Feindbilder

Feindbild Russland – Beobachtungen und offene Fragen

von Gert SommerJohannes M. Becker
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Am 6. April 2018 feuerte die US-Regierung unter Präsident Trump, unterstützt von den Regierungen in Paris und Berlin, Raketen auf einen syrischen Flugplatz. Der Vorwurf für diese selbstmandatierte, damit völkerrechtswidrige Aktion war – wie so oft: Die Regierung Assad und ihre Luftwaffe hätten, unterstützt von Moskau, Giftgasangriffe auf die Zivilbevölkerung geflogen. Abgesehen davon, dass nach Wissensstand der beiden Autoren bis heute keine Beweise für derartige Angriffe vorliegen, diskutierten wir die möglichen Eskalationen, besprachen die möglichen Reaktionen der russischen Regierung: Wie würde der enge Verbündete der Regierung in Damaskus reagieren, der im Gegenteil zu allen anderen Interventen in Syrien, ob nun Israel, die Türkei, die USA, Frankreich, Großbritannien und als Helfer auch Deutschland, um Beistand gebeten wurde, der auch einen Militärstützpunkt auf syrischem Boden besitzt, der zudem vor der syrischen Küste einen Flottenverband stationiert hatte?

Was geschah, ist bekannt: Staatschef Putin beantragte eine Sitzung des Sicherheitsrates.

Politischen BeobachterInnen ist nicht verborgen geblieben, dass „Russland“ bzw.  „Moskau“ oder „der Kreml“, oder aber personifiziert schlicht „Putin“ für viele problematische Entwicklungen auf der Erde verantwortlich gemacht werden. Wir erinnern nur an wenige:

  • für den nach wie vor obskuren Nervengiftanschlag in London auf einen russischen Doppelagenten und seine Tochter machten nicht nur die deutsche Boulevard-Presse, sondern auch die Mainstream-Medien und – selbstverständlich - PolitikerInnen umgehend die Regierung Russlands verantwortlich;
  • die angebliche Einflussnahme „Russlands“ auf den vergangenen Trump-Wahlkampf ist nach wie vor Thema in den Medien wie auch in US-Untersuchungsausschüssen;
  • Russlands Agieren in Syrien (1) ist ein weiteres wichtiges Beispiel: Da wurde der Regierung Putin lange Zeit Zögern vorgehalten im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS);  als die russische Armee dann auf Anforderung der demokratisch legitimierten Regierung in Damaskus - und damit im Einklang mit dem Völkerrecht - militärische Aktionen vornahm, wurden diese allenthalben als militärisch übertrieben, unsensibel und vieles mehr denunziert. Grundsätzlich vorgeworfen vom Westen wurde der russischen Intervention, dass sie den „Diktator Assad“ unterstütze. Dieser wiederum wurde als brutalster Diktator verteufelt. Exemplarisch dafür Zitate von der politisch bedeutsamen Ministerin von der Leyen (2): „…Assad, der Schlächter auf der einen Seite, andrerseits der schaurige Islamische Staat…“ und später in der Sendung: „Nochmal, der Mann (Assad) hat 400.000 Menschen auf dem Gewissen, der Mann hat 12 Millionen Menschen in die Flucht geschlagen.“ Dieser extremen Emotionalisierung - gepaart mit vielen Falschaussagen – wurde in dieser Sendung des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens weder von der Moderatorin noch von den DiskussionsteilnehmerInnen energisch widersprochen. Das übliche Bild – produziert von maßgeblichen westlichen PolitikerInnen und Medien – sieht die Schuld am Syrienkrieg also einseitig bei Assad und seinem wichtigsten Verbündeten Russland. Großzügig übersehen wird dabei u.a., dass der Islamische Staat zum einen eine Folge der US-amerikanischen Interventionspolitik - insbesondere im Irak - war, dass diese Terrororganisation von westlichen Staaten und ihren Verbündeten unterstützt und dass der Syrienkrieg lange geplant und vorbereitet wurde. (3)
  • Ähnlich Feindbild-getränkt werden – mit wenigen Ausnahmen - der Ukrainekonflikt und die militärischen Auseinandersetzungen von PolitikerInnen und Medien dargestellt. Dabei werden großzügig die westlichen Anteile an diesem Konflikt „übersehen“ oder verschwiegen, u.a. der Druck auf die ukrainische Regierung, sich zwischen EU und Russland zu entscheiden; die beispiellose Osterweiterung der NATO seit 1991, der Aufbau von Raketenstellungen in Polen (vorgeblich zur Abwehr iranischer Angriffe, faktisch aber gegen Russland gerichtet); Nichteingehen auf die Kooperationsvorschläge von Putin, u.a. im Deutschen Bundestag. (4)
  • Im Sommer 2018 führte die NATO im Baltikum ein Manöver mit knapp 20.000 SoldatInnen durch und im Herbst ein weiteres  mit 50.000 SoldatInnen in Mittel- und Ostnorwegen, den umliegenden Gebiete des Nordatlantiks und der Ostsee – der antirussische Hintergrund wurde von keinem intelligenten Beobachter geleugnet.

