Deutschland: Kein Zufluchtsort für desertierte Kindersoldaten

Flashback statt ruhiger Träume

von Ralf WillingerIris Stolz

Daniel, 15 Jahre alt, ist ein Deserteur. Drei Jahre lang – seit er mit elf aus seinem Dorf verschleppt wurde – diente er Sankoh Foday, auch bekannt als »Schlächter von Sierra Leone«. Er gehörte zu den Kindern, die Fodays »Revolutionary United Front« (RUF) entführte und mit brutaler Gewalt zu Killern ausbildete, die im Rausch Lobeshymnen auf den Rebellenführer grölten und in seinem Namen Zehntausende von Zivilisten ausplünderten, verstümmelten und töteten. Gegen wen es ging und aus welchem Grund, wussten sie meist nicht. Diese Zeit, als Daniel eine Droge namens »gun powder« rauchte und anschließend die grausamsten Befehle befolgte, ist nun fast zwei Jahre her. Nur nachts in seinen Träumen kommt sie zurück. »Ich bin gezwungen worden«, sagt er, um sich zu beruhigen. Und erzählt, wie es einem Jungen erging, der weglaufen wollte: »Der Kommandeur machte ihn tot. Und dann hat er gesagt: Wenn du wegläufst, machen wir dich auch tot.«

Etwa zwei Millionen Kindersoldaten sind zwischen 1990 und 2000 gefallen, schätzt Olara Ottuno, Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs für Kinder in bewaffneten Konflikten. Sechs Millionen sind zu Invaliden geworden, zehn Millionen haben schwere seelische Schäden erlitten.

Daniel hatte Glück: Er konnte fliehen, als sein Kommandeur sich mitsamt Truppe und erbeuteten Diamanten absetzte. Aber weil die RUF, deren Krieg vor allem die Eroberung und Ausbeutung der reichen Diamantenminen in Sierra Leone zum Ziel hatte, vermisste Diamanten auch bei ihm vermutete, wurde er verfolgt und niemand wollte ihn verstecken. Ein Fremder half ihm schließlich nach Freetown und dort auf ein Schiff zu gelangen. Als Daniel im Februar 2002 die Bundesrepublik erreichte, war er 15 Jahre alt.

Daniels Geschichte ist typisch für die ehemaligen Kindersoldaten, die derzeit in Deutschland leben. Ihre genaue Zahl ist nicht erfasst – Schätzungen gehen von 300 bis 500 aus. Viele von ihnen sind so stark traumatisiert, dass sie nicht über ihre Erlebnisse sprechen können. Aber elf Jugendliche konnte Michaela Ludwig, die im Auftrag von terre des hommes und dem Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge eine Studie über »Ehemalige Kindersoldaten als Flüchtlinge in Deutschland « erstellte, interviewen. Sie kommen aus Afghanistan, Sri Lanka, Sierra Leone, Kongo-Kinshasa, Angola, Eritrea und dem Senegal – also vor allem aus Afrika, wo nach Schätzungen 120.000 der etwa 300.000 Kindersoldaten leben. Meist sind sie aus armen Bevölkerungsschichten und haben nie eine Schule besucht. Viele haben ihre Eltern bei Massakern verloren, sie selbst konnten fliehen und haben ihre Familie seitdem nie wieder gesehen. So wie Diko, der mit sieben rekrutiert wurde und acht Jahre lang ebenfalls bei der RUF Kindersoldat war. »Die Rebellen kamen in der Nacht. Sie haben meine Eltern getötet und mich geschlagen. Ich hatte Panik, überall wurde geschossen und es fielen Bomben. Dann sagten sie, ich solle mitkommen in den Wald. Wenn ich nein gesagt hätte, hätten sie mich getötet.«

Zwangsrekrutierung: nicht asylrelevant

Kindersoldaten sind Opfer schwerster Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen – die Ächtung der Rekrutierung und des Kampfeinsatzes von Kindern ist mittlerweile international. Die deutsche Asylpraxis ignoriert dies jedoch: Zwangsrekrutierung oder die begründete Angst davor gelten nicht als asylrelevant – auch nicht, wenn es sich um Minderjährige handelt.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge stellt als Fluchtursache zunächst »Desertion « fest. Dies allein ist aber für die Anerkennung als politischer Flüchtling nicht ausreichend, denn politische Verfolgung kann nach geltendem Recht nur vom Staat ausgehen. Wenn aber, wie in vielen Bürgerkriegsländern, der Staat soweit zerfallen ist, dass keine effektive staatliche Gewalt mehr angenommen werden kann, schließt die Rechtssprechung die Gewährung von Asyl aus, weil staatliche Verfolgung nicht möglich ist. Eine Logik, bei der nicht das Schutzbedürfnis eines Menschen, sondern der Verursacher entscheidend ist. Eine Logik, die im vorliegenden Entwurf für das neue Zuwanderungsgesetz durch die Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Fluchtgründe geändert werden sollte. Ob aber diese Fassung durchgesetzt wird, wann mit einer Verabschiedung zu rechnen ist und ob bei Inkrafttreten das besondere Schutzbedürfnis Minderjähriger auch in der Praxis berücksichtigt werden würde, ist fraglich.

