Friedensbewegung nach dem INF-Vertrag

von Gert Samuel

Der INF-Vertrag markiert einen politischen Einschnitt in die Entwicklung der internationalen Beziehungen nach 1945. Der Beginn eines neuen Zeitalters, das der Abrüstung, zeichnet sich ab. Eine Welt ohne Atom- und Massenvernichtungswaffen ist heute weniger Illusion als erreichbare Möglichkeit.
Die NATO begreift diese Veränderungen als Herausforderung gerade auch zur Gegenwehr: "Atomare Abschreckung" ("modernisiert", "umstrukturiert" und reduziert) soll das angestrebte "Gesamtkonzept" entscheidend prägen. Von seiten des Warschauer Vertrages liegen weitrei-chende und grundsätzliche Entwürfe schon von a) Programm für eine atomwaffenfreie Welt bis zum Jahr 2000 vom 15. Januar 1986 und b) Erklärungen zur konventionellen Abrüstung in Europa ("BudapesterAppell", "Berliner Erklärung" und "Erklärung von Warschau"). Veränderungen in der Politik der beiden Großmächte SU und USA im jeweils eigenen Land sowie auch im Verhältnis zueinander werden deutlich. Zugleich zeichnet sich eine Relativierung der politischen Rolle der Großmächte ab: "Verantwortung" als eine wesentliche Kategorie in den internationalen Beziehungen verlangt eigene Beiträge und aktives Handeln aller Staaten.

Für die Friedensbewegung ergeben sich hieraus neue Bedingungen ihrer politischen Tätigkeit, wobei die heutige Ausgangslage vergleichbar der Situation von 1973/74 zu sein scheint. Die politische Entspannung am Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre förderte die Hoffnungen auf Abrüstung und friedliche Konfliktlösungen. Als Gegentendenzen wirkten das fortlaufende Wettrüsten (z. B. die ständig steigenden Rüstungsausgaben), die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt und nicht zuletzt das Mißtrauen gegenüber der Politik der Regierungen. Stärkeren Zulauf jedoch erhielt die Friedensbewegung erst, als die erhoffte Abrüstung ausblieb und stattdessen neuartige Massenvernichtungswaffen (Neutronenbombe, Pershing II, Cruise Missiles) von der NATO auf die Tagesordnung gesetzt wurden.

Der INF-Vertrag durchbricht die "Logik des Wettrüstens" und steht für die bisher als unwahrscheinlich bis unmöglich gehaltene Tatsache der Abrüstung unter den existierenden politi-schen Verhältnissen in der Welt. Parallel dazu sich abzeichnende und entfaltende Tendenzen der politischen Lösung zahlreicher internationaler Konflikte (Irak-Iran, Namibia, Afghanistan, Mittelamerika, Indochina, Naher Osten) lassen die Frage entstehen: "Bricht Frieden aus?" ("Die Zeit",12.8.1988) Die politischen Gegenentwicklungen in Form von weiterer Aufrüstung (''Modernisierung", "SDI'', ... ) und Konfrontation sind nicht verschwunden - sie dürfen zweifellos auch in Zukunft nicht unterschätzt werden; mir. stellt sich allerdings die Frage, ob sich die Rolle des Militärischen auf einem absteigenden Ast befindet.

Weitere Abrüstung wird es auch weiterhin nicht quasi im Selbstlauf geben. Weitere Abrüstung ist zwar unbedingt erforderlich für die Zukunft der Menschheit, doch reicht sie allein nicht aus. Uni die Bedrohungen der globalen Probleme zu überwinden, ist Zusammenarbeit auf allen Ebenen ge-boten. Eine Reihen- oder Rangfolge in dem Sinn: erst Abrüstung, dann Lösung der globalen Probleme (oder umgekehrt) kann . es nicht geben. Vielmehr muß dies gleichzeitig und gleichrangig geschehen, da die Zeit drängt.

Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen zur weiteren Tätigkeit der Friedensbewegung/Friedensinitiativen heute anders als z. B. in den Jahren 1979 bis 1983, als es mittels der konzentrierten Debatte zu und den vielfältigen Aktionen gegen die Pershing II und Cruise Missiles darum ging, das (atomare) Wettrüsten an einem zentralen Punkt zu unterbrechen. Darüber hinaus haben die Aktivitäten. während der 80er Jahre zu einer veränderten gesellschaftlichen und politischen Realität in unserem Land beigetragen. Dieses artikuliert sich unter anderem in dem Nicht-mehr-Bestehen des jahrzehntelang gültigen "sicherheitspolitischen Konsenses" über die "atomare Abschreckung" und in Fragen einer wachsenden Zahl von Menschen nach: a) den Ursachen und Zusammenhängen der verschiedenen menschheitsbe-drohenden Entwicklungen, b) der Kompetenz von Politikerinnen, Parteien und Regierungen, c) der Moral und Ethik von Politik im allgemeinen, d) nach Lösungsansätzen, positiven Alternativen,· e) den Realisierungschancen erworbener Ansprüche und Forderungen und f) der eigenen Ver-antwortung für eine bessere Welt.

Auch die Friedensbewegung steht am Beginn einer neuen Etappe ihrer Arbeit, in der die Atom- und Massenvernichtungswaffen beseitigt weiden müssen. Erstens wird es dabei nicht vordringlich daraufankommen, den "nächsten Knackpunkt" herauszuspüren; auch nicht darauf, in erster Linie auf die sicherlich folgenden Vorhaben der Aufrüstungsbefürworter zu warten, um dann mit bewährten Aktionsformen die Bevölkerung aufzuklären und politischen Gegendruck zu entfalten. Solch bewährtes Vorgehen wird zweifelsfrei notwendig bleiben, jedoch eher auf der Grundlage wachsender politischer Flexibilität. Das bedeutet: Abrüstung ist notwendig auf verschiedenen Ebenen. Abrüstung soll Wirklichkeit werden durch verschiedene Initiativen der Friedensbewegung ( oder auch von Teilen der Friedensbewegung): das können sein Initiativen 1) zu weiterer atomarer Abrüstung, 2) zum Atomteststopp, 3) zum Atomwaffenverzicht ins Grundgesetz, 4) zum C-Waffen-Verbot, 5) zum Stopp des "Jäger 90", 6) gegen die Tiefflüge, 7) gegen Waffenexporte ...

Dieses Nebeneinander von unterschiedlichen Einwirkungspunkten muß "ausgehalten" werden: Nicht deshalb, weil es derzeit keine günstigere Konstellation gibt, sondern weil erst jetzt - durch den INF-Vertrag - Abrüstung als logische Konsequenz auch in anderen Bereichen möglich wird. Dieses Nebeneinander bedarf gleichzeitig der Bereitschaft der Friedensbewegung zu gemeinsamen Aktivitäten, wenn a) drohende Aufrüstungsmaßnahmen abgewehrt oder b) weitere Abrüstung politisch durchgesetzt werden können.

Zweitens stellen sich angesichts' der veränderten Rahmenbedingungen in neuer Dimension Fragen nach den Zusammenhängen zwischen Abrüstung und den Lösungen der globalen Probleme. Hier liegt ein weites Feld noch nicht so recht überschaubarer neuer Aufgaben vor der Friedensbewegung. Neue Chancen bedeuten auch immer neue Fragen und Herausforderungen. In diesem Sinne ist die "Tübinger Erklärung" wohl nicht Abschluß, sondern eher ein Zwischenstand in der Diskussion der Friedensbewegung über ihre weitere Arbeit.
 

Ausgabe

Rubrik

Initiativen
Mitarbeiter des Komitees für Fruieden, Abrüstung und Zusammenarbeit