Die UNO als zivile Zwangsmacht?

Friedliche Konfliktregelung und aktive Konfliktaustragung durch ein UNO-Regime operativen Zwangs

von Erich Schmidt-Eenboom

Erich Schmidt-Eenboom und Achim Schmillen haben im Rundbrief "Frieden" des Forschungsinstituts für Friedenspolitik Weilheim einen achtseitigen Aufsatz "Friedliche Konfliktregelung und aktive Kon­fliktaustragung" zur Diskussion gestellt. Sie fordern, die Entwicklung einer geschlossenen Strategie nichtmilitärischer Zwangsmittel zu entwic­keln. Wir dokumentieren aus dem Aufsatz die Vorstellungen der Auto­ren über das Anwendungsverfahren solcher Zwangsmittel über die UNO, die Auseinandersetzung mit vorweggenommenen Einwänden aus der Friedensbewegung und den Katalog möglicher Sanktionen. Es ist sicherlich ein umstrittener Beitrag, zumal die Vorschläge recht technizistisch anmuten und eine Eskalation in militärische Operationen nicht   ausgeschlossen wird. Dennoch handelt es sich um einen wichtigen Bei­trag, der vor allem sehr viele Beispiele nichtmilitärischer Sanktionen sy­stematisiert darstellt. (ms)

 

( ... ) Als Verfahren innerhalb der UNO wäre z.B. denkbar, daß auf einstimmi­gen Vorschlag des Sicherheitsrats mit einer Zweidrittelmehrheit in der UNO­Vollversammlung ein Zielstaat geächtet bzw. mit einem Zeithorizont als "Spannungsfall" eine solche Ächtung angedroht wird. Ein UNO-Zivilstab wäre  die Exekutivbehörde, die ihre operativen Maßnahmen gegenüber dem geächteten Staat mit dem Sicherheitsrat abstimmt. Die Rückholbarkeit aller Sanktionen oder bestimmter Schwellen - auch als Sicherung zur fortgesetzten Verhältnismäßigkeit der Mittel - sollte auf Antrag von 25 Staaten mit einfacher Mehrheit der UNO-Vollversammlung gewährleistet sein. Die Finanzierung der Sanktionskosten sollte über den UN­ Etat laufen, der den Aufgaben eines Gewaltmonopolinhabers         angepaßt werden muß. Bisher hat die "Weltpolizei" zur Konfliktregelung und -prophylaxe an allen Brandherden der Erde einen Etat, der dem der New Yorker Stadtverwaltung für Polizei und Feuerwehr entspricht.

Das Spektrum negativer Sanktionsmög­lichkeiten ist breit, in Einzelelementen längst erprobt und wird auf Seite 6 nur in der Form eines ergänzungsbedürfti­gen Brainstormings dargestellt.

Gegenüber einem solchen Konzept ope­rativen Zwanges ist vielfältige Kritik zu erwarten. Ein Vorwurf könnte lauten, daß der Primat der Politik durch technologische Konzepte entsprechender Eigendynamik aufgeweicht wird. Aber, Politik braucht Instrumente, zuerst eine Strategie und dann zwingend eine ope­rationalisierte Taktik. Die angeführten Sanktionsmittel sind, wo sie angewendet wurden, im Rahmen nationalstaatlicher Interessenpolitik eingesetzt worden, d.h. in fragwürdigen Rollen. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie untauglich sind, sondern nur, daß ihre Legitimationsbasis die UNO und deren Gewaltmonopol werden müssen.

Von Pazifisten könnte überdies der Vorwurf der schleichenden Militarisie­rung der internationalen Beziehungen bzw. der Konfliktaustragungsregularien kommen, und er muß ernst genommen werden. Das Spektrum der Sanktionsmechanismen muß zwar auf den jeweils niedrigsten Stufen möglichst aller Kate­gorien beginnen und quer durch alle notfalls eskaliert werden, aber bei ge­nauer Betrachtung der Einzelelemente der Gewaltmittel operativen Zwangs dominieren, im Gegensatz zur bisheri­gen Staatenpraxis, die zivilen. Nur durch die parallele Anwendung aller Kategorien laufen einzelne Schwächen einzelner Elemente ins Leere. ( ... ) Ein weiterer Vorwurf könnte lauten, daß die Friedensforschung mit dem Konzept operativen Zwangs pazifistische Grund­positionen aufgibt oder zumindest auf­weicht. Strukturell ist die Grenzfalldis­kussion unter Pazifisten jedoch nicht neu. Die "Doktrin" der sozialen Vertei­digung hat bei der Gewaltbereitschaft gegen Sachen und Kriegsmittel im Falle einer gegnerischen Okkupation diese Diskussion da geführt, wo Quasi-Parti­sanenoptionen mit der Kernfrage nach einem "Kollateral"-Schaden an Leib und Leben von Okkupanten verbunden wa­ren.

