Atomwaffen

Generationswechsel – Die Zukunft nuklearer Waffen

von Otfried Nassauer

Die Hoffnung, das Ende des Kalten Krieges werde auch das Ende der Atomwaffenpotentiale einläuten, muss vorläufig begraben werden. Die großen Nuklearmächte basteln bereits an der nächsten Generation nuklearer Waffen. Die Kleineren wollen ebenfalls nicht verzichten. Die Modernisierungsstrategien sind unterschiedlich, das Ziel aber gleich: Bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts sollen Nuklearwaffen eine wichtige Rolle spielen. Allenfalls gilt die Maxime „Weniger soll mehr sein!“

Runderneuerung statt Vision Null – Die USA
Mit seiner Prager Rede hat US-Präsident Barack Obama 2009 die Utopie einer atomwaffenfreien Welt wiederbelebt. Die sei machbar. Obama betonte zugleich: „Solange wie diese Waffen existieren, werden die Vereinigten Staaten ein sicheres, gut gesichertes und effektives nukleares Arsenal aufrechterhalten, um jeden Gegner abzuschrecken und unseren Alliierten diese Verteidigung zu garantieren.“ Für die praktische Politik Obamas war diese zweite Aussage handlungsleitend, nicht die ferne Vision. Bereits mit dem Nuclear Posture Review 2010 legte er einen Kurs fest, der so konservativ war, dass er jeglicher Kritik der Republikaner den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Washington werde an einer umfassenden Modernisierung seiner nuklearen Trägersysteme, seiner Sprengköpfe und Bomben und seiner industriellen Infrastruktur für den Bau solcher Waffen arbeiten und dafür deutlich mehr Geld ausgeben als zuvor. An dieser Linie hält Obama bis heute fest, auch wenn bereits im Detail Änderungen, erhebliche Verzögerungen und zum Teil exorbitante Kostensteigerungen eingetreten sind. 

Neue Trägersysteme werden entwickelt und alte modernisiert. Die Triade aus see-, land- und luftgestützten Trägersystemen bleibt erhalten. Selbst 50 Raketensilos, die als Folge von Rüstungskontrollverträgen jetzt geräumt werden müssen, werden nicht abgerissen, sondern aufrechterhalten, damit man sie notfalls noch einmal nutzen kann. Die Konzeption eines neuen atomgetriebenen U-Boots für Langstreckenraketen wurde bereits eingeleitet. In Angriff genommen wird auch die Entwicklung eines neuen strategischen Bombers, LRSB, der einmal die B-52- und B-1-Bomber ablösen soll. Für die strategischen Bomber wird ein neuer Langstrecken-Marschflugkörper entwickelt. Die landgestützten Interkontinentalraketen der USA werden zunächst modernisiert und sollen später durch ein Nachfolgemodell abgelöst werden. Ähnliches gilt für die ballistischen seegestützten Raketen vom Typ Trident, die die US-Marine heute nutzt. Zudem soll beim neuen Jagdbomber der USA, dem sogenannten Joint Strike Fighter oder F-35, in den nächsten Jahren eine nuklearfähige Version entwickelt werden, die auch den NATO-Verbündeten verkauft werden soll, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe Trägersysteme für atomare Bomben der USA unterhalten. Geplant war, dass dieses Flugzeug bereits vor Ende dieses Jahrzehnts eingeführt wird. Technische Probleme haben den Einstieg in die Entwicklung um etliche Jahre verzögert. Derzeit wird mit einer Einführung Mitte des nächsten Jahrzehnts kalkuliert.  

Schritt für Schritt sollen auch die atomaren Sprengköpfe modernisiert werden. In den USA wird dies als Verlängerung der Lebensdauer bezeichnet, weil Obama angeordnet hat, weder neue Nuklearsprengköpfe noch Sprengköpfe mit neuen militärischen Fähigkeiten zu entwickeln. Die zuständige National Nuclear Security Agency (NNSA) interpretiert diese politische Vorgabe höchst freizügig und sieht sie auch dann als erfüllt an, wenn für neue Sprengköpfe die nuklearen Komponenten alter Sprengköpfe abgeändert wieder genutzt oder nachgebaut werden. Was darüber hinaus noch an Modernisierung politisch akzeptabel wäre, wird mit immer neuen trickreichen Verbesserungsvorschlägen ausgetestet. Das Ergebnis wird wohl der Entwicklung neuer Atomwaffen oder von Nuklearwaffen, die neue militärische Fähigkeiten haben, sehr nahe kommen. Begründet wird dieses Vorgehen damit, dass dringend eine neue Generation von WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen ausgebildet werden müsse, die den Bau von Atomwaffen komplett beherrscht.