Hinzu kommt, dass die Jugendlichen dem nicht kindgerecht gestalteten Asylverfahren in der Regel nicht gewachsen sind und sich in Widersprüche verstricken: »Die haben immer gefragt, an welchem Tag ich abgeflogen bin«, erzählt zum Beispiel Mala aus Sri Lanka. »Aber ich weiß nicht, wann das war. Ich habe einfach ein Datum gesagt. Dann haben die wieder gefragt, und ich hatte dieses Datum vergessen. Sie meinten, wenn das Datum stimmen würde, dann hätte ich es im Kopf. Die haben also gedacht, ich lüge.«

Nach Ablehnung ihres Asylantrags erhalten ehemalige Kindersoldaten in der Regel eine Duldung. »Das heißt, ich darf Hamburg nicht verlassen, ich darf nicht zur Schule gehen, und ich darf nicht arbeiten«, erklärt Hamed aus Afghanistan. »Und wenn die Regierung sagt, dass es in Afghanistan besser geworden ist, schieben sie uns einfach wieder ab. Das ist eine Duldung.« Selbst die diagnostizierte Traumatisierung ist nur in sehr schweren Fällen, etwa bei Suizidgefahr, Grund für eine längerfristige Aufenthaltssicherung. Die meisten traumatisierten ehemaligen Kindersoldaten müssen mit der Angst vor Abschiebung als ständigem Begleiter leben, was einen therapeutischen Erfolg kaum möglich macht. Schlafstörungen, Aggressionsschübe, Konzentrationsschwierigkeiten oder ständig wiederkehrende Albträume nehmen kein Ende. »Ich komme nicht mehr klar mit mir selbst«, so Antonio aus Angola. »Ich kenne kein Mitleid, ich fühle nicht mehr. Ich bin gewohnt, alles zu akzeptieren, was mit mir gemacht wird.«

Ein weiter Weg in die Sackgasse

»Du hast einen so weiten Weg hinter dich gebracht. So viele Dinge hast du überlebt. Und nun soll dein Leben hier enden auf Grund geistigen Zusammenbruchs? Allein das Wort Abschiebung hat einen Flashback deiner Erinnerungen zur Folge«, weiß auch China Keitetsi, ehemalige Kindersoldatin aus Uganda, die in Dänemark eine neue Heimat gefunden hat. Sie ist auch Autorin des Buches »Sie nahmen mir die Mutter und gaben mir ein Gewehr« und verfasste das Vorwort zur Studie »Ehemalige Kindersoldaten als Flüchtlinge in Deutschland«.

»Warum kann die Teilnahme an einem Krieg als unpolitisch definiert werden?«, fragen terre des hommes und der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge als Herausgeber der Studie. »Ist nicht die Fahnenflucht an sich eine hochpolitische Tat: Widerstand gegen brutale Unterdrückung, Angst und Missbrauch, aber auch dagegen, zu Gräueltaten gezwungen zu werden? Wieso zählt nicht als politische Verfolgung, wenn eine Rebellengruppe Deserteure regelmäßig tötet oder eine Regierung gefangen genommene Kindersoldaten foltern und menschenunwürdig behandeln lässt?«

Die Herausgeber fordern: Kinderspezifische Fluchtgründe, wie (drohende) Zwangsrekrutierung oder die Ermordung der Familie, müssen beim Asylverfahren anerkannt werden. Dem Asylverfahren sollte zudem ein so genannter »Clearingprozess« vorgeschaltet sein, in dem die Jugendlichen zur Ruhe kommen und ihre Erlebnisse in einer vertrauensvollen Umgebung verarbeiten können. Dies schließt auch ein, dass das eigentliche Asylverfahren erst mit zeitlicher Verzögerung beginnt.

China Keitetsi drückt es in ihrem Vorwort einfacher aus: »Was sollten die Deutschen den ehemaligen Kindersoldaten geben?«, fragt sie. Und antwortet: »Das gleiche, was ich von Dänemark bekommen habe. Dass die ehemaligen Kindersoldaten die jetzt gewonnene letzte Freiheit genießen können, wo sie doch bereits so viel verloren haben. Dass sie bleiben können, weil es ihnen helfen kann, ruhige Träume zu haben.«

http://www.tdh.de/content/themen/weitere/kindersoldaten/desertierte_kind...

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Ralf Willinger, Journalist, ist Referent für Kinderrechte beim Kinderhilfswerk terre des hommes in Osnabrück. Einer der Schwerpunkte seiner Arbeit sind Kinder in bewaffneten Konflikten.
Iris Stolz ist Mitarbeiterin beim Kinderhilfswerk terre des hommes.