Einen weiteren Kritikansatz bietet die Frage, ob ein konsensfähiger Interventionismus in einem "neuen" Völkerrecht legitimiert werden kann und dabei na­turgemäß darauf angewiesen ist, daß Rechtsgleichheit herrscht. Solche Rechtsgleichheit müßte bedingen, daß gegenüber jedem Staat, so z.B. zur Durchsetzung der zahllosen UN-Reso­lutionen gegen die Besatzungspolitik Israels, gleichermaßen die Einhaltung in­ternationaler Rechtsnormen erzwungen würde.

Es wäre naiv zu glauben, daß dies mög­lich ist. Insbesondere gegenüber Groß­- und Mittelmächten, gegenüber den stän­digen Mitgliedern des Sicherheitsrats der UNO, bestehen keine realistischen Chancen dazu. Das verwirft ein Konzept operativen Zwangs jedoch nicht, weil es in demselben Spannungsfeld von nationalstaatlicher Konkurrenz und Machte­goismen steht wie die Anwendung se­lektiver Wirtschaftssanktionen oder mi­litärischer Gewalt. Es bietet nur als Gegenmodell zur systematischen, general­stabsmäßigen und über Jahrhunderte perfektionierten Militärplanung ein alternatives Instrument.

Die Hoffnung dieses Konzepts liegt darin, daß erstens die ersatzweise und erfolgreiche Anwendung dieses Instru­ments selbst Rückwirkungen auf die Art der Konfliktaustragung hat, zweitens die Sicherheitsdispositionen der Nationalstaaten sich mehr auf kollektive Sy­steme richtet und drittens der militäri­sche Beitrag zu Systemen kollektiver Sicherheit dabei stufenweise und auf Gegenseitigkeit beruhend abgebaut wird. ( ... )

Die Entnationalisierung der Gewaltmit­tel steht im Widerspruch zur Regionalisierung von Sicherheitskompetenz. Denkbar wäre z.B., daß auch die KSZE als Regionalorganisation der UNO in ih­rem Kompetenzbereich bei der Ausprä­gung neuer positiver und negativer Sanktionspotentiale voranschreitet und positive Beispiele von Konfliktbewälti­gung mit nicht-militärischen Mitteln gibt. Für sie gilt aber analog, was als Grenze für den Bundeswehreinsatz  gefordert ist: Demokratisierung, Ver­zicht auf globale Interventionsfähigkeit und ablesbare Priorität als friedliche Ordnungsmacht. Nationalstaaten müssen ihre Egoismen zurücknehmen und überdies die Transformation der UN-Regularien in nationale Strafgesetzgebung weit stärker als bisher leisten, die in jedem Staat den Bruch der verhängten UNO-Sanktionen strafrechtlich regelt.

Die zuletzt beschriebene Handlungs­ebene ist überwiegend die Ebene des Handelns von Staaten und kollektiven Staatssystemen, weniger von sozialen Bewegungen, die ihren Schwerpunkt auf dem Feld positiver Sanktionen im Vorfeld und Nachgang von Konflikten su­chen können. In der gegenwärtig häufig anzutreffenden argumentativen Ohn­macht der Friedensbewegung jedoch hat der gestellte Anspruch an Staaten eine mögliche konsolidierende Funktion. Die Forderung nach einer Konfliktaustra­gungsstrategie unter zivilem Primat als Gegenforderung an militärisch inter­ventionsbereite Politik hilft mindestens Teilen der Bewegung aus ihrer Sprach­losigkeit.

Sanktionen in einem UNO-­Regime operativen Zwangs

A Wirtschaftliche Sanktionen

  1. Teil-Embargo, das ein Import- Ex­portverbot strategischer Güter (Rüstungsgüter, High-Tech-Produkte oder zentrale Rohstoffe wie Öl) um­faßt.
  2. Ausnahme-Embargo, das prinzipiell den Handel mit allen Gütern und Dienstleistungen umfaßt, aber quan­titativ und qualitativ festgelegte Aus­nahmen z.B. zu humanitären Zwec­ken wie Lebensmittel- und Medikamentenversorgung zuläßt.
  3. Totales Embargo, das jeden Im- und Export aller Güter und Dienstleistungen umfaßt.
  4. Start- und Landeverbot für Flugzeuge des Ziellandes der Sanktionen auf allen Flughäfen, wie es gegenüber Libyen 1992 gehandhabt wurde, das sich weigerte, die mutmaßlichen Lockerbie-Attentäter auszuliefern
  5. Anlaufverbot aller Schiffe unter der Flagge des Ziellandes in allen Häfen.