Die NNSA hat einen langfristigen Modernisierungsplan für alle Atomsprengsätze der USA ausgearbeitet, das sogenannte 3+2 Programm. Sie verspricht, die Zahl der unterschiedlichen Sprengkopftypen und die Gesamtzahl der Waffen zu verringern, die Menge des verbauten waffenfähigen Nuklearmaterials abzusenken und auch die Gesamtsprengkraft der atomaren Waffen der USA deutlich zu reduzieren, weil dann die Waffen mit der größten Sprengkraft außer Dienst gestellt werden können.

Weniger soll also mehr werden. Künftig sollen auch nicht mehr ganze Raketensprengköpfe oder Bomben als Reserve für den Fall eingelagert werden, dass technische oder Sicherheitsprobleme einen Atomsprengkopftyp außer Gefecht setzen, sondern nur noch einzelne Komponenten, die im Austausch für die fehlerhaften Teile eingebaut werden können. Bauteile, die in mehrere Waffentypen passen, müssen aber erst entwickelt werden. Auch ganze Sprengköpfe sollen künftig so konzipiert werden, dass sie untereinander austauschbar sind. So soll möglichst bald ein Atomsprengkopf entstehen, der sowohl mit landgestützten als auch mit seegestützten Langstreckenraketen verschossen werden kann. 

Das derzeit wichtigste und zugleich das Einstiegsprojekt in diese Zukunftsplanung ist die Modernisierung des atomaren Bombenarsenals der USA. Es betrifft auch Europa, weil derzeit noch etwa 180 atomare Bomben der USA in Europa gelagert werden, die ebenfalls modernisiert werden sollen. Dieses Vorhaben der B61-12 wird deshalb separat in einem kurzen Artikel betrachtet.

In Washington ist also klar: In den nächsten Jahrzehnten soll das gesamte Atomwaffenpotential der USA einmal runderneuert werden. Damit es für die nächsten Jahrzehnte den USA weiterhin garantiert, dass sie „second to none“ bleiben.

Russlands Kampf um seine Zweitschlagfähigkeit
Auch Moskau plant langfristig mit seinen Atomwaffen. In vielen anderen Punkten unterscheidet sich diese Planung aber von der Washingtons. Das hat historische, technische und auch militärisch-strategische Gründe.

Ein rascher Blick zurück: Schon das atomare Potential der UdSSR war deutlich anders zusammengesetzt als das der USA. Zwar besaßen beide Supermächte strategische Atomwaffen an Land, auf See und in der Luft, doch der größte Teil der sowjetischen Waffen bestand immer aus landgestützten Interkontinentalraketen, während die Seemacht USA die meisten ihrer atomaren Sprengköpfe auf U-Booten stationiert hatte. Der Zerfall der UdSSR führte dazu, dass Moskau die Kontrolle über große Teile des sowjetischen Territoriums und damit auch über Teile der Infrastruktur für Entwicklung, Bau und Betrieb atomarer Waffen verlor. Ein sichtbares Zeichen dafür war der „Verlust“ des großen Atomtestgeländes in Semipalatinsk an Kasachstan. Ein weniger sichtbares bestand darin, dass Moskau die technische Fähigkeit verlor, schwere landgestützte Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen im eigenen Land zu produzieren. Wichtige Fabriken lagen nun im Ausland, vor allem in der Ukraine.

In den 1990er Jahren konnte Moskau nur noch leichte Interkontinentalraketen wie die SS-25 oder später die SS-27 bauen, die zunächst auch nur einen Sprengkopf trugen. Später gelang es, die SS-27 so zu modifizieren, dass sie vier Sprengsätze trug. Trotzdem war es mit den begrenzten technischen und finanziellen Ressourcen nicht möglich, genug neue Träger zu bauen, um die veraltenden Interkontinentalraketen oder gar deren Sprengköpfe eins zu eins zu ersetzen. Nicht einmal die Zahl der landgestützten Trägersysteme konnte aufrechterhalten werden. Im Kern ist das bis heute so, wenn auch in abgemilderter Form.

Russland verfolgt deshalb vor allem das Ziel, auch für den Fall eines überraschenden US-amerikanischen Erstangriffs auf die russischen Nuklearstreitkräfte nach diesem Schlag noch genug „überlebende“ Atomwaffen zu besitzen, um auch den USA inakzeptabel großen Schaden zufügen zu können. Eine gesicherte Zweitschlagfähigkeit. Deshalb reagierte Russland auch so allergisch auf die Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA und die Stationierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme. Daraus erklären sich auch wesentliche Unterschiede zu der nuklearen Modernisierungspolitik Washingtons.

Russland strebt eine umfassende Modernisierung sowohl seiner verbliebenen atomaren Trägersysteme als auch seiner atomaren Sprengköpfe zu tragbaren Kosten an. Langstreckenraketen, ob land- oder seegestützt, sollen möglichst mehrere Sprengköpfe tragen. Die Sprengköpfe sollen gegen eine Raketenabwehr bestmöglich geschützt, manövrierbar und möglichst leicht und zielgenau sein. Auch die leichteren Interkontinentalraketen sollen möglichst mehrere Sprengköpfe tragen.