Der Beispiele wären noch viele zu nennen. Unsere zentrale Frage lautet:

Woher kommt dieses Feindbild Russland?
Und: Wie konnte es scheinbar nahtlos aus der Zeit des Kalten Krieges herübergerettet werden?

In den Zeiten der Systemkonkurrenz mag ja eine kritische Darstellung der führenden Macht des Systemgegners ‚Realer Sozialismus/Kommunismus‘ noch einigermaßen verständlich gewesen sein. Immerhin verkörperte die Sowjetunion eine reale Bedrohung für Marktwirtschaft und Kapitalismus, war, wie die Gegenseite NATO, hochgerüstet und gewann in den 1970er und 80er Jahren gar in vielen sogenannten Entwicklungsländern, auch unter den Ländern der „Blockfreien“, wachsend an Sympathie.

Warum aber heute noch, fast 35 Jahre nach Gorbatschow, 30 Jahre nach dem Mauerfall, 28 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR? Wo sich doch Russland seitdem zu einem kapitalistischen „Musterstaat“ entwickelt hat mit einer – nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Strukturen - rasanten Umverteilung des Volksvermögens von der heute teilweise verarmten Masse der Bevölkerung hin zu einer kleinen, ungekannt reichen Oberschicht! Und wo Staatschef Putin noch Ende 2018 in einer seiner Fragestunden vor den Medien des Landes jede Rückkehr zum Kommunismus kategorisch ausschloss! Wo die Interventionen der jüngeren Vergangenheit in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Mali, Syrien von den Staaten des Westens und der NATO durchgeführt wurden – die völkerrechtlich Russland anzukreidende Übernahme der Krim ausgenommen: Hier hat nach der Einschätzung Vieler die Herauslösung des Kosovo aus Serbien Pate gestanden.

Es geht uns an dieser Stelle nicht darum, die russische Politik in ihrer Gänze zu legitimieren: Die, nur ein Beispiel, problematische Menschenrechtslage ist uns sehr wohl bewusst. Wir sind nur der Hartnäckigkeit des Feindbildes Russland auf der Spur.

Zur Psychologie von Feindbildern.
Feindbilder sind negative Vorurteile (5), die sich u.a. auf Gruppen, Ethnien, Staaten und Ideologien beziehen können. Die „anderen“ werden als Bedrohung eigener wichtiger Interessen erlebt. Feindbilder können einen «wahren Kern» haben, negative Wahrnehmung und Bewertung aber werden übertrieben. Mit der negativen Einstellung gegenüber Russland werden einige zentrale Funktionen von Feindbildern zu erreichen versucht: Russland (bzw. „Putin“) wird meist negativ bewertet; Russland wird einseitig die Schuld zugeschrieben für negative Ereignisse und Konflikte (negative Attributionen); Doppelter Standard, z.B. die eigene Rüstung dient der Verteidigung, die des Gegners bedeutet Kriegsvorbereitung; Nullsummendenken: Gemeinsamer Nutzen und gemeinsamer Schaden werden nicht mehr wahrgenommen.
Für die politische Situation in Deutschland ist relevant, dass das Feindbild „Russland“ von führenden PolitikerInnen und von Mainstreammedien vertreten wird; erfreulich ist aber, dass nach Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung, eingeschlossen große Teile der deutschen Wirtschaft, an einer guten (besseren) Beziehung zu Russland gelegen ist und dass sich auch immer wieder kritische PolitikerInnen zu Wort melden. (6)