Die Sperrung aller Handelswege zu Wasser, in der Luft und zu. Lande, an den Grenzen der Anrainerstaaten und auf See bedarf dabei der Überwachung durch geeignete Instrumente, die nicht zwingend aus Großkampfschiffen bestehen müssen.

 

B. Währungssanktionen

  1. Einfrieren der Auslandsguthaben des Zielstaats, wie im Falle Iraks im Zweiten Golfkrieg und lange darüber hinaus vollzogen.
  2. Verbrauch der Auslandsguthaben zur Finanzierung der Kriegsfolgelasten wie Versorgung der Kriegsflücht­linge und Hilfen für die betroffene Zivilbevölkerung. Diese Maßnahme ist einschneidender als die bloße Blockade der Mittel und zeitkritisch. Der sanktionierte Staat wird zur schnellen Konfliktregelung bewegt, weil ein Spielen auf Zeit - wie es Serbien z.B. im Jugoslawienkonflikt betreibt - zu Lasten des Zielstaats geht.
  3. Sperren aller Kreditlinien.
  4. Erklären der Inkompatibilität der Währung des Ziellands mit den übri­gen Währungen, ggf. Ausschluß aus dem Weltwährungsfond und der Weltbank.

 

C. Völkerrechtliche Sanktionen

  1. Abbruch aller nationalen diplomati­schen Beziehungen zum Zielland und Schließung aller Botschaften und Vertretungen.
  2. Ausweisung aller Diplomaten des Ziellands aus anderen Staaten und Ersatz aller nationalen diplomati­schen Beziehungen durch eine UNO­-Botschaft im Zielland bzw. einen Botschafter des Ziellands bei der UNO. Das gegeneinander Ausspielen konkurrierender nationalstaatlicher Interessen durch den Zielstaat wäre damit wesentlich erschwert. Der de facto Ausschluß Restjugoslawiens aus der UNO und die Beibehaltung nationaler diplomatischer Kontakte ist die Verkehrung der Notwendig­keit, geschlossen gegenüber Gewalt­staaten aufzutreten.
  1. Abbruch aller nachrichtendienstli­chen Partnerbeziehungen und Kontakte zu den Geheimdiensten des Zielstaats.
  2. Vorsorgliche Schaffung eines Kriegs­verbrechertribunals und einer UNO­Registratur zur Erfassung von Kriegsverbrechen.

 

D. Kulturelle und soziale Sanktionen

  1. Ausschluß vom internationalen Sportverkehr wie Olympiaden etc.
  2. Ausschluß vom internationalen Kul­turaustausch, Schließung der ausländischen Kulturzentrum (Amerika­häuser, Goetheinstitute etc.).
  3. Beendigung des Wissenschaftsaus­tausches, Aufkündigung aller Forschungskooperationen, Stipendien etc.
  4. Religiöse Sanktionen. Die Bedeutung religiöser Elemente in inner- und zwischenstaatlichen Konflikten zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß auf Antrag der islamischen Staaten die UNO den militärischen Schutz der Hilfskonvois in Bosnien beschloß. So könnte z.B. die Exkommunikation eines Diktators in katholisch gepräg­ten Ländern eine Kluft zwischen ka­tholischen Alleinherrschern, Militär­diktaturen und Bevölkerung auf­bauen, in dem die ideologische Legi­timationsbasis durch Ausschluß der Diktatoren aus derselben Religions­gerneinschaft geschwächt wird.

 

E. Elektronische Sanktionen

  1. Abbruch aller internationalen Fern­meldeverbindungen über Satellit, Seekabel oder Richtfunkstrecken.
  2. Stören aller nationalen Telekommu­nikationsmittel.
  3. Stören aller nationalen elektronischen Massenkommunikationsmittel, d.h. Lähmung von Radio- und Fernseh­stationen, bis hin zum Ersatz durch Sender der Konfliktregelungsorgani­sation oder friedensfähiger Opposi­tion. In ihren Einsatzplänen für eine mögliche militärische Intervention in Bosnien-Herzegowina haben die US- Streitkräfte nicht nur den Einsatz von Flugblättern, sondern auch das Stören von Fernsehsendungen und die Übersteuerung der Rundfunkstationen Belgrads mit US-Radiosendungen vorgesehen.
  4. Störung aller militärischen Gefechts­feld-kommunikationsmittel,
  5. Lähmung aller militärischen und zi­vilen Radarstationen.
  6. Einsatz von Computerviren zur Läh­mung aller Verwaltungs- und Distributionssysteme.

