flüchten viele Jüdinnen und Juden aus Westeuropa nach Oswiecim, wie nach ganz Galizien, eingeladen von den pol­nischen Königen - im Laufe der Jahr­hunderte entwickelt sich Oswiecim zu einem kleinen Handelszentrum - wäh­rend der Teilung Polens von 1772 bis 1918 gehört Oswiecim zum österreichi­schen Stück des polnischen Kuchens; jenseits der Wisla beginnt Preußen. Aus dieser Zeit hat die Stadt ihren deutschen Namen: Auschwitz.

Erzähle ich irgendwo in Deutschland, daß ich in einer kleinen polnischen In­dustriestadt mit Namen Oswiecim ar­beite, so wird dies meist ohne große Re­gung registriert, es kommt höchstens Verwunderung auf, was mich denn nach Polen verschlagen hat. Sage ich hinge­gen "Nun, ich arbeite in Auschwitz" - Schlucken - für einen Moment bedrüc­kende Stille.

Auschwitz steht für das Todeskombinat, das zwischen 1940 und 1945 hier von unseren Landsleuten errichtet und be­trieben wurde. Auschwitz geistert als abstrakter Begriff für Völkermord, Un­menschlichkeit und Grausamkeit durch die meisten Köpfe, ohne wirklich etwas zu wissen oder vielleicht auch wissen zu wollen. Eine Stadt gab und gibt es dort? Dort lebten und leben auch Menschen? Unbekannt!

Überall Spuren

Für mich ist Oswiecim nicht nur Auschwitz, da ich schließlich in dieser Stadt lebe - und doch überall sind Spu­ren zu finden, nicht nur in den ehemali­gen Konzentrations- und Vernichtungs­lagern. Es wäre auch nicht dasselbe, wenn ich in einer anderen polnischen Stadt leben und arbeiten würde.

Nun gehe ich - wie so oft - mit einer deutschen Gruppe durch meine mo­mentane Heimatstadt, wie immer bei diesem Spaziergang springen mir viele Gedanken in den Kopf.

Die chemischen Werke sind der Haupt­arbeitgeber von Oswiecim, hier arbeiten 6000 Menschen. Sie wurden nach 1945 auf dem errichtet, was von den I.G. Far­ben-Werken übriggeblieben war. Ei­gentlich lebt die ganze Stadt direkt oder indirekt von diesen Werken, die staat­lich sind. Die Werke unterhalten außer­dem eine große Schwimmhalle, eine Eissporthalle, ein kleines Hotel, ein Krankenhaus und ein Kulturhaus. Sie liefern Fernwärme für die ganze Stadt, diese fällt bei der Produktion von PVC und Kunstdünger an. Neben alledem gibt es frei Haus eine sehr starke Um­weltbelastung. "Wahrscheinlich gehört die ganze Region mit den Städten Ka­towice, Tychy, Gliwice ... zu den Ge­bieten mit der größten Umweltbelastung in Europa. Dies macht das Leben für alle schwer, aber die Existenz der Indu­striebetriebe sichert vielen den beschei­denen Lebensunterhalt."

Zusätzlich plant ein amerikanischer Öl­konzern die Errichtung einer Raffinerie in der Nähe von Oswiecim. Daran knüp­fen viele Menschen Hoffnung auf si­chere Arbeitsplätze mit einem besseren Einkommen. Wie überall in Polen (insgesamt gibt es über eine Million Ar­beitslose) ist im letzten Jahr die Ar­beitslosigkeit gestiegen, und ich wun­dere mich immer wieder, wie viele Fa­milien bei den hohen Preisen und den niedrigen Einkommen noch zurecht­kommen. Trotzalledem gibt es auch Widerstände bezüglich der Raffinerie, die ich nur allzu gut verstehen kann.

Monowitz

Unser Spaziergang führt uns nun zum Mahnmal Monowitz. Es erinnert an das größte Außenlager, Monowitz oder Auschwitz III, in dem über 30.000 Häftlinge ermordet wurden. Das Lager Monowitz stand direkt bei den riesigen I.G. Farben-Werken, in denen sehr viele KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene ab 1941 "Sklavenarbeit" für die deutsche Rü­stungsindustrie leisten mußten und auch den Tod gefunden haben.

Unsere nächste Station ist die chemische Siedlung. Das Kernstück dieser Sied­lung wurde bereits 1943 für deutsche Ingenieure und Vorarbeiter der I.G. Far­ben gebaut. Nach 1945 wurde die Sied­lung stark erweitert, da die Bevölke­rungszahl aufgrund von Zuzug und des Aufbaus der chemischen Werke stark anstieg. So gibt die Siedlung ein interes­santes Bild: im Kern Wohnhäuser im Stile des sozialen Wohnungsbaus von Weimar, rundherum Wohnblocks aus den 50er und 60er Jahren - nicht schön, aber praktisch. Mitten in der Siedlung steht seit 1979 die große Maximilian-Kolbe-Kirche, die den Opfern der Kon­zentrationslager gewidmet ist. Für diese Kirche haben die Menschen sehr lange kämpfen müssen, gebaut wurde sie mit sehr großer aktiver Beteiligung der Be­völkerung. Heute hat die Gemeinde 26.000 Mitglieder.

Auf dem Weg zur Altstadt gehen wir am jüdischen Friedhof vorbei, er erinnert uns an die hier vor dem Krieg lebende jüdische Bevölkerung. Vor 1939 lebten in Oswiecim über 6000 Juden bei einer Gesamtbevölkerung von 12.000 Ein­wohnern. Heute sind es noch 2!

Die Altstadt selbst ist für mich immer ein kleines Erlebnis. Viel gibt es hier zu sehen für den, der sehen will: - die Pia­stenburg, - die alte Marktkirche, - das Salesianer-Kloster mit seiner großen Berufsschule, - das Denkmal für den unbekannten Soldaten, das den gefalle­nen polnischen Freiheitskämpfern, Sol­daten und Partisanen gewidmet ist, - das jüdische Viertel, das leider sehr verfal­len ist, mit dessen Restaurierung aber gerade begonnen wurde. Die große Syn­agoge ist nicht mehr da, sie wurde 1940 zerstört.

Man kann auch einfach das bunte Trei­ben auf dem "Rynek" (zentraler Platz) betrachten oder sich hineinstürzen. Vor 50 Jahren hieß er "Adolf-Hitler-Platz"; die Geschichte verfolgt mich auf Schritt und Tritt, und doch - ich lebe im Polen von heute.

Viele Geschäftsgründungen - auch viele Pleiten. Allein drei Audio-Video-Shops und neuerdings auch ein Sex-Shop sind auf den Rynek entstanden. Man kann jetzt alles kaufen, wenn man es bezahlen kann. Wunder der Marktwirtschaft? Viele denken so, aber viele Menschen bleiben auch auf der Strecke.

Die Menschen hier hoffen auf eine bes­sere Zukunft, die Zeit der Entbehrungen soll endlich zu Ende gehen. Ich hoffe nur, daß sie nicht enttäuscht werden.

Natürlich wurde Oswiecim nicht gleich­zeitig mit Magdeburg gegründet, es hatte ein dem Magdeburger Recht ähnli­ches Stadtrecht.

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Knut Dethlefsen ist Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der internationaen Jugendbegegnungstätte in Oswiecim.