Nun zu unserem Versuch, das Feindbild Russland zu erklären.
Die NATO ist das führende Militärbündnis der Welt: Die Rüstungsausgaben aller 29 NATO-Staaten beliefen sich 2017 auf rund 900 Milliarden Dollar – das waren 52 Prozent der Ausgaben weltweit (dabei sind strategische Bündnispartner wie Israel oder Saudi-Arabien nicht mitgerechnet). Innerhalb der NATO gibt es widersprüchliche Interessen und Tendenzen: Es sei nur an die Probleme zwischen Griechenland und der Türkei erinnert; Großbritannien tritt derzeit aus der EU aus und gefährdet hierdurch die europäischen, die NATO ergänzenden Aufrüstungspläne. Ein gemeinsames Feindbild schweißt zusammen.

Die NATO-Staaten haben durch ihr völkerrechtswidriges Verhalten im Irak, in Jugoslawien, Libyen und Syrien jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Spätestens mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Auflösung des Warschauer Vertrages hat die NATO ihre Legitimation als Verteidigungsbündnis verloren. Um ihren Fortbestand und die damit verbundene Verschwendung von Finanzen und Ressourcen scheinbar zu legitimieren, benötigt sie einen Feind. Dazu bietet sich offensichtlich Russland an.
Zusammenfassend: Die NATO benötigt ein Feindbild, um ihre ungeheuren Militärausgaben, aber auch das Bündnis selbst zu legitimieren. Die NATO versucht zudem, von eigenen Expansionen und Verbrechen abzulenken, indem andere Länder oder führende Politiker als Feinde aufgebaut werden.

Anmerkungen
1 Vgl. Ausführlich  z.B. Leukefeld, K. (2017): Flächenbrand: Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat. Köln Papyrossa, Krone-Schmalz, G. (2017): Eiszeit, München, Beck. Lüders, M. (2017): Die den Sturm ernten.  München, Beck. IPPNW Akzente (2018): Der Syrienkrieg: Dimension, Hintergründe, Perspektiven. Berlin, IPPNW.
2 Talkshow Anne Will, 9.4.2017
3 U.a. Wesley Clark, ehemaliger Oberbefehlshaber der NATO, https://www.youtube.com/watch?v=1Vr_slBV6kI
4 Vgl. dazu u.a. die kenntnisreiche  und medienkritische  Darstellung von Krone-Schmalz (2015): Russland verstehen. Beck.
5 http://dorsch.hogrefe.ch/ui/dorsch%7C10210
6 Bahr, A. (Hrsg.) (2018): Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen. Frankfurt, Westend Verlag. Aus dem Vorwort der Herausgeberin: „Dieses Buch ist ein Appell an die politischen Institutionen und die mediale Öffentlichkeit unseres Landes, sich zu besinnen. Wir brauchen Frieden und Freundschaft mit Russland. Eine neue Entspannungspolitik ist das Gebot der Stunde.“

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Gert Sommer ist pensionierter Professor für Klinische Psychologie; Ehrenvorsitzender des Forum Friedenspsychologie und Vorstandsmitglied bei Wissenschaft & Frieden und. Zahlreiche Publikationen zu Friedenspsychologie, insbesondere Feindbilder und Menschenrechte. Soeben erschien sein Buch (zusammen mit Jost Stellmacher) zu „Menschenrechte und Menschenrechtsbildung“.
Johannes M. Becker, PD Dr. ist Politikwissenschaftler, Mitbegründer und langjähriger Koordinator und Geschäftsführer des CCS in Marburg, langjähriges Vorstandsmitglied sowie Vorstandsvorsitzender bei „Wissenschaft und Frieden“.