Die überwiegend militärischen und nachrichtendienstlichen Mittel beim Einsatz elektronischer Sanktionen rei­cben von weltraum-, see-, land- oder luftgestützten Sendern bis zum Einsatz eines regional begrenzten EMP (Elektromagnetischen Impulses). Den durch eine Cruise Missile ausgelösten begrenzten, konventionellen EMP ha­ben die US-Streitkräfte in ihrem Kries­szenario für einen potentiellen Einsatz im Balkan-Krieg u.a. angedacht.

Erstens verschärfen solche Eingriffe in die Verwaltungs- und Verteilungsbürokratien die Wirkung von Wirtschafts­sanktionen und zweitens wären sanktio­nierte Diktaturen dann nicht mehr in der Lage, Propaganda und Durchhalte­parolen via Radio und Fernsehen an ihre Bevölkerung zu senden.

 

F. Chemo-technische Sanktionen

Technische Sanktionen sind bisher weitgehend auf das noch nicht vollstän­dig entwickelte Spektrum "nicht-tödli­cher" Waffen der US-Streitkräfte be­schränkt, die "die Kampffähigkeit eines Feindes beeinträchtigen oder zerstören ohne schwerwiegende Verletzungen, ausgedehnte Sachschäden oder großflä­chige Umweltzerstörungen hervorzuru­fen". In Entwicklung sind in den USA als Möglichkeit einer begrenzten militärischen Sanktion

  • der waffenähnliche Mikrowelleneinsatz, der einerseits bei Bestrahlung des Gegners zum zeitweisen Ausfall physischer und psychischer Funktio­nen führen kann und andererseits die Elektronik in Waffensystemen aus­schalten kann,
  • der Einsatz von Schlafgasen oder Niedrigenergielasern zur Blendung der Sehkraft, bei denen allerdings die Probleme einer dosierten Anwendung noch nicht gelöst sind,
  • der Einsatz von materialaufweichen­den Chemikalien. Einerseits sind Chemikalien in Entwicklung, die durch Verbrennungsmotoren ange­saugt die Maschine zerstören, andererseits gibt es bereits Chemikalien, die auf Verkehrswegen versprüht die Gummibereifung von Kraftfahrzeu­gen aufweichen.
  • der Einsatz einer Mikrobenlösung, die Flugbenzin in eine schmierige Masse verwandelt,
  • der Abschuß von seegestützten Cruise Missiles vom Typ Tomahawk mit Kohlefaserverbindungen, die - wie im Golfkrieg - erprobt über Kurzschlüsse zur tagelangen Läh­mung der Energieversorgung führen können und damit das gesamte vom Lebensfaktor Strom abhängige Netz militärischer und ziviler Versor­gungs- und Verteilungssysteme aus­schalten würde. Der Betrieb elektrischer Pumpen für Treibstoff- und Wasserversorgungssysteme wäre ebenso gestört wie das gesamte Ver­teilungsnetz von Lebensmitteln und die medizinische Versorgung.

Die letzten drei Optionen gehörten im Sommer 1992 bereits zum Spektrum der in den USA gegenüber. Serbien geplan­ten potentiellen Einsatzoptionen.

G. Beschränkte militärische Opera­tionen

  1. Militärischer Schutz von Hilfskon­vois oder anderen humanitären Ak­tionen.
  2. Errichtung von Luftschutzzonen, so­fern dadurch die Verfolgung bedroh­ter Völker oder Minderheiten unter­bunden oder erschwert wird, wie sie US-Präsident Bush südlich des 32. Breitengrades im Irak im August 1992 überwacht von Kampfflugzeu­gen erklärt hat.
  3. Errichtung von regionalen Schutzzo­nen, zum Schutz bedrohter Völker. Auf Anregung .des türkischen Mini­sterpräsidenten Özal und des briti­schen Premierministers Mayor hatte der UN-Sicherheitsrat im April 1991 die Errichtung einer solchen Enklave für die irakischen Kurden beschlos­sen.
  4. Auslaufverbot der Marine des Ziel­staats über eine Drei-Meilen-Zone.

Der vollständige Text kann bezogen werden: Forschungsinstitut für Friedenspolitik, Postfach 12 51, 82 352, Weilheim, 0881/383, Fax 0881/2080.

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