Russland ist bei seiner Modernisierung auf erhebliche technische, finanzielle und zeitliche Probleme gestoßen, obwohl es der Erneuerung seiner Nuklearstreitkräfte nach dem Kalten Krieg lange Priorität vor einer Verbesserung der konventionellen Kräfte eingeräumt hat. Jahrelang verlief die Einführung neuer leichter Interkontinentalraketen eher schleppender als geplant. Dies konnte nur zum Teil kompensiert werden, weil es gelang, mit Hilfe ukrainischer Betriebe vorhandene schwere Atomraketen länger in Dienst zu halten als ursprünglich für möglich gehalten. Trotzdem sank die Zahl der russischen Interkontinentalraketen auf 313 (Ende 2013) ab und wird in den nächsten zehn Jahren noch weiter zurückgehen. Neue Systeme wie die SS-27 Mod 2 entstehen langsamer als alte (SS-19, SS-18 und SS-25) außer Dienst gestellt werden müssen. Es ist zwar geplant, in den nächsten 10-15 Jahren auch wieder eine schwere Interkontinentalrakete mit Flüssigtreibstoffantrieb (Sarmat) zu bauen, aber es ist keineswegs sicher, ob das auch gelingt. Auch ein neuer strategischer Bomber und ein neuer nuklear bestückter Langstrecken-Marschflugkörper sind in Entwicklung.

Auch die Einführung neuer atomarer Raketen-U-Boote und neuer Raketen zur Bewaffnung solcher Boote stieß auf Probleme. Russland verfügt derzeit nur noch über sieben ältere Boote, und die ersten beiden von acht geplanten neuen Booten der Borei-Klasse verzögerten sich Jahr um Jahr. Sie sind bis heute nicht einsetzbar. Die neue seegestützte Langstreckenrakete Bulava konnte nicht eingeführt werden, weil Testschüsse ein ums andere Mal fehlschlugen und Alternativ-Optionen auf Basis vorhandener Raketen entwickelt werden mussten. Trotzdem wird an den Plänen festgehalten, die neuen Systeme letztlich einzuführen. Allerdings kann Russland schon seit Jahren nicht mehr kontinuierlich Raketen-U-Boote auf Patrouille schicken.

Besonderen Wert legt Russland auf die Entwicklung und Einführung von Sprengköpfen, die eine künftige US-Raketenabwehr durchdringen können. Vermehrte Tests in Kapustan, einer Testeinrichtung auch für Luftverteidigungssysteme, deuten darauf hin. Derzeit wird an geeigneten Sprengköpfen für die SS-27 und für eine modifizierte SS-N-23 U-Boot-Rakete gearbeitet, die den Namen Liner tragen soll.

Unklar ist trotzdem, ob Russland eine uneingeschränkte atomare Zweitschlagfähigkeit auf Dauer aufrechterhalten kann. Wer über wenige Interkontinentalraketen mit relativ vielen Sprengköpfen verfügt, ist gegenüber demjenigen im Nachteil, der über relativ viele Raketen mit nur einem Sprengkopf verfügt, wenn letzterer zuerst angreift. Wenige Ziele mit vielen Raketen anzugreifen ist einfacher als umgekehrt. Zum Vergleich: Die USA besitzen 400 Minuteman-3-Raketen mit je einem Sprengkopf.

Zudem deuten sich in Russland neue wirtschaftliche Schwierigkeiten an. Die Krise in der Ukraine kann zu einem längerfristigen Ausfall relevanter Lieferungen und damit zu Problemen bei der Indiensthaltung vorhandener Raketen führen. Ob es Moskau gelingt, neue schwere Interkontinentalraketen mit Flüssigtreibstoff auf Basis allein der heimischen Industrie zu bauen, bleibt abzuwarten.

Russland verfügt wie die USA auch über nicht-strategische Nuklearwaffen. Dazu gehören Sprengköpfe für die Luft- und Raketenabwehr, für den Seekrieg, atomare Bomben für die Luftwaffe und möglicherweise auch noch Waffen für die Raketen der Landstreitkräfte, obwohl Moskau sich bereits 1991 zu deren Denuklearisierung verpflichtet hat. Die Trägersysteme wurden und werden teilweise modernisiert (Su-34- Jagdbomber, Iskander-M-Kurzstreckenraketensystem, bodengestützte Marschflugkörper vom Typ R-500), ob dafür aber auch neue Nuklearsprengköpfe entwickelt oder produziert wurden, ist unbekannt. Vielleicht können im Ernstfall auch vorhandene alte genutzt werden.

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Otfried Nassauer (1956-2020) war freier Journalist und leitete